Charles Finch: Im Sog des Wahnsinns

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Charles Finch: Im Sog des Wahnsinns
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Charles Finch:

Im Sog des Wahnsinns

Kriminalroman

Thomas Riedel

Bibliografische Information durch

die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.de abrufbar

1. Auflage

Covergestaltung:

© 2017 Thomas Riedel

Coverfoto:

© 2017 @ ysbrand, Depositphotos, ID 54034971

Impressum Copyright: © 2017 Thomas Riedel Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de ISBN siehe letzte Seite des Buchblocks

»Man sollte alles lesen.

Mehr als die Hälfte unserer heutigen Bildung

verdanken wir dem,

was wir nicht lesen sollten.«

Oscar Wilde (1854-1900)

»Wer auf Rache sinnt,

der reißt seine eigenen Wunden auf.

Sie würden heilen,

wenn er es nicht täte.«

Sir Francis Bacon

(1561-1626)

Kapitel 1

Der kleine grauhaarige Mann bahnte sich mühsam den Weg durch das Gestrüpp und trat auf die Lichtung hinaus. Er blieb stehen, sah sich aufmerksam um und lächelte süßsauer. Zum zweiten Mal sah er sich nun im Verlauf der letzten dreieinhalb Stunden an derselben Stelle, und er musste sich eingestehen, sich hoffnungslos verirrt zu haben – alle bewussten Mittel seiner Orientierung hatten versagt. Er hatte die Kontrolle verloren. Ein Gefühl des Verlorenseins und der Verunsicherung war in ihm aufgekommen.

Niedergeschlagen setzte er sich auf einen flachen Stein, bevor er seinen Fischkorb und den Rucksack in eine bequemere Lage rückte. Die Angelrute, die er, zerlegt in ihrem Futteral, mit sich führte, legte er neben sich auf das Gras. Dann bückte er sich, trank etwas Wasser aus der Quelle zu seinen Füßen und erfrischte sich anschließend damit das Gesicht. Das mehrstündige Stapfen durch das Dickicht und den unwegsamen Tannenwald hatte ihn reichlich erschöpft. Er holte sein Taschentuch hervor und wischte sich das Gesicht ab. Als er das Tuch wieder zurücksteckte, blickte er auf, und sah auf dem Felsen über sich einen jungen Mann stehen, der lässig ein Jagdgewehr in der Armbeuge hielt.

Sekundenlang saß der grauhaarige Mann regungslos da. Der Bursche auf dem Felsen hatte ihn ordentlich erschreckt, aber er ließ es sich nicht anmerken. Nachdem er sich von seiner ersten Überraschung erholt hatte, fühlte er sich sogar ein wenig erleichtert.

»Guten Tag und Waidmannsheil!«, rief er hinauf und hob die rechte Hand zum Gruß.

Der Mann mit dem Jagdgewehr war groß und schlank gewachsen – er zeigte aristokratische Züge und hatte kurzgeschorenes rötliches Haar. Sogar auf die Entfernung von zwanzig Yards fielen seine misstrauisch dreinblickenden blauen Augen auf. Er trug graue Flanellbeinkleider und einen gut geschnittenen Jagdrock, und hätte er die bedrohliche Langwaffe nicht im Arm gehabt, wäre er eine durchaus vornehme Erscheinung gewesen.

»Ich scheine mich ordentlich verirrt zu haben«, erklärte der kleine Grauhaarige jetzt heiter.

»Wer sind Sie?«, fragte der Mann auf dem Felsen mit gepresster, leicht heiserer Stimme.

»Mein Name ist Finch«, erklärte der Grauhaarige. »Offenbar habe ich alles vergessen, was man mir früher als Pfadfinder beigebracht hat, denn ich bin stundenlang im Kreis herumgelaufen.«

»Ich weiß«, gab der Mann auf dem Felsen lakonisch zurück. »Ich beobachtete Sie bereits seit geraumer Zeit.«

»Was?«, reagierte Finch erstaunt.

»Ich wollte dahinter kommen, ob Sie sich wirklich verirrt hatten, oder ob Sie nur …«

»Mein lieber Freund, soll das heißen …«

»Es schien mir, als hätten Sie sich wirklich verirrt«, fuhr der Mann auf dem Felsen fort. »Ich gab mich allerdings der stillen Hoffnung hin, Sie würden sich endlich aus diesem Teil des Waldes entfernen. Stattdessen zogen Sie immer engere Kreise. Letztlich war mir klar, dass Sie das Haus entdecken mussten, wenn Sie das nächste Mal diese Lichtung verließen.«

»Ist denn hier in der Nähe ein Haus?«

»Gerade hinter diesem kleinen Hügel.« Der junge Mann zeigte in die halbrechte Richtung.

»Und Sie ließen mich umherirren?«

»Ja.«

Finch schüttelte missbilligend den Kopf.

»Wäre ich nicht so müde, so wäre ich neugieriger. Übrigens, … möchten Sie mit ihrem Gewehr nicht in eine andere Richtung zielen? Vielleicht ist es ja nicht geladen, aber trotzdem wäre es mir …«

»Es ist geladen.«

»Darf ich Sie dann bitten?«

»Bedaure, Mr. Finch.«

»Doktor Finch. Doktor Charles Finch.«

»Mein Name ist Ryan Greenwood«, sagte der Mann auf dem Felsen. »Sie kommen jetzt mit mir zum Haus, Doktor Finch.«

Finch zuckte mit keiner Wimper, während seine grauen Augen an Greenwood hafteten.

»Ist das eine Einladung oder ein Befehl?«, fragte er ruhig.

»Bedauerlicherweise ist es ein Befehl«, erwiderte Greenwood ungerührt. »Ich hoffte ehrlich, Sie würden einen Weg aus dem Wald finden. In gut einer Stunde wird im Haus Licht gemacht werden, und dann hätten Sie uns entdeckt.«

»Uns?«, wiederholte Finch.

»Meine Gäste und mich.«

»Gäste? Sind die auch auf Ihren Befehl hier, Mr. Greenwood?«

»Ja«

»Ich verstehe.« Finch ließ seine Augen von Greenwood zum Jagdgewehr wandern. »Werden Sie dieses Ding wirklich benutzen, wenn ich mich weigere?«

»Ja.«

»Das habe ich mir gedacht«, erwiderte Finch. »Sie müssen große Angst haben und stehen unter Druck, Mr. Greenwood.«

»Angst, wieso?«

»Nun, … ein kräftiger junger Mann, wie Sie einer sind, braucht kaum ein derartiges Drohmittel, wenn er es mit einem alten Kauz wie mir zu tun hat. Wie könnte ich Ihnen überhaupt schaden?«

»Indem Sie etwas sehen, das nicht für Ihre Augen bestimmt ist«, erklärte Greenwood, »und es nach Ihrer Rückkehr in die Stadt erzählen. Sie werden verstehen, dass ich es darauf nicht ankommen lassen konnte.« Er machte eine auffordernde Bewegung mit dem Gewehr. »Gehen wir!«

»Wie Sie meinen, Mr. Greenwood«, fügte sich Finch. »Dann zeigen Sie mir mal den Weg.«

»Dort … hinter der Tanne ist ein Pfad«, erklärte Greenwood. »Ich werde Ihnen folgen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Finch ergriff seine Angelrute und erhob sich. Es fiel ihm schwer, sich zu bewegen, da sich seine müden Muskeln in der kurzen Ruhepause versteift hatten. Während er den Hang hinaufstieg, blieben seine Augen ununterbrochen auf Greenwood und sein Gewehr gerichtet – sie verrieten keine Angst, nur große Neugier.

Greenwood wies ihm mit einer Hand den Weg. Knapp zwanzig Yards hinter der hohen Tanne befand sich Finch auf offenem Gelände. Leicht verdutzt blieb er stehen. Er sah einen See vor sich, der gut und gern drei Quadratmeilen groß sein mochte. Und dort war ein Haus, ein geräumiges Steingebäude mit breiter Veranda, die sich auf zwei Seiten in der ganzen Länge hinzog. Beim Abfluss des Sees befand sich ein Damm, auf dem ein kleines steinernes Häuschen stand, in dem Finch für einen Generator vermutete, weil es durch Leitungsdrähte mit dem Wohnhaus verbunden war. Hinter dem Wohnhaus gewahrte er eine offene Remise, in der zwei Kutschen standen. Von den dazugehörigen Pferden war nichts zu sehen. Er schüttelte leicht den Kopf. Den ganzen Nachmittag war er kaum hundert Yards von diesem Ort entfernt gewesen, aber nie hatte er die Richtung eingeschlagen, die ihn hierher geführt hätte.

»Bitte weiter!«, befahl Greenwood hinter ihm. »Gehen Sie die Treppe zur Veranda hinauf, und öffnen Sie die Haustür.«

Auf der Freitreppe blieb Finch abermals kurz stehen. Zu beiden Seiten der Haustür gab es große Fenster mit Blick auf den See. An jedem Fenster bemerkte er Gesichter, die ihn fragend anstarrten. Als sie merkten, dass er sie gesehen hatte, zogen sie sich zurück. Es waren angsterfüllte, angespannte Gesichter gewesen.

***

Kapitel 2

Die Haustür erwies sich als unverschlossen, als Finch die Klinke herunterdrückte. Demnach hatte er sich geirrt, denn er war der Auffassung gewesen, an den Fenstern Gesichter von Gefangenen zu sehen. Aber als er sich gleich darauf im großen getäfelten Salon umblickte, spürte er sofort die Spannung, die elektrisierend in der Luft lag.

Im Zimmer befanden sich acht Menschen, vier Damen und vier Herren. Ihre Haltung hatte für ihn etwas Lächerliches an sich, etwas Gestelztes, gerade so, als ob sie noch unmittelbar zuvor einen Kriegsrat abgehalten und beim seinem Anblick schnell eine unnatürliche Stellung angenommen hätten, die ganz harmlos auf ihn wirken sollte.

Der eine, ein dunkler, sportlich aussehender Mann lehnte am Sims des mächtigen Kamins und stopfte mit behänden Fingern seine Pfeife. Ein anderer, der eine große schwarze Hornbrille trug, machte sich an einer fahrbaren Bar mit einer Flasche zu schaffen. Der dritte war hochgewachsen und recht schlaksig – er hatte seinen Arm schützend um ein jüngeres Mädchen gelegt. Der vierte, der eine Jockeyfigur hatte, saß mit hochgezogenen Beinen in seinem Sessel – ein bösartiges Lächeln enthüllte seine schiefen, tabakfleckigen Zähne. Die eine Dame kehrte der Szene den Rücken – eine andere schien in einem Sessel gegenüber dem Jockeymann zu schlafen.

Die beherrschende Gestalt im Salon war jedoch die vierte Frau, die ein paar Schritte auf ihn zugemacht hatte und nun abwartend vor ihm stand. Ihr rötlichgoldenes Haar war klassisch hochgesteckt. Sie trug ein schlichtes, aber durchaus teures, graues Kleid. Ihre Augen waren die tiefsten veilchenfarbenen, die er jemals gesehen hatte. Trotz ihres strengen, lehrerinnenhaften Kleides wirkte sie bestrickend weiblich. Sie stand mit leicht gespreizten Beinen vor ihm, als ob sie den Weg versperren und die anderen beschützen wollte.

 

Sie alle machten auf ihn den Eindruck von Schauspielern, die in einem Stück auf den Auftritt eines anderen Darstellers warteten, dessen Stichwort gerade gefallen war. Finch kam es vor, als wäre er mitten auf die Bühne gestoßen worden, ohne eine Ahnung vom Text zu haben.

»Das ist Mr. Finch, Dr. Finch«, sagte Greenwood von der Tür her. »Die Lady vor Ihnen, Mr. Finch, ist meine Frau Kathlyn, der Doktor hat sich stundenlang im Wald verirrt. Wahrscheinlich hat er Hunger und Durst. Willst du dich bitte um ihn kümmern?«

»Ryan, das kannst du nicht tun!« Ihre Stimme war leise und belegt. »Dieser Mann ist ja ein Fremder, ein Außenstehender, der mit allem nichts zu tun hat.«

»Was du nicht sagst. Ist das so?«, reagierte ihr Mann schnippisch. »Aber vielleicht kennt ihn ja einer von euch?«

Niemand antwortete.

»Das ist doch Wahnsinn, Ryan«, stellte sie fest. »Wir hätten irgendwie damit fertig werden können. Aber wenn du jetzt auch noch einen Fremden hineinziehst …«

»Es ist aber geschehen«, unterbrach er sie scharf. »Kümmere dich um den Doktor, Kathlyn, und erkläre ihm die Lage, damit er keinen Fehler begeht.«

»Ryan!«

»Bis später«, bemerkte Greenwood noch und im nächsten Augenblick hörte Finch die Tür hinter ihm zufallen.

Ein allgemeiner Seufzer der Erleichterung ging durch den Salon. Der dunkle, sportliche Mann stellte sich neben Mrs. Greenwood. Er hatte seine Pfeife zurück in die Tasche seines braunen Anzuges gesteckt.

»Sie sind in eine höllische Lage geraten, Dr. Finch«, sagte er. »Mein Name ist Howard Lancaster. Ich bin politischer Korrespondent der ›London Times‹. Vielleicht kennen Sie meine Artikel.«

»Leider nicht, Mr. Lancaster«, erwiderte Finch.

»Sind Sie aus Aylesbury, Doktor?«

»Nein.«

»Wie sind Sie denn hierher gekommen?«, erkundigte sich Howard Lancaster.

»Weil ich ein Trottel bin«, antwortete Finch mit einem flüchtigen Lächeln. »Ich habe seit zwanzig Jahren nicht mehr gefischt, Mr. Lancaster. Ich sehnte mich nach etwas Freiluftsport. Aber anstatt von der Brücke in der Nähe meines bequemen Hauses oder einem Bach in der Gegend zu angeln, unternahm ich einen großen Ausflug. Ich wollte wie einst als Kind zelten und zog in die Wälder. Ich hatte dazu eine dieser wunderbaren modernen Zeltausrüstungen mitgenommen. Nachdem ich eine Stunde geangelt hatte, konnte ich mein Zelt nicht mehr finden. Nach dreieinhalbstündigem Umherirren stand mir ein fremder Mann mit einem Jagdgewehr gegenüber. Das ist die ganze Geschichte meiner Dummheit, Mr. Lancaster.«

Der große, schlaksige Mann ließ seine Gefährtin los und trat vor.

»Die wesentliche Frage ist, wer wird Sie suchen, Doktor?«

»Mich suchen?«

»Wer wird sich um Sie sorgen, wenn Sie mehrere Tage nicht heimkommen?«

»Ja, das ist wichtig«, fiel Howard Lancaster ein. »Das ist übrigens Brian Chandler, Dr. Finch.«

»Wer wird Sie suchen?«, wiederholte Chandler eindringlich.

»Leider kein Mensch, Mr. Chandler. Jedenfalls vorerst nicht, denn niemand wird mich vermissen. Ich bin nämlich Psychiater, und wenn ich mir Urlaub nehme, verrate ich keiner Seele meinen Aufenthaltsort … andernfalls hätte ich nie Ruhe vor meinen Patienten. Da man mich erst in vierzehn Tagen zurückerwartet, hat man also keinen Grund, vorher nach mir zu suchen.«

»Dann ist es zu spät«, stöhnte Chandler resignierend.

Die Frau, die bislang allen den Rücken gekehrt hatte, fuhr plötzlich herum. Sie war dunkelhaarig und von unterdrückter Lebhaftigkeit. Ihr hochroter Mund wirkte herausfordernd.

»Ihr könnt doch alle nur reden, reden, reden!«, rief sie. »Habt ihr denn keinen Funken Mumm in den Knochen? Was für Männer seid ihr eigentlich? … Wir sollen alle umgebracht werden, und ihr redet nur! Ihr solltet lieber endlich etwas unternehmen!«

Der Jockeymann richtete sein boshaftes Lächeln auf sie.

»Warum unternimmst du denn dann nichts, liebe Victoria? Dein Geständnis würde uns alle befreien.«

Der Mann mit der Hornbrille wandte sich von der fahrbaren Bar ab.

»Halt den Mund, Nicolas! Ich habe bald genug von dir.«

»Deine Geduld ist wahrlich bewundernswert«, entgegnete Nicolas trocken. »Ich hatte dich schon vor zwanzig Jahren satt, Robert.«

»Ich fände es einen guten Gedanken«, fiel Finch ein, »wenn mir jemand erzählen würde, was hier eigentlich los ist.«

Kathlyn Greenwood, die sich bislang still verhalten hatte, schien sich plötzlich der unmittelbaren Lage zu erinnern.

»Entschuldigen Sie, Doktor Finch, Ryan hat sicher recht. Sie müssen müde und hungrig sein.«

»Gewiss, ich bin ein wenig erschöpft«, bekannte Finch, »aber offen gestanden: meine Neugier ist sehr viel größer als mein Appetit.«

»Unsere Gastfreundschaft muss auf Sie etwas befremdlich wirken, Dr. Finch«, gestand Kathlyn, »aber immerhin können wir Ihren Hunger und Durst stillen. Wenn Sie mit mir kommen wollen …«

»Wie wäre es mit einem Gläschen zur Begrüßung?«, erkundigte sich Howard Lancaster.

Finch ließ seinen Blick zur gut sortierten Bar wandern.

»Wenn ich einen Whisky bekommen könnte …«

»Bringe den Whisky in die Küche, Howard«, ordnete Kathlyn an. »Folgen Sie mir bitte, Dr. Finch.«

Die Küche entpuppte sich als fast so groß wie das Wohnzimmer und war so vorzüglich eingerichtet, dass sie ohne weiteres einem Hotel hätte dienen können.

»Setzen Sie sich, Doktor.« Kathlyn wies auf einen runden, seidenblanken Teakholztisch, um den viele Stühle standen. »Ich kann Ihnen Kaffee oder Tee anbieten. Es ist auch kalter Truthahn da. Oder soll ich Ihnen ein Steak braten? Sie sehen, wir haben hier alles.« Ihr Gesicht bewölkte sich ein wenig. »Alles außer einem Ausweg.«

»Wenn ich um Kaffee und etwas Truthahn bitten darf, Mrs. Greenwood.«

Anscheinend wollten alle dabei sein außer dem jungen Mädchen, das beim Kamin saß. Auf dem Weg zur Küche hatte Finch gesehen, dass sie tatsächlich schlief. Howard Lancaster brachte ihm ein Glas und eine Flasche Whisky, und nach ihm kamen der Mann mit der Hornbrille und die dunkle Dame.

»Ich bin Robert Drummond«, stellte sich der Mann mit der Hornbrille vor, »und das ist meine Frau Victoria. Ich bin Anwalt und der Sozius von Ryan Greenwood.«

Finch zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Unser Gastgeber ist Jurist?«

»Ja.« Drummond setzte seine Hornbrille ab und begann sie mit einem weißen Taschentuch zu putzen. »Wir sind, soviel kann ich voller Stolz sagen, die beste Anwaltsfirma in Aylesbury.«

»Wenn Sie alles so dramatisch behandeln«, bemerkte Finch spöttisch, »sollte man Ihre Kanzlei auch über die Grenzen von Aylesbury kennen.«

»Sie sagten, Sie wären Psychiater«, fiel Mrs. Drummond ein, ehe ihr Mann etwas erwidern konnte. »Ist Ihnen klar, dass Ryan geisteskrank ist?«

»Unter Geisteskrankheiten oder Geistesstörungen werden unterschiedliche Verhaltensbilder und Krankheiten zusammengefasst, die sich durch Verhaltensformen ausdrücken, die von der Gesellschaft nicht akzeptiert werden. Der Ausdruck selbst, besagt zunächst einmal gar nichts, Madam«, erwiderte Finch ernst. »Darf ich Sie höflichst daran erinnern, dass ich noch gar nichts weiß?«

In diesem Augenblick erschien Brian Chandler mit dem jungen Mädchen, um das er sich so schützend bemüht hatte. Sie war blond und trug eine Brille. Sie war ziemlich nachlässig mit einem blauen Kleid, einer weißen Bluse und einer kurzen Jacke bekleidet. Sie gehörte zu den Frauen, bei deren Anblick Finch augenblicklich dachte, dass sie in richtiger Aufmachung und ohne Brille bezaubernd aussehen könnte.

»Das ist Miss Burdett, Nora Burdett«, stellte Chandler sie vor. »Sie ist Ryans Privatsekretärin.«

»Und ich bin Nicolas Brown«, sagte der Jockeymann, der die Nachhut bildete. Wenn er aufrecht stand, war er nur knapp fünfeinhalb Fuß groß. Im Gegensatz zu den anderen Herren, trug er einen schlecht sitzenden grauen Anzug, billige schwarze Halbschuhe und eine Fliege, deren Farbe in den Augen wehtat. In der Hand hielt er eine Zigarette mit einer langen schwarzen Spitze.

Kathlyn brachte eine Tasse Kaffee, einen Teller mit kaltem Fleisch, Tomatenscheiben und Käsewürfeln sowie Butter und einige Scheiben Weißbrot. Finch schenkte sich Whisky ein, trank davon und lehnte sich mit einem zufriedenen Seufzer zurück.

»Wenn ich jetzt freundlicherweise hören dürfte, was hier los ist …?«

Lancaster, Drummond und Mrs. Greenwood begannen alle gleichzeitig.

»Bitte nur einer!«, wehrte Finch ab.

Mrs. Greenwood verständigte sich durch einen kurzen Blick mit Lancaster.

»Mein Mann will sich bei der nächsten Wahl als Kandidat für das ›House of Lords‹ aufstellen lassen.«

»Wollte, meine Liebe«, verbesserte Brown direkt. »Er wollte!«

»Sei still, Nicolas«, verwies ihn Lancaster.

»Mein Freund mit dem Jagdgewehr?«, fragte Finch ungläubig.

»Ryans Vater war der ehrenwerte Richter Sir Terence Greenwood«, erklärte Howard Lancaster, »vielleicht der beste Jurist, den es im Commonwealth jemals gegeben hat. Ryan sollte sich bei der Neuwahl für das Parlament aufstellen lassen.«

»Er hat die Nominierung durch die Partei aber noch nicht angenommen«, führte Mrs. Greenwood aus.

»Deshalb kamen wir hierher«, ergänzte Robert Drummond.

»Bitte immer nur einer!«, seufzte Finch.

»Am besten erzählst du alles, Kathlyn«, forderte Lancaster kategorisch.

Sie holte tief Atem.

»Gern. Mein Mann ist ein Kandidat der ›Whigs‹, der ›Liberal Party‹, die ihm die Ernennung angeboten hat. Er erbat sich zehn Tage Bedenkzeit, die ihm auch zugebilligt wurde. Dann fasste er den Plan, uns alle hier zu versammeln. Sie müssen wissen, Dr. Finch, wir sind alle zusammen aufgewachsen – wir lebten immer in Aylesbury –, gingen zusammen zur Schule und ins College. Ich heiratete Ryan. Die anderen hier sind unsere engsten Freunde.«

»Was für ein Privileg!«, murmelte Nicolas abfällig.

»Sei still«, tadelte Lancaster.

Mrs. Greenwood beachtete den Einwurf nicht.

»Mein Mann wünschte, dass wir alle für eine Woche hierher kämen, … um die Möglichkeiten seiner Kandidatur zu besprechen, wie er sagte. Er wollte das Für und Wider mit seinen besten Freunden erörtern. Das klang vernünftig. Ryan schließt seine Kanzlei im Sommer immer für zwei Wochen. Dadurch waren Robert, Victoria und Nora ebenfalls frei. Brian hat in Aylesbury ein eigenes Geschäft, eine mechanische Werkstatt. Howard erhielt Urlaub von seiner Zeitung, weil Ryans Entschluss Stoff für einen Artikel abgegeben hätte. Rhona hat Zeit in Hülle und Fülle.«

»Rhona?«, wiederholte Finch.

»Rhona McDermid«, erklärte Mrs. Greenwood. »Sie sahen sie vorhin im Salon.«

»Wo sie ihren Rausch ausschläft«, ergänzte Brown spöttisch. »Was mich anbelangt, so finde ich immer Zeit, wenn man mir zu essen und zu trinken gibt.«

»Wir kamen vor drei Tagen hierher«, fuhr Mrs. Greenwood fort. »Wir alle lieben dieses Haus, das Ryans Vater gebaut hat. Wir waren schon als Kinder immer hier. Es hat inzwischen eine eigene Stromversorgung bekommen und ist mit allem modernen Komfort ausgestattet ...«

»Außer einem dieser neumodischen Fernsprechapparate«, warf Mrs. Drummond schneidend ein.

»Es sollte weiterhin ein ungestörter Platz bleiben«, erklärte Mrs. Greenwood. »Außerdem hätte man meilenweit Telefonmasten aufstellen müssen.«

»Sie kamen also alle hierher, um über die politische Laufbahn Ihres Herrn Gemahls zu sprechen«, fasste Finch kurz zusammen.

»Ja. Am ersten Abend waren wir sehr fröhlich … Ryan ganz besonders. Manchmal ist er schlechtgelaunt und in sich gekehrt, aber am Samstag war er bis zum Abendessen in seiner besten Stimmung.« Sie holte tief Atem. »Nach dem Essen geschah es dann.«

»Ich sollte vielleicht erwähnen«, unterbrach Lancaster, »dass Ryan hier draußen eine kleine Waffensammlung hat. Vor dem Essen ging ich durch die Waffenkammer zur Küche, um mir einen Tee zu holen. Dabei fiel mir auf, dass alle Waffen verschwunden waren. Ich fragte ihn deswegen, und er sagte, da jetzt keine Jagdsaison wäre, hätte er die Waffen einem Büchsenmacher zum Instandsetzen und Reinigen geschickt.«

»Nach dem Essen gingen wir alle in den Salon um Tee zu trinken«, erzählte Mrs. Greenwood weiter. »Wir saßen am Kamin. Dann verschwand mein Mann für einen Augenblick, und als er zurückkam, hatte er ein Jagdgewehr bei sich. Howard erkundigte sich danach, und Ryan sagte, es wäre das letzte Geschenk seines Vaters. Er setzte sich auf den großen Tisch hinter dem Sofa, nahm das Gewehr auf den Schoß und meinte, er wolle eine Rede halten. Wir dachten natürlich, er würde über Politik sprechen.«

 

»Er drohte ja auch nicht mit dem Gewehr«, bemerkte Lancaster. »Er hatte es einfach bei sich, als ob er uns die Waffe zeigen wollte.«

»Dann hielt er seine Rede«, übernahm Mrs. Greenwood wieder. »Er zeigte plötzlich einen in sich gekehrten Ausdruck, und ich merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Er habe einen besonderen Grund gehabt, uns für diese Zeitspanne hierher einzuladen, sagte er, und es sei sinnlos, die Erklärung weiter aufzuschieben. Wir dachten immer noch, es handle sich um seine Kandidatur für das ›House of Lords‹, und ermunterten ihn, weiterzusprechen. ›Seit sechs Jahren hat sich dieser Augenblick zusammengebraut‹, begann er dunkel. ›Vor sechs Jahren, nach dem Tod meines Vaters, wurde mir unter der Hand ein Richteramt am Old Bailey angeboten. Ich wünschte es mir, bei Gott, wie habe ich es mir gewünscht. Für meine Laufbahn als Jurist hätte es ein großes Prestige bedeutet, und ich fühlte mich auch dazu berufen. Ich bat um ein paar Tage Bedenkzeit, weil ich die Sache mit Kathlyn besprechen wollte. Meine Frau bestärkte mich darin, dass Angebot anzunehmen. Aber am nächsten Tag erhielt ich einen Brief.‹« Sie zögerte und sah Doktor Finch an. »Ich versuche, seine Worte so genau wie möglich wiederzugeben, aber natürlich kann ich seinen Ton nicht nachahmen … Ich meine die schreckliche Bitterkeit, die in seiner Stimme war. Etwas, das ich noch nie zuvor gehört hatte.«

»Ich verstehe«, gab Finch zurück. Er hatte das Essen, das vor ihm stand, noch nicht berührt und stattdessen aufmerksam zugehört. Jetzt aber hob er sein Glas an die Lippen und nippte wieder an seinem Whisky.

»Er sagte also: ›Am nächsten Tag erhielt ich einen Brief. Den Inhalt kann ich auswendig.‹ Der Brief lautete ungefähr folgendermaßen: ›Mein armer Ryan, es wird Zeit für Dich, die Schuld zu bezahlen. Man hat Dir das Richteramt angeboten. Das wäre eine große Ehre für Dich. Aber auf Ehrenbezeugungen musst Du verzichten. Jetzt und immerdar. Ich rate Dir, das Angebot abzulehnen, wenn Du nicht willst, dass ich unser Geheimnis der Welt im allgemeinen und der Anwaltschaft der britischen Krone im besonderen verrate.‹« Sie schaute Lancaster an. »So ähnlich war es doch, nicht wahr?«

»Ja, ungefähr so«, stimmte Lancaster ihr zu. »Du hast es zunächst gar nicht begriffen. Ich habe noch deinen befremdlichen Blick vor Augen. Du hast ihn gefragt, wer ihm diesen Brief geschrieben hätte, und was eigentlich damit gemeint wäre. Und er …«

»Er sagte zu mir: ›Weißt du es nicht, mein Herz?‹ Natürlich wusste ich es nicht. Er hatte mir von dem Brief nie erzählt. Wir fanden den Wortlaut sinnlos, aber mein Gatte sagte: ›Dieser Brief war nur der Anfang.‹ Er hätte dann noch mehr Briefe erhalten, mit einer dieser neuen Schreibmaschinen geschrieben und einem Poststempel aus Aylesbury. Er sagte: ›Was ich auch werden wollte … Anwalt der Krone, Syndikus der Universität und jetzt Kandidat für das Oberhaus …, jedes Mal meldete sich der Briefeschreiber. Jedes Mal riet er mir, das Amt abzulehnen.‹ Seine Stimme klang immer verzweifelter, Dr. Finch. Dann fügte er hinzu, dass das noch nicht alles wäre, sondern der Erpresser hätte ihn auf jede mögliche Weise gequält. Wenn er an einem bestimmten Tag verreisen wollte, hätte er den Befehl erhalten, seine Pläne zu ändern. Wenn er mit dem Zug fahren wollte, musste er eine Kutsche nehmen. Er meinte, irgendjemand säße im Hintergrund und ließe ihn wie eine Marionette tanzen. Er sagte, er könnte es nicht länger aushalten.«

»Ich fragte ihn, ob man Geld von ihm gefordert hätte«, warf Lancaster ein. »Er verneinte das.«

»Und ich wollte von ihm wissen, ob der Briefschreiber irgendwelche Drohungen geäußert hätte«, fügte Drummond hinzu. »Sie müssen wissen, Dr. Finch, Ryan hat den besten Leumund.«

Finch stellte sein Glas mit leisem Klirren auf den Tisch zurück.

»Trotzdem konnte er erpresst werden?«

»Ich meine, es ist nichts Ehrenrühriges über ihn bekannt«, erklärte Drummond. »Ich kenne ihn als ausgezeichneten Rechtsanwalt … Er gilt als Zierde seines Berufs, und über sein Privatleben ist nicht einmal im Flüsterton geklatscht worden.«

»Das stimmt, Doktor«, ereiferte sich Mrs. Greenwood. »Ich fragte, wodurch ihn der Erpresser in der Gewalt haben könnte.« Sie deutete auf die Anwesenden. »Wir alle fragten ihn. Er sah uns alle reihum mit kaltem Blick an und meinte darauf: ›Wisst ihr es nicht?‹«

»Wir wussten es nicht! Und wir wissen es auch jetzt nicht!«, platzte Mrs. Drummond heraus.

»Dann erfuhren wir, warum er uns das alles mitgeteilt hatte«, bemerkte Lancaster.

»Es fiel mir auf, dass er das Gewehr in Anschlag brachte«, erzählte Mrs. Greenwood weiter. »Er sagte: ›Jetzt werde ich der Sache ein Ende machen. Ich habe keinen Lebensinhalt mehr, solange das weitergeht. Ich gestehe es offen: ich dachte schon an Selbstmord. Aber dann beschloss ich, meinen briefeschreibenden Freund mitzunehmen, wenn ich schon sterben muss. Und darum sind wir hier!‹«

»Er hält einen von uns für den Briefeschreiber«, ergänzte Lancaster. »Als ich ihn fragte, wie er auf diesen Gedanken käme, erklärte er uns, wir wären die einzigen Menschen, die all das wissen könnten, was der Schreiber der Briefe wusste.«

»Aber wir wissen es nicht! Keiner von uns!«, beteuerte Mrs. Drummond.

»Dann klärte er uns auf«, fuhr Lancaster fort. »Einer von uns wäre sein Feind, sagte er, sein Todfeind … er warnte uns, es wäre kein Spiel, sondern tödlicher Ernst. Richtig bedrohlich wurde es, als er uns darauf hinwies, er habe die beiden Kutschen gebrauchsunfähig gemacht, die Pferde fortgejagt und sein Jagdgewehr wäre geladen. Dann drohte er uns, er würde jeden einfach niederschießen, wenn einer von uns versuchen sollte, es ihm wegnehmen zu wollen. Auf Hilfe von Außerhalb bräuchten wir gar nicht erst zu hoffen, niemand würde uns die Woche vermissen und nachfragen. Dann sagte er uns klipp und klar, wir wären seine Gefangenen. Wenn einer von uns Hilfe holte, würde er alle übrigen töten. Wir hätten nur die Möglichkeit, unversehrt davonzukommen, wenn wir ihm den Erpresser auslieferten. Wir hätten volle Bewegungsfreiheit, solange wir in der Nähe des Hauses blieben. Aber wenn sich einer wegrührte … na ja, das wär’s.«

»Und Sie glauben auch jetzt noch, dass er einen Massenmord verüben würde, wenn Sie ihm nicht gehorchten?«, fragte Finch, während er langsam seine Hand nach dem Glas ausstreckte.

»Ja«, antwortete Mrs. Greenwood.

Nicolas Brown bedachte Finch mit einem schiefen Lächeln.

»Sie ließen sich ja durch die vorgehaltene Waffe in dieses Haus zwingen, Doktor. Ich muss mich diesbezüglich sehr wundern, wenn Sie, wie es für mich gerade klang, annahmen, er würde das Gewehr nicht benutzen?«

»Oh, ich dachte schon, er würde es benutzen, Mr. Brown«, gab Finch milde zurück. »Ich war davon überzeugt. Darf ich um Salz und Pfeffer bitten? Ich kann dem Truthahn nicht mehr lange widerstehen.«

Die anderen sahen ihm mehr oder minder ungeduldig zu, während er aß.

»Was halten Sie eigentlich von der Sache, Doktor«, konnte sich Mrs. Drummond schließlich nicht zurückhalten.

Finch hob den Kopf und sah sie an.

»Schwer zu sagen, Mrs. Drummond. Ich kenne keinen von Ihnen gut genug, um mir eine Meinung zu bilden. Anscheinend zweifeln Sie nicht daran, dass Mr. Greenwood es tödlich ernst meint. Sie sind ja schon seit zwei Tagen hier und haben inzwischen einiges erlebt.«

»Was hätten wir denn tun sollen?« Mrs. Drummond ließ ihre dunkle Augen aufblitzten.

»Nun, … vermutlich haben Sie versucht, herauszufinden, wer der Erpresser ist«, erwiderte Finch. »Ist Ihnen das geglückt?«

»Das ist ja lächerlich!«, rief Mrs. Drummond. »Ryan gibt sich einem Wahn hin. Niemand hat ihn erpresst! Er hat ja gar nichts Böses getan.«

Danach wollte die Gruppe wissen, wie Ryan ihn hierher gebracht hatte, und Finch schilderte seine Begegnung mit dem Mann auf dem Felsen.