Abrechnung in London

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»Wo kommst du her, Amanda?«, fragte Andrew Dorsey, als seine Frau durch die Tür wankte und sich in einen Sessel fallen ließ. Sie schien seine Worte nicht gehört zu haben, stützte den Kopf in die Hände und schwieg. »Was ist mit dir?« fragte er deshalb weiter und fasste ihr unter das Kinn, sodass sie ihn ansehen musste.



»Mein Gott, Andrew!«, brachte sie erschrocken heraus und blieb ihm eine Antwort schuldig. »Wie siehst du denn aus?«



»Wieso, … ach, ja, … es ist nicht schlimm … Ich habe mich nur gestoßen«, erwiderte er stammelnd und versuchte zu lächeln. Dabei griff er mit der Hand an das Pflaster, das er auf der Stirn trug. Dann murmelte er etwas Unverständliches.



Unerwartet begann seine Frau laut zu schluchzen.



Verwirrt sah er sie an, denn er wusste nicht, was er davon halten sollte. »Ach, komm schon … So schlimm ist es nun auch wieder nicht«, versuchte er sie zu beruhigen, in der Annahme, es sei wegen seines Aussehens.



»Andrew …« Sie stockte und schluchzte wieder. Dann brach es aus ihr heraus. »Olivia ist tot!«, schrie sie, und er wurde sich seines Irrtums bewusst.



»Woher weißt du das?«, fragte er erschrocken und sah sie scharf an. »Woher weißt du das?« wiederholte er lauernd, da sie nicht sofort antwortete.



Die Frau stellte plötzlich ihr Weinen ein. Seine Frage hatte in ihr eine furchtbare Ahnung aufkommen lassen.



»Sag mal, warum bist du nicht im Club?«, wollte sie wissen. »Du hattest mir doch gesagt, dass du in den Club wolltest.« Sie sah ihn eindringlich an, und als er schwieg, setzte sie drohend hinzu: »Gib es zu: Du warst bei Olivia!«



»Ich habe noch im Labor gearbeitet! Ich verstehe deine dumme Eifersucht nicht, mit der du mich ständig verfolgst!«, entgegnete er rau und wandte sich ab. Doch dann sauste er wie ein Kreisel herum: »Du glaubst doch nicht etwa, dass ich ...«, begann er entsetzt.



»Was? …« Sie ließ offen, was sie meinte, wusste aber, dass er sie auch so verstanden hatte.



»Aber das ist doch völlig absurd!« schrie er und stampfte im Rhythmus einer Lokomotive im Zimmer auf und ab. Ruckartig blieb er am Fenster stehen, schob die Gardine zur Seite und spähte hinaus. Er hörte einen ständig lauter werdenden Motorenlärm. »Was ist das denn? Polizei! Sie biegen hier ein. Hast du sie gerufen?«, fragte er hastig und wandte sich wieder zu seiner Frau um.



»Nein!«



»Die kommen doch nicht einfach so!«



»Vermutlich hat Mr. Bradley die Polizei verständigt«, ergänzte sie.



»Mr. Bradley?« Irritiert sah er sie an. »Wer soll das sein?«



»Das ist der Detektiv … unten!«



»Detektiv …? Dieser verdammte Kerl ist ein privater Schnüffler?«, fragte er mit geschürzten Lippen. »Na warte, dem Kerl werde ich jetzt aber einen Denkzettel verpassen! Wer hat denn überhaupt gerufen?«



Seine Frau zuckte mit den Achseln. »Die braucht man nicht zu rufen, die kommen von allein«, meinte sie resignierend.



»Was für ein Quatsch. Die kommen nicht einfach so!«, rief er noch und stürmte die Treppe hinunter.
















3





Durch den Lärm der anrückenden Yard-Beamten in ihren schwarzen Fords, die sie liebevoll ›

Tin Lizzies

‹ nannten, wurde Bradley aus seinen Gedanken gerissen. Er erhob sich und trat ans Fenster heran. Schon kurz darauf vernahm er Schritte auf dem Flur, die sich näherten.



Keine zehn Sekunden später flog die Tür mit einem kräftigen Ruck auf. Hatte er sich zunächst langsam umgedreht, wirbelte er das letzte Stück förmlich herum. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen, denn im Türrahmen stand der riesige Bursche, mit dem er erst vor wenigen Minuten eine handfeste Auseinandersetzung hatte.



Im ersten Augenblick wusste er nicht was er davon halten sollte. Aber es stand außer Zweifel, dass es sich um den Mann handelte, den er, wenn auch nur ganz kurz, bei Licht gesehen hatte. Den wuchtigen Körper, mit dem kantigen, fast kahlen Kopf hatte er sich fest einprägt. Und auch das Pflaster an der Stirn war ohne Frage erst kürzlich aufgeklebt worden. Bradley fragte sich, was der Mann hier wollte, warum er wiederauftauchte? Jetzt, da Scotland Yard jede Sekunde eintreffen musste, nachdem er vorher so eilig geflüchtet war. War es denkbar, dass er das Anrücken der Fahrzeuge gar nicht bemerkt hatte?



»Wie kommen Sie dazu hier einzudringen, Mr. Bradley? Und vor allem …?«, setzte er mit grollendem Tenor an, kam aber nicht weiter, denn die Tür ging auf und die Beamten der Mordkommission traten ein. Allen voran Chief Inspector Alexander Primes.



Nur zu gern hätte Bradley gewusst, was der Mann ihn fragen wollte, und noch mehr hätte ihn interessiert, woher der Riese seinen Namen wusste.



»Hallo, Mr. Dorsey! Chief Inspector Primes, Scotland Yard«, stellte sich Primes vor und tippte zum Gruß mit dem Finger leicht an seine Schläfe. Dann wandte er sich an Bradley. »Hallo, Colin! Schön dich mal wieder zu sehen. Du hast dich in letzter Zeit ein wenig rargemacht.«



Bradley blieb fast die Spucke weg, als er so plötzlich erfuhr, wer der Riese war.

Darauf hätte ich eigentlich auch selbst kommen können

, schalt er sich.

Ich frage mich nur, warum sich der Kerl mit mir geschlagen und dann so fluchtartig davongemacht hat? Die Leiche muss er ja gesehen haben. Und vor allem: Was wollte seine Frau in diesem Zimmer?



»Ich bin zutiefst erschüttert über das, was sich in meinem Haus ereignet hat, Chief Inspector«, brummte Dorsey reserviert, ohne dessen Gruß zu erwidern. »Ich kann es einfach nicht fassen.«



»Ich möchte Sie bitten, sich zu unserer Verfügung zu halten«, erklärte Primes ungerührt, »und zwar auf Ihrem Zimmer!« Er sah zu Bradley hinüber, der sofort verstand und mit einem Seitenblick auf die Couch wies, wo er die Tote gefunden hatte.



»Wie kommen Sie dazu, mich in meinem eigenen Haus …«, begehrte Dorsey auf, wurde aber vom Chief Inspector direkt unterbrochen.



»Folgen Sie meiner Anweisung! Ansonsten lasse ich Sie von meinen Männern wegen Behinderung festnehmen!«, knurrte Primes.



Verärgert vor sich hin brummend, verließ Andrew Dorsey den Raum.



Primes, Bradley und der Gerichtsmediziner standen eine Weile schweigend vor der Toten. Dann streifte sich der Arzt Gummihandschuhe über und begann mit einer ersten Untersuchung. Während einige Beamte des Yards die Durchsuchung des Zimmers übernahmen, zog Primes Bradley mit sich an den Tisch, wo sie sich setzten. Der Chief Inspector nahm sich eine Zigarette und hielt Bradley die Schachtel entgegen, der sich dankend eine herausfischte.



»Jetzt weihe mich mal ein, Colin«, sagte er, nachdem er Bradley Feuer gegeben hatte. »Hier scheint allerhand passiert zu sein.«



»Eine ganze Menge«, bestätigte Bradley nickend. Er nahm einen tiefen Zug, inhalierte und blies den Rauch zur Zimmerdecke. »Aber bevor ich dir darüber berichte, habe ich eine Frage: Es kommt mir so vor, als würdest du Dorsey gut kennen?«



»Ich kenne ihn, weil er manchmal ein Gutachten als Psychiater in Gerichtsverfahren abgibt«, erklärte Primes. »Allerdings kann ich nicht gerade behaupten, dass ich ihn mögen würde. In meinen Augen verhält er sich recht selbstgefällig.«



»Das beruhigt mich ein wenig«, grinste Bradley. »Dann hat ihm meine kleine Abreibung ja nicht geschadet.«



»Dann hast du ihm also ...« Primes machte ebenfalls grinsend eine vielsagende Geste zur Stirn und spielte damit auf das Pflaster an, das Dorsey trug. Dann verdrehte er die Augen, als hätte er eine Flasche ›

Galitzenstein

‹ ausgetrunken. »Oh, du Unglückseliger!«, seufzte er und fügte mahnend hinzu: »Da kannst du dich auf etwas gefasst machen! Dorsey und der Kronanwalt Mitchell sind beste Freunde. Sie verkehren beide im ›

Queen's Club

‹ und haben einen gewissen Einfluss. Das kann dich ohne weiteres deine Zulassung kosten!«



»Warum sollte es mal anders sein?«, erwiderte Bradley knurrend. Dann berichtete er ihm alles über das Zusammentreffen mit dem Psychiater.



Der Chief Inspector hörte aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen, und blickte dann nachdenklich vor sich hin. »Eine wirklich komische Sache ist das«, meinte er, als Bradley geendet hatte. »Was könnte er hier gesucht haben? Dass er die Tote gesehen hat, darin stimme ich dir zu … Nur bin ich nicht davon überzeugt, dass er auch der Täter ist. Allerdings frage ich mich, wenn er selbst eine weiße Weste hat, warum er uns nicht von sich aus verständigt hat?«



»Hier sehe ich auch nicht klar«, stimmte Bradley ihm zu und zog mit dem Taschentuch das Zigarettenetui hervor, das er zusammen mit der Zigarettenkippe auf dem Beistelltisch beim Telefon gefunden hatte.



Primes warf einen Blick auf das Monogramm, öffnete das Etui, sah kurz hinein, klappte es wieder zu und steckte es in die Tasche.



»Ich werde die Fingerabdrücke überprüfen lassen. Scheint als würde es Dorsey gehören und es entlastet ihn nicht gerade«, nickte er nachdenklich. »Jetzt berichte aber mal von Anfang an. Wie bist du überhaupt hierhergekommen?«



Während Bradley diesem Wunsche nachkam und die Ereignisse der Reihe nach erzählte, lehnte sich Primes in seinem Sessel zurück und hielt die Augen halb geschlossen. So, wie es sein Vater, der legendäre Archibald Primes, früher oft gemacht hatte, erweckte er den Eindruck, als ob er schliefe, aber sein Gehör registrierte jede Einzelheit ganz genau, die ihm sein Freund mitteilte. »Hm«, brummte er, als Bradley schwieg. »Und du hast an der Toten kein Collier gesehen? Zumindest keines, wie es Mrs. Dorsey abhandengekommen war, und das du in ihrem Auftrag suchen solltest? Hast du das bewusste Schmuckstück gesehen? … Ich meine später, nachdem Mrs. Dorsey dir sagte, es hätte sich wieder angefunden?«

 



Bradley schüttelte den Kopf. »Meine Auftraggeberin wurde böse, als ich die Schmuckkassette auch nur erwähnte. Das Collier kenne ich nur von der Beschreibung am Telefon her, als sie mich bat, danach zu suchen.«



»Wenn die Herren einmal zu mir kommen würden?«, meldete sich plötzlich der Gerichtsmediziner, begleitet von einer auffordernden Geste mit der Hand. Dann richtete er sich auf, zog seine Handschuhe aus und packte sein Besteck in den Arztkoffer.



»Und?«, fragte Primes und sah dabei auf das wächserne Gesicht der jungen Frau.



»Gift!« entgegnete der Arzt und sah den Chief Inspector an. Dann fuhr er mit dem Finger hinter seine Brillengläser und wischte darüber. »Gift...! Aber keines der üblichen Symptome wie bei Veronal, Strychnin oder Zyankali. Das hier muss ein besonders aktives Toxin sein, ich schätze, ein organisches Gift, kein metallisches. Der Tod scheint binnen zwei bis drei Minuten eingetreten zu sein. Die Tat könnte zwei bis zweieinhalb Stunden zurückliegen. Genaueres kann ich erst nach der Autopsie der Leiche sagen«, berichtete der Arzt.



»Können Sie mir schon sagen, wie das Gift verabreicht wurde?«, hakte Primes nach.



Der Mediziner bückte sich, erfasste den Rand des hochgeschlossenen Kleides der Toten, nachdem er sich wieder den rechten Handschuh übergestreift hatte, und zog es vom Hals ein Stück abwärts. »Sehen Sie, hier? … Ein winziger Nadelstich! Die leichte Verfärbung, rührt eindeutig von einer subkutanen Injektion her.«



Primes und Bradley machten sich darüber ihre eigenen Gedanken, während der Gerichtsmediziner das Kleid wieder emporzog und seinen Handschuh in die Tasche zurückwarf.



»Den mysteriösen Anruf, der mich hergeführt hat, erhielt ich vor gut dreieinhalb Stunden «, bemerkte Bradley halblaut. »Der Mann könnte die Tat möglicherweise verübt haben. Zeit hatte er dazu jedenfalls genug.«



»Ist ein Suizid denkbar, Doktor?«, erkundigte sich Primes, der ähnliche Gedanken hegte wie sein Freund.



»Denkbar ist das gewiss, aber aus Erfahrung kann ich sagen, dass sich Betreffende eine bequemer erreichbare Stelle suchen … Zumeist den Arm oder …«



»In dem Fall würde auch eine Spritze zu finden sein«, ergänzte Bradley.



»Und ein Unfall ist ebenfalls auszuschließen?«, bohrte Primes weiter, aber nur um jede Möglichkeit ausgeschlossen zu sehen, die außer Mord als Todesursache in Betracht kommen konnte.



Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Höchst unwahrscheinlich ... Wo sollte sich die Tote gestochen haben? Zumal an dieser Stelle!« Er wandte sich von den beiden ab und gab Anweisung, die Leiche hinauszuschaffen.



»Kann es sein, dass Dorsey dich angerufen hat?«, fragte Primes unvermittelt und sah einem seiner Beamten zu, der sich eingehend mit einem zertrümmerten Stuhl beschäftigte.



Bradley war der neugierige Blick seines Freundes nicht entgangen. »Der ging zu Bruch, als Dorsey über ihn fiel!«, schmunzelte er. »Aber, um auf deine Frage zu antworten, Alexander: Ich halte es für mehr als unwahrscheinlich, dass es Dorsey war, der mich angerufen hat. Warum hätte er sich dann davongeschlichen und sich mit mir herumgeprügelt? Mal ehrlich: Das scheint mir gegen jede Vernunft.«



»Den werde ich mir vorknöpfen«, entschied Primes. »Und du bleibst hier, auch wenn es ihm nicht passt!«, fügte er hinzu, als er sah, dass Bradley sich seinen ›

Homburger

‹ angeln wollte.



Bradley fiel die Schmuckkassette ein, die er eingesteckt hatte. Er zog sie aus der Tasche und übergab sie Primes. »Hätte ich fast vergessen.«



»Kennst du diesen Roger Kensington?«, fragte Primes, als er die Widmung auf der Innenseite des Deckels gelesen hatte.



»Nein.« Er ließ sich in einem Sessel nieder, während sein Freund einem der Beamten den Auftrag gab, Dorsey zu holen.



»Gut … Also ein Unbekannter mehr in dieser Angelegenheit«, meinte Primes und setzte sich ebenfalls. Er meinte damit Kensington, der Mrs. Dorsey ganz offenkundig das Geschenk gemacht hatte. »Was könnte Mrs. Dorsey hier gewollt haben? Warum hat weder sie noch ihr Mann uns gerufen? Das sind durchaus belastende Momente … Andererseits, … welches Motiv sollten sie für eine solche Tat haben?«



Eine Weile hingen die beiden ihren eigenen Gedanken nach. Als vom Flur her Dorseys lautes Schimpfen zu hören war, sahen sie gespannt zur Tür. Gleich darauf betrat er das Zimmer. »Was soll das, Chief Inspector?«, knurrte er zornig. »Sie behandeln mich wie einen Verbrecher! Sie glauben doch nicht allen Ernstes, dass ich unsere Hausangestellte getötet habe, oder?«



»Hat jemand davon gesprochen, dass Ihre Bedienstete umgebracht wurde?«, hakte Primes sofort ein. »Haben Sie sie vielleicht untersucht?«



»Natürlich … nicht!«, erklärte Dorsey hastig. »Und ich protestiere aufs Schärfste … gegen Ihr Verhör und vor allem gegen die Anwesenheit dieses Herren, Mr. Hadley!« Er deutete auf Bradley.



»Colin Bradley!«, korrigierte dieser umgehend.



»Scotland Yard sollte derartige Vorfälle lieber verhindern, anstatt angesehene Bürger zu verdächtigen!«, erwiderte Dorsey bissig. »Ich habe eine Reputation zu verlieren!«



»Wollen Sie eine mitrauchen?«, fragte Primes beiläufig und reichte dem Arzt seine Schachtel hin, aber Dorsey, der vor dem Tisch stand, lehnte ab. »Ach, Sie müssen entschuldigen, ich vergaß, dass sie ja nur ›

Abdullas

‹ rauchen, nicht wahr, Mr. Dorsey?« Primes sah ihn dabei voll an, griff in die Anzugtasche, zog das Etui hervor und hielt es ihm unter die Nase.



»Woher haben Sie das? Es gehört mir!«, reagierte der Psychiater barsch. »Geben Sie es her!«



Hatte er damit gerechnet das Etui zurückzubekommen sah er sich getäuscht, denn Primes steckte es wieder ein und trat dicht vor ihn hin. »Sie waren als letzter mit Ihrer Bediensteten zusammen, und Sie haben eine filterlose ›

Abdulla

‹ geraucht … eine ›

Flower of Virgina

‹, um genau zu sein. Als Mr. Bradley kam, versteckten Sie sich und flohen anschließend!« Primes sprach in einem ausgesprochen scharfen Ton und verfolgte die Reaktion seines Gegenübers. »Ihr Verhalten erscheint seltsam, wie Sie wohl selbst eingestehen müsse, Mr. Dorsey!«



Bei jedem seiner Worte steigerte sich sichtlich Dorseys Zorn. »Schweigen Sie auf der Stelle!«, tobte er schließlich los. »Ich bin von diesem Mann«, er wies auf Bradley, »hinterrücks überfallen worden! Und ich werde dies dem Kronanwalt Mitchell berichten, und dafür sorgen, dass man Leuten wie ihm, die des nachts in fremde Wohnungen eindringen, das Handwerk legt!«



»Tun Sie, was Sie wollen, zunächst aber werden Sie mir antworten, Mr. Dorsey«, konterte Primes, der sich nicht aus der Ruhe bringen ließ. »Sie täten gut daran, sich nicht zu widersetzen! … Was suchten Sie also in diesem Zimmer und in der Wohnung Ihrer Bediensteten überhaupt?« Seine Miene war so eisig, wie der Ton seiner Worte.



»Ich habe mich versteckt!«, erwiderte Dorsey spöttisch.



»Rauchend?«, lächelte Bradley zurück.



In Dorseys Augen funkelte es gefährlich. Ehe er darauf etwas erwidern konnte, setzte Primes nach: »Vor wem? Und schön der Reihe nach! Wann und warum kamen Sie in das Zimmer?«



»Von mir erfahren Sie nichts mehr, Chief Inspector!«, schnaufte der Psychiater. »Und ich verspreche Ihnen: Ich werde dafür sorgen, dass Sie Ihren Posten verlieren!«



»Also gut, Mr. Dorsey, Sie wollen es ja nicht anders! Ich werde jetzt die Anwaltschaft der Krone persönlich anrufen und einen Haftbefehl gegen Sie erwirken … Wenn ich die Vorgänge hier schildere, dann können Sie mir glauben, dass er ganz gleich aller Freundschaft zu Ihnen, mit der Unterschrift keine Sekunde zögern wird!«, entgegnete Primes kalt. »Ich gebe Ihnen genau zwei Minuten Zeit … Vielleicht überlegen Sie es sich doch noch anders.«



Der Psychiater stieß einen hörbaren Seufzer aus. Es hörte sich an, als ob ein Flusspferd die Luft abließe. »Gut, ich rede! Aber das werden Sie noch bereuen, Chief Inspector!«, stieß er vor Zorn bebend hervor.



»Was suchten Sie hier?«, fragte Primes, die Drohung des Arztes geflissentlich überhörend.



»Gestern wurde es länger im Labor … Ist das kleine Gebäude rechts … Jedenfalls war es gegen neun Uhr abends«, begann Dorsey, »da hörte ich eine Tür schlagen, blickte durchs Fenster und sah einen Mann fortgehen ...«



»Kannten Sie ihn?«, wollte der Chief Inspector wissen.



»Ja. Es handelte sich um Albert Stirling. Er war mal mein Chauffeur und ist Olivias Verlobter.«



»Er arbeitet nicht mehr für Sie? Darf ich erfahren: Warum?«



»Dafür gab es einen triftigen Grund. Es kam zu fortwährenden Unkorrektheiten, sodass ich ihn vor knapp vier Wochen entlassen musste und ihm jedes weitere Betreten meines Hauses verbot«, erklärte er. »Ich habe es Olivia, unserem Hausmädchen gesagt, aber sie ließ ihn dennoch ein.« Er sah Primes an und schenkte Bradley einen Seitenblick, der seinen steifen Hut mit zwei Fingern an der hochgezogenen Krempe immerzu langsam drehte. »Er wohnt übrigens in der ›Union Street‹, Nummer 31, unterm Dach. Ich nahm an, dass Olivia noch da sei und rief nach ihr. Ich wollte sie bitten, mir noch einen kleinen Imbiss zu machen. Das Licht brannte. Da sie nicht reagierte, suchte ich nach ihr … Nun, Sie können sich denken, wie erschrocken ich darüber war, als ich sie tot fand. Ich untersuchte sie oberflächlich … Meiner Meinung nach starb sie durch ein Gift.«



»Können Sie mir erklären, warum Sie nicht direkt den Yard angerufen haben?« fragte Primes, während Bradley seinen Hut beiseitegelegt hatte und dazu übergegangen war, sich einige Notizen zu machen.



»Genau das hatte ich vor, aber da vernahm ich Schritte. Ich nahm natürlich an, Stirling würde zurückkehren und versteckte mich im Nebenzimmer. Aber es war nicht Stirling, sondern Mr. Bradley, wie sich herausstellte. Jedenfalls ging ich von meinem Ex-Chauffeur aus und fragte mich, was er noch hier wollte? Also beobachtete ich ihn, jeden Moment darauf gefasst, dass er mich entdecken würde. Um das zu verhindern, löschte ich das Licht und wollte mich davonmachen, um von oben aus die Polizei zu rufen. Dann war ich der irrigen Meinung, Stirling sei wieder fort und betrat das Zimmer, weil sich hier auch ein Telefon befindet … Und dann kam es zur Schlägerei.«



»Abgesehen davon, dass mir nicht einleuchtet, warum Sie der Meinung waren, Stirling sei wieder fort … Sie hätten schließlich seine Schritte hören müssen, zuvor taten Sie es ja auch … Warum riefen Sie nicht später an?«, forschte Primes nach, den Widerspruch der Aussage aufzeigend.



»Ich wollte den Eindringling nicht entkommen lassen und wartete im Flur. Dann ging ich doch hinauf«, erwiderte Dorsey.



»Erklären Sie mir, wie Ihr Etui auf den Beistelltisch gekommen ist … und der Zigarettenstummel in den Aschenbecher!« Primes ließ nicht locker.



»Das kann ich nicht! Das Etui vermisse ich bereits seit einigen Tagen … Geraucht habe ich hier auch nicht«, erklärte Dorsey, der jetzt ruhiger geworden war.



»Nun, Ihre Bedienstete wird dieses Kraut kaum angerührt haben!«, stellte der Chief Inspector fest. »Also, wer sonst?«



»Stirling vielleicht«, warf Bradley ein.



»Trug Ihre Hausangestellte einen Schmuck, eine Halskette vielleicht?« fragte Primes unvermittelt.



Der Psychiater schien nachzudenken. »Ja, sicher!«, sagte er dann schnell. »Ein Collier mit schwarzen Perlen!«



Primes sah seinen Freund kurz an und Bradley nickte unmerklich zur Bestätigung dessen, dass dies der Schmuck war, den er in Mrs. Dorseys Auftrag suchen sollte.



»Und in diesem Punkt besteht kein Zweifel, Mr. Dorsey?«



»Keiner!«



»Haben Sie das Collier schon früher einmal an Ihrer Angestellten gesehen?«, forschte der Chief Inspector weiter.



Dorsey schüttelte den Kopf.



»Auch nicht an Ihrer Frau?«, fragte Bradley schnell.



»An meiner Frau? Was für ein Unsinn! Ich muss schon sagen: Ihre Fragen sind reichlich merkwürdig!«, erwiderte Dorsey spitz und sah von einem zum anderen.



»Kennen Sie einen gewissen Roger Kensington?« setzte Primes das Verhör fort und sah den Psychiater voll an.



»Ja, natürlich«, räumte Dorsey ein. »Der Mann ist Junggeselle, von Beruf Chemiker … und ein echter Dandy, wie ich anmerken möchte. Er liebt es seine Kleidung und sein Auftreten zu kultivieren, hat Witz und Bonmot. Er hat schon fast etwas von Baudelaire«

 



»Dessen luxuriöse Dandy-Existenz bekanntlich scheiterte, sodass ihm gerichtlich ein Vormund verpasst wurde«, bemerkte Bradley schmunzelnd.



»Mag sein, dass es ihm irgendwann ähnlich ergeht. Wer kann das heute sagen?«, erwiderte Dorsey.



»Ihre Frau kennt ihn auch?«, kam Primes auf das Wesentliche zurück.



»Ich verbitte mir derart impertinente Fragen, Chief Inspector!«, donnerte Dorsey.



»War Ihre Bedienstete Ihnen gegenüber jemals unaufrichtig, Mr. Dorsey?« fragte der Chief Inspector unverdrossen weiter.



»Olivia ...? Äh, ja … doch!«, antwortete Dorsey verlegen, um dann plötzlich auszubrechen: »Aber Ihre Fragerei geht jetzt zu weit. Das ist ja nun wirklich sehr privat!«



»Schon gut, Mr. Dorsey. Vorerst genügen mir Ihre Auskünfte«, erwiderte Primes deeskalierend. »Sie werden sich aber weiter zu meiner Verfügung halten!«



»Soll das heißen, dass ...«, brauste der breite Mann wieder auf.



»... dass Sie uns bitte Ihre Frau herunterschicken, Mr. Dorsey!«, schnitt ihm Bradleys Freund das Wort ab.



Mit wuchtigen Schritten und Zornesröte im Gesicht stapfte der Psychiater aus dem Zimmer. Dabei brummte er etwas Unverständliches vor sich hin, was bei seinem Temperament ganz gewiss nichts Schmeichelhaftes für Bradley und Primes war.





*





»Den hast du aber ordentlich auf die Palme gebracht!«, stellte Bradley grinsend fest.



»Warum mit Samthandschuhen anfassen, Colin? Du hältst ihn doch wohl nicht für unschuldig, oder?«, fragte Primes, ohne darauf einzugehen.



»Für unschuldig nicht. Der stiefelte mit Sicherheit seiner Angestellten hinterher, wenn da nicht sogar mehr abgelaufen ist. Aber es scheint erstmal so, als habe sie den Schmuck und das Etui gestohlen. Was er sagt, klingt durchaus glaubhaft. Und es macht den Eindruck, dass er von der Existenz des Colliers keine Ahnung hatte.«



Sein Freund nickte zustimmend, erwiderte aber zunächst nichts. »Dieser ehemalige Chauffeur Stirling hat das Etui gefunden und eine Zigarette daraus geraucht. Vermutlich war auch er es, der dich anrief«, sagte er dann.



»Dann habe ich fürs Erste drei Fragen. Erstens: Ist Stirling der Täter? Zweitens: Hat diese Olivia, als er mich anrief, noch gelebt? Und drittens: Wo ist das Collier abgeblieben, das sie trug?«



Erneut antwortete der Chief Inspector nicht sofort. Er griff nach dem Zettel, auf dem Bradley die Anschrift Stirlings notiert hatte und reichte das Papier einem seiner Männer. »Schicken Sie sofort einen Wagen zur dieser Adresse, Constable Miller«, wies er ihn an und winkte einen weiteren heran. »McKenzie, Sie suchen die Adresse von Mr. Roger Kensington heraus und machen sich dorthin auf den Weg.«



»Ja, Sir«, nickte der Uniformierte mit den Streifen eines Sergeants auf den Ärmeln und folgte dem Constable.



Erst jetzt griff Primes Bradleys letzte Frage auf. »Ich stimme Dir zu, dass Dorseys Frau das Collier an sich genommen hat. Du sagtest ja, dass die Tote es nicht mehr trug, als Du sie zu Gesicht bekommen hast. Es macht Sinn, denn wie sonst hätte sie auch erklären können, dass sich das Schmuckstück wieder angefunden hat? Die Fragen, die wir uns stellen müssen sind: Warum wurde die Bedienstete umgebracht, und wer hatte einen Grund es zu tun? … Ihr Verlobter, Stirling?«



Bradley steckte sich eine neue Zigarette an und grübelte.



Die Beamten der Mordkommission hatten längst ihre Arbeit beendet. Es hatte sich Nichts gefunden, was einen Hinweis auf den Täter des zweifellos vorliegenden Gewaltverbrechens gegeben hätte.



»Ich bin gespannt, was uns Mrs. Dorsey mitzuteilen hat«, meinte Bradley nach einigen Zügen, als er die trippelnden Schritte der Frau im Flur hörte.





*





Gleich darauf stand sie auch schon im Zimmer und sah sich scheu um. Bradley bemerkte sofort, dass sie sich umgezogen hatte. Sie trug ein anderes Kleid, als bei seiner ersten Begegnung mit ihr. Auch jetzt trug sie keinen Schmuck am Hals.



Mit einer Handbewegung lud Primes sie zum Sitzen ein. »Mich interessiert, woher Sie vom Tod Ihrer Angestellten wussten, Mrs. Dorsey?«, begann er direkt mit seiner Vernehmung. Nachdem sie sich gesetzt hatte, aber nicht direkt antwortete, fügte er hinzu: »Sie sollten mir alles erzählen, Mrs. Dorsey. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.«



»Ich kam aus einer Sitzung des Frauenvereins, dem ich angehöre, und sah Licht in Olivias Zimmer. Ich wollte ihr noch eine Besorgung für morgen aufgeben und ging hinein ... Da sah ich sie liegen … tot!« Die Gattin des Psychiaters schwieg, so, als müsse sie noch einmal den Schock überwinden, den sie bei ihrer schrecklichen Entdeckung erlitten hatte.



»Was taten Sie anschließend, Madam?«, wollte Primes nach einer kleinen Pause wissen.



»Ich hatte plötzlich Angst … Es war so surreal! Ich lief hinaus.«



»Haben Sie etwas Verdächtiges bemerkt oder jemand gesehen?«



»Da war nichts Verdächtiges und gesehen habe ich auch niemanden.«



»Haben Sie vielleicht eine Ahnung, warum Ihr Hausmädchen umgebracht worden sein könnte?«



»Nein.«



»Ich frage mich, warum Sie keinen Arzt gerufen haben, Mrs. Dorsey«, stellte Primes fest. »Zumindest hätten Sie nach Ihrem Mann rufen können, oder Scotland Yard verständigen.« Er warf einen Blick zum Beistelltisch. »Dort steht ein Telefon.«



»Ich weiß es nicht! … Versetzen Sie sich doch mal in meine Lage: Ich habe … Olivia … und dann tot! Ich muss wohl den Kopf verloren haben.« Sie schluckte ein paar Mal, hatte ihre Hände in den Schoß gelegt und spielte nervös mit den Fingern.



»Warum sind Sie noch einmal in das Zimmer zurückgekehrt? Vergessen Sie nicht, dass ich Sie dabei überrascht habe!«, hakte sich Bradley schnell ein, wofür er sich ihren hasserfüllten Blick einfing.



Sie wollte schon den Mund öffnen, ließ es aber, schlug die Augen nieder und schwieg.



»Warum haben Sie der Toten das Collier abgenommen?« fuhr Primes sie plötzlich an, sodass sie unwillkürlich zusammenzuckte.



»Ich …? Was unterstehen Sie sich?! Ich lasse mir so etwas nicht unterstellen!«, schrie sie hysterisch.



»Wo ist das Collier? Zeigen Sie es mir bitte!«, ließ der Chief Inspector nicht locker.



Amanda Dorsey war von ihrem Platz aufgesprungen und schickte sich an fluchtartig aus dem Zimmer zu eilen. Sofort stellte sich ihr Bradley, der näher zu ihr saß, in den Weg.



»Wenn Sie nicht reden, werde ich Sie mit zum Yard nehmen! Sie verschweigen etwas Wichtiges!«, erklärte ihr Primes.



»Ich werde mich über Sie beschweren, Chief Inspector! Das Collier ist mein Eigentum. Olivia hat es gestohlen, und ich habe mir nur genommen, was ohnehin mir gehört, als sie tot dalag!«, schrie sie außer sich.



»Und bei ihrem zweiten Aufsuchen des Zimmers suchten sie nach dem Etui, nicht wahr?«, fragte Bradley nun.



»Sie haben recht«, gestand sie, und fuhr plötzlich überraschend ruhig fort: »Ich habe keine Ahnung, warum Olivia ums Leben gekommen ist, aber Sie müssen verstehen, dass ich auf keinen Fall durch den Fund des Schmuckstücks oder der Kassette in die Angelegenheit verwickelt werden wollte … Nun ja, … jetzt ist es eh gleich, auch wenn Sie es nicht verstehen.«



»Es geht nicht darum, ob ich es verstehe, Mrs. Dorsey. Und verhindern konnten Sie es letztlich auch nicht!«, stellte Primes fest. »Stammt das Collier von Roger Kensington?«



»Ja. Es handelt sich um eine kleine Aufmerksamkeit eines Bekannten.«



»Ein wertvolles Collier, eine kleine Aufmerksamkeit?«, lächelte Bradley. »Warum haben Sie diese kleine Aufmerksamkeit nicht ihrem Mann gezeigt?«



»Andrew, mein Mann … Er mag Kensington nicht!«



»Hat er Ihnen gesagt: Warum?«, fragte Primes.



»Nein, hat er nicht .... Lassen wir doch dieses Thema, wenn ich bitten dürfte.«



»Kennen Sie Stirling, haben Sie ihn einmal gesehen?«



»Ja, gewiss doch! Mr. Stirling war unser Chauffeur und der Verlobte von Olivia. Mein Mann hat ihn entlassen, und ich habe ihn schon seit Wochen nicht mehr gesehen«, erwiderte sie mit müder Stimme. Sie schien erschöpft zu sein.



»Kann ich das Collier mit den schwarzen Perlen einmal ansehen?«, erkundigte sich Primes.



»Woher wissen Sie, wie das Collier auss

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