Klausurenkurs im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht

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c) § 15a EheG aF

138

§ 15a EheG aF (entspricht Art. 13 Abs. 4 EGBGB, MAT a) enthält eine Sonderregelung für die Eheschließungsform, jedoch nur bei Eheschließung im Inland. Damit hängt die Auswahl der Kollisionsnorm vom Eheschließungsort (im Inland oder im Ausland) ab. Eheschließungsort ist Tondern (Dänemark). Somit ist die Formwirksamkeit nicht nach § 15a EheG aF, sondern nach Art. 11 Abs. 1 EGBGB (aF wie neue Fassung, MAT a) zu beurteilen. Es genügt alternativ die Wahrung der Ortsform (Geschäftsform wäre die Kumulation der beiden Heimatrechte, Art. 13 Abs. 1 EGBGB, Rn 143 ff). Die Ortsformverweisung ist nach dem Zweck der Verweisung, der Begünstigung der Formwirksamkeit, eine Sachnormverweisung (insoweit altes IPR wie Art. 4 Abs. 1 S. 1 letzter Hs. EGBGB, MAT a).

d) Ortsform

139

Die dänische Ortsform ist nach Sachverhalt („in der Form des dänischen Rechts“) gewahrt.

2. Anwendbares Recht – materielle Ehemängel
a) Qualifikation

140

Die beantragte Aufhebung einer Ehe ist zunächst zu qualifizieren. Sie unterfällt nicht etwa dem Scheidungsstatut, denn es handelt sich nicht um eine Frage der Auflösung aufgrund von Durchführungsmängeln (Scheitern, Eheverfehlungen etc), sondern um eine Reaktion auf Eingehungsmängel. Die Aufhebung ist daher eheschließungsrechtlich zu qualifizieren. Da mit der Bigamie ein materieller Ehemangel behauptet wird, ist das materielle Eheschließungsstatut zu bestimmen.

b) Intertemporal anwendbares IPR

141

Intertemporal liegt nach beiden zu Art. 220 Abs. 1 EGBGB vertretenen Theorien (abschließende Anknüpfung bzw materielle Rechtsfolgen) wiederum ein abgeschlossener Vorgang vor, da die Begründung des familienrechtlichen Status der Ehe im Zeitpunkt der Eheschließung abschließend angeknüpft ist[3] und materiellrechtlich Rechtsfolgen erzeugt.

c) Haager Eheschließungsabkommen

142

Das anwendbare Recht bestimmt sich nicht nach dem sachlich für Ehehindernisse einschlägigen (im Verhältnis zu Italien noch immer geltenden[4]) Haager Eheschließungsabkommen; nach seinem Art. 8 Abs. 1 ist der räumliche Anwendungsbereich auf Eheschließungen im Gebiet von Vertragsstaaten beschränkt. Dänemark war nie Vertragsstaat.

d) Art. 13 Abs. 1 aF EGBGB

143

Anzuwenden ist also das bei Eheschließung geltende deutsche IPR. Art. 13 Abs. 1 S. 1 aF EGBGB entspricht dem geltenden Art. 13 Abs. 1 EGBGB (MAT a), verweist also für jeden Verlobten in dessen Heimatrecht. Für Frieda ist deutsches Recht anzuwenden; insoweit bedarf es keiner weiteren Prüfung, da aus Sicht des deutschen Rechts Frieda selbst ledig und Marcello durch ein deutsches Gericht geschieden war, also das beidseitige Ehehindernis der bestehenden Ehe (§ 20 Abs. 1 EheG aF, inhaltlich wie § 1306 BGB) nicht vorliegt.

e) Gesamtverweisung

144

Für Marcello geht die Verweisung in italienisches Recht und ist Gesamtverweisung (Art. 27 aF EGBGB entspricht insoweit geltendem Art. 4 Abs. 1 EGBGB).

f) Italienisches IPR

145

Das italienische IPR entscheidet intertemporal (vgl Art. 72 IPRG 1995) insoweit wie das deutsche (MAT d); vor dem 1.9.1995 abgeschlossene Sachverhalte unterstehen dem alten IPR. Art. 17 disp.s.l.in gen. (MAT b) nimmt die Verweisung an; Art. 115 cc (MAT f) hat dabei die kollisionsrechtliche Funktion, klarzustellen, dass die Vorschriften des 1. Abschnitts des III. Kapitels im 6. Titel des 1. Buches cc, also auch Art. 86 cc, materieller (nicht formeller) Natur sind und deshalb auch bei Eheschließung eines Italieners im Ausland gelten.

3. Italienisches Eheaufhebungsrecht
a) Art. 117 Abs. 1 cc

146

Die Ehe könnte nach Art. 117 Abs. 1 cc (MAT g) durch Klage (MAT h) aufhebbar sein.

Dazu müsste ein Verstoß gegen eine der dort genannten Normen vorliegen; in Betracht kommt nur Art. 86 cc (MAT e). Marcello müsste im Zeitpunkt der Eheschließung anderweitig verheiratet gewesen sein. Das ist fraglich, weil die 1967 geschlossene Ehe des Marcello mit Dörte am 17.8.1968 rechtskräftig von einem deutschen Gericht geschieden wurde.

b) Auf die Wirksamkeit der Scheidung anwendbares Recht

147

Nach welchem Recht die Wirksamkeit der Scheidung zu beurteilen ist, ist seit der zum Spanier-Beschluss des BVerfG[5] (vgl Art. 13 Abs. 2 EGBGB) führenden Rechtsprechung unklar:

aa)

148

Mit dem BGH[6] wäre zu argumentieren, nach seinem für die Eheschließungsvoraussetzungen maßgeblichen italienischen Heimatrecht sei Marcello am 1.6.1970 noch mit Dörte verheiratet gewesen; denn das an diesem Tag noch geltende (Datum in MAT i) alte italienische Recht habe damals die in Deutschland ausgesprochene Ehescheidung vom 17.8.1968 als ordre-public-widrig (MAT k) angesehen und nicht anerkannt.

Diese Folgerung des italienischen Rechts könnte sodann gegen den deutschen ordre public (Art. 30 aF EGBGB entspricht Art. 6 EGBGB) verstoßen: Die Anwendung einer Rechtsordnung, welche die Unauflöslichkeit der Ehe postuliert und im konkreten Fall deshalb einem deutschen Scheidungsurteil die Anerkennung versagt, verstößt gegen Grundprinzipien des deutschen Rechts; der Inlandsbezug besteht, weil Frieda, der die Eheschließung mit Marcello versagt worden wäre, Deutsche ist.

bb)

149

Diese Lösung übersieht jedoch, dass es sich bei der Frage der noch bestehenden Ehe um eine Vorfrage im Tatbestand eines Ehehindernisses (Art. 86 cc) handelt, die nicht ohne Weiteres dem Hauptstatut (Eheschließungsvoraussetzungen der neuen Ehe) untersteht. Vorfragen sind nach deutschem Recht grundsätzlich selbstständig anzuknüpfen. Nur wenn man – zur Vermeidung hinkend mangelhafter Ehen – diese Vorfrage unselbstständig vom italienischen Eheschließungsstatut aus anknüpft, kommt man wieder zu der oben (Rn 148) geschilderten Lösung. Bei selbstständiger Vorfragenbeurteilung ist, da ein Scheidungsurteil[7] vorliegt, nicht beim deutschen IPR anzusetzen (Art. 17 Abs. 1 aF EGBGB); auch wenn die Scheidung Hauptfrage ist, beurteilt sich die Wirkung des Scheidungsurteils nicht nach dem Scheidungsstatut, sondern prozessual. Ein deutsches Scheidungsurteil (seit 1.9.2009 Scheidungsbeschluss) wirkt, ein ausländisches ist ggf anerkennungsfähig.[8] Das vorliegende deutsche Scheidungsurteil ist also schlicht wirksam. Die Ehe von Marcello und Dörte war damit aus deutscher Vorfragensicht am 17.8.1968 aufgelöst.

[Hinweise: Da ordre-public-Verstöße nicht nach einer späteren Rechtslage bewertet werden können, spielt die spätere Anerkennungsfähigkeit des Scheidungsurteils in Italien (MAT k) keine Rolle. Der BGH erwägt noch – und lehnt dies zu Recht ab –, ob es angesichts der sich in Italien abzeichnenden Rechtsänderung den Verlobten zumutbar gewesen wäre, abzuwarten, statt den „Tondern-Trick“[9] anzuwenden.]

Ergebnis:

150

Nach beiden Ansichten ist die Ehe von Frieda und Marcello (aus Sicht deutscher Gerichte) nicht vom Mangel der Doppelehe behaftet, der Eheaufhebungsantrag also unbegründet.

III. Ehescheidungsantrag
1. Anwendbares Recht – Rom III-VO
a) Zeitlicher Anwendungsbereich

151

Am 30.12.2010 ist die das Ehescheidungsstatut regelnde Rom III-VO (Nr 1259/2010) in Kraft getreten; sie gilt jedoch erst ab dem 21.6.2012 (Art. 21 Rom III-VO) und ist gemäß Art. 18 Abs. 1 Rom III-VO auf gerichtliche Verfahren anwendbar, die ab dem 21.6.2012 eingeleitet wurden. Ob für die Verfahrenseinleitung Art. 16 Brüssel IIa-VO entsprechend gilt, kann hier dahinstehen, da der hilfsweise gestellte Scheidungsantrag nach dem Stichtag gestellt und zugestellt wurde.

b) Sachlicher, räumlicher Anwendungsbereich

152

 

Der sachliche Anwendungsbereich gemäß Art. 1 Abs. 1 Rom III-VO ist für die Ehescheidung eröffnet. Eine Begrenzung des räumlichen Anwendungsbereichs besteht nicht: Die Anknüpfungen der Rom III-VO sind lois uniformes; sie gelten auch, wenn sie ein Recht berufen, welches nicht das Recht eines an der Verstärkten Zusammenarbeit, in welcher die Rom III-VO erlassen wurde, teilnehmenden Mitgliedstaats ist.

c) Rechtswahl

153

Eine vorrangige Rechtswahl in den Grenzen des Art. 5 Rom III-VO haben die Ehegatten nicht getroffen. Anzuknüpfen ist somit objektiv nach der Anknüpfungsleiter des Art. 8 Rom III-VO. Soweit diese Bestimmungen auf den Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts abstellen, ist diese entsprechend Art. 16 Brüssel Ia-VO zu beurteilen, so dass grundsätzlich auch bei Anhängigkeit in Deutschland die Einreichung bei Gericht maßgeblich ist, wenn keine Versäumnisse des Antragstellers hinsichtlich der nachfolgenden Zustellung vorliegen.

d) Gewöhnlicher Aufenthalt im selben Staat

154

In Anwendung von Art. 8 Rom III-VO liegen die Voraussetzungen der lit. a nicht vor, weil im Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts die Ehegatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht im selben Staat haben. Lit. b liegt ebenfalls nicht vor; zwar hatten die Ehegatten zuvor beide gewöhnlichen Aufenthalt in Italien und Marcello hat diesen beibehalten. Doch hat Frieda den gewöhnlichen Aufenthalt bereits am 1.2.2015 und damit mehr als ein Jahr vor Anrufung des Gerichts am 29.3.2016, aufgegeben.

e) Gemeinsame Staatsangehörigkeit

155

Fraglich ist, ob eine gemeinsame Staatsangehörigkeit iSd. Art. 8 lit. c Rom III-VO vorliegt. Zwar sind beide Ehegatten italienische Staatsangehörige, nachdem Frieda 2008 die italienische Staatsangehörigkeit auf Antrag erworben hat. Jedoch hat Frieda hierdurch die deutsche Staatsangehörigkeit nicht gemäß § 25 Abs. 1 S. 1 StAG verloren, weil dieser Verlusttatbestand nicht eintritt, wenn ein Deutscher die Staatsangehörigkeit eines anderen EU-Mitgliedstaats erwirbt (§ 25 Abs. 1 S. 2 StAG in der seit 28.8.2007, also bereits beim Antragserwerb, geltenden Fassung). Fraglich könnte sein, ob die deutsche Staatsangehörigkeit der Frieda nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 EGBGB vorgeht; dies ist im Anwendungsbereich von EG/EU-Verordnungen zu verneinen; jedenfalls bei Doppelstaatern mit zwei mitgliedstaatlichen Staatsangehörigkeiten sind diese auch für Zwecke der kollisionsrechtlichen Anknüpfung als gleichwertig zu betrachten.[10] Damit besitzen die Ehegatten iSd. Art. 8 lit. c Rom III-VO gemeinsam die italienische Staatsangehörigkeit.

f) Sachnormverweisung

156

Die Verweisung in italienisches Recht ist Sachnormverweisung auf das materielle Scheidungsrecht (Art. 11 Abs. 1 Rom III-VO).

2. Italienisches Ehescheidungsrecht
a) Scheidung bei Aufhebbarkeit nach Scheidungsstatut

157

Fraglich ist schon, ob nach italienischem Recht die Ehe geschieden werden kann, weil sie (Rn 149) aus italienischer Sicht noch immer als bigamisch und daher aufhebbar anzusehen ist. Aus Art. 117 Abs. 1 cc (MAT g) ergibt sich aber, dass die Ehe deshalb nicht nichtig, sondern vorbehaltlich eines Aufhebungsurteils wirksam ist. Eine Aufhebung ist aber nicht erfolgt und dem beim AG Köpenick anhängigen Aufhebungsantrag kann (soeben Rn 150) nicht stattgegeben werden.

158

Anders als im Fall der (oft auf Formmängel beruhenden) hinkenden Nichtehe lässt sich auch nicht sagen, dass es widersprüchlich wäre, die Scheidung einem Recht zu unterstellen, welches die Ehe für mangelhaft hält. Das italienische Recht betrachtet die Ehe ja gleichwohl als wirksam; eine aufhebbare Ehe kann aber, solange sie nicht aufgehoben ist, durchaus geschieden werden. Würde einer der Ehegatten (in Italien) einen Antrag nach Art. 117 Abs. 1 cc (MAT h) stellen, müsste sich das Gericht sogar mit dem in jeder zivilisierten Rechtsordnung beachtlichen Einwand des Rechtsmissbrauchs (Berufung auf einen bei Eheschließung beiden Ehegatten bekannten Mangel nach über 30 Jahren) auseinandersetzen.

b) Zerrüttungsscheidung nur bei gerichtlicher Trennung

159

Einzig in Betracht kommender Ehescheidungsgrund ist Art. 3 Abs. 2 lit. b des italienischen Scheidungsgesetzes (MAT i). Dieser Scheidungsgrund setzt nach dem klaren Wortlaut eine gerichtliche oder gerichtlich bestätigte Ehetrennung und nachfolgend 1-jähriges bzw 6-monatiges Getrenntleben voraus. Das ist nicht gegeben, da ein Ausspruch oder eine gerichtliche Bestätigung einer Trennung nicht stattgefunden hat. Faktische Trennung genügte nur übergangsweise bei Inkrafttreten des Scheidungsgesetzes. Danach wäre der Scheidungsantrag als unbegründet abzuweisen.

3. Deutsche lex fori als „regelwidriges“ Scheidungsstatut

160

Die Ehe könnte jedoch nach deutschem Recht gemäß Art. 10 Rom III-VO zu scheiden sein. Dies setzt voraus, dass das nach Art. 5 oder Art. 8 anzuwendende Scheidungsstatut eine Ehescheidung nicht vorsieht. Ähnlich wie zu Art. 17 Abs. 1 S. 1 aF EGBGB[11] mag man darüber streiten, ob unter Art. 10 Rom III-VO auch eine nachhaltige Verzögerung der Ehescheidung nach dem eigentlichen Scheidungsstatut hierunter fällt. Jedoch besteht nach der Verkürzung der Trennungsfrist für streitige Scheidungen im italienischen Recht auf 12 Monate der Unterschied zum deutschen Recht nur noch in dem Erfordernis der formellen Feststellung des Getrenntlebens, was die unter § 1566 Abs. 1 BGB beliebte Umgehung des Trennungsjahres vermeidet und im Grunde der eheerhaltenden Tendenz einer „Besinnungsfrist“ besser entspricht als das nur faktische Getrenntleben des § 1567 BGB. Es ist also, selbst wenn man Art. 10 Rom III-VO erweiternd auslegen wollte, nicht von einer unzumutbaren Erschwernis der Scheidung auszugehen. Der zweite Fall des Art. 10 Rom III-VO, eine geschlechtsspezifische Diskriminierung in den Scheidungstatbeständen, ist offensichtlich nicht gegeben.

161

Somit ist der Scheidungsantrag ausschließlich nach italienischem Recht zu beurteilen und damit unbegründet. In Betracht kommt eine Antragsänderung (§ 263 ZPO) zu einem Antrag auf gerichtliche Ehetrennung nach italienischem Recht, über den dann ebenso zu entscheiden wäre wie nachfolgend Rn 180 ff. Eine divorzio breve, also eine Ehescheidung im Verfahren der anwaltlich unterstützen außergerichtlichen Ehescheidung, kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil diese Form der Ehescheidung nur einvernehmlich möglich ist (MAT k) und Marcello nicht geschieden werden will.

Ergebnis:

162

Die Ehe kann derzeit nach dem maßgeblichen italienischen Scheidungsstatut im gerichtlichen Verfahren nicht geschieden werden.

Frage 2: (Abwandlung 1): Gewöhnlicher Aufenthalt beider Ehegatten in Locarno
1. Brüssel IIa-VO: Vorrang gegenüber lex fori

163

Die Abwandlung in Frage 2 betrifft nur die internationale Zuständigkeit.

a) Fehlende Zuständigkeit nach Art. 3 Brüssel IIa-VO

164

Wie im Ausgangsfall beurteilt sich die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte ausschließlich nach der Brüssel IIa-VO, denn der Antragsgegner ist Italiener (Art. 6 lit. b Brüssel IIa-VO). Eine internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte kann sich damit nur aus Art. 3 Brüssel IIa-VO ergeben.

Art. 3 Brüssel IIa-VO kennt jedoch keine Zuständigkeit, die alleine an die Staatsangehörigkeit des Antragstellers anknüpft. Weder haben die Ehegatten beide eine deutsche Staatsangehörigkeit (Art. 3 Abs. 1 lit. b Brüssel IIa-VO) noch ist die deutsche Staatsangehörigkeit der Frieda durch einen 6-monatigen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland verstärkt (Art. 3 Abs. 1 lit. a Str. 6 Brüssel IIa-VO).

b) Lex fori bei Zuständigkeit in keinem Mitgliedstaat

165

Fraglich ist jedoch vorliegend, ob die Ausschließlichkeit nach Art. 6 Brüssel IIa-VO einer Einschränkung bedarf. Die Bestimmung steht vor dem Hintergrund, dass in einem einheitlichen europäischen Zuständigkeitssystem grundsätzlich alle Gerichte in Mitgliedstaaten als gleichwertig anzusehen sind und deshalb jedem Unionsbürger und in der EU sich aufhaltenden Nicht-Unionsbürger die Inanspruchnahme der Gerichte anderer Mitgliedstaaten zumutbar ist, soweit Art. 3 Brüssel IIa-VO keine Zuständigkeit der Gerichte seines Heimatstaates vorsieht. Diese Rechtfertigung könnte freilich entfallen, wenn Art. 3 Brüssel IIa-VO keinem Mitgliedstaat die internationale Zuständigkeit zumisst. In diesem Fall ist in der Tat nach verbreiteter Ansicht Art. 6 Brüssel IIa-VO teleologisch zu beschränken oder der Rechtsgedanke des Art. 7 Brüssel IIa-VO greift auch gegen die Ausschließlichkeit nach Art. 6 Brüssel IIa-VO durch.[12]

c) Vorliegen der Ausnahme

166

Die Voraussetzungen für diese Ausnahme von Art. 6 Brüssel IIa-VO liegen vor: Hätten die Ehegatten wie im Ausgangsfall eine gemeinsame italienische Staatsangehörigkeit, so ergäbe sich aus Art. 3 Abs. 1 lit. b Brüssel IIa-VO die internationale Zuständigkeit italienischer Gerichte. Mangels gemeinsamer Staatsangehörigkeit in der Abwandlung 1 führen hingegen alle Zuständigkeitsanknüpfungen des Art. 3 Abs. 1 lit. a Brüssel IIa-VO in einen Staat, in dem beide oder ein Ehegatte gewöhnlichen Aufenthalt haben oder während der Ehe hatten. Alle Varianten weisen damit in die Schweiz, die kein Mitgliedstaat ist und daher auch nicht nach der Brüssel IIa-VO zuständig sein kann.

d) Internationale Zuständigkeit nach § 98 FamFG

167

Folgt man der hM im Schrifttum, so ist damit vorliegend Art. 6 Brüssel IIa-VO verdrängt und der Rückgriff auf § 98 Abs. 1 Nr 1 FamFG möglich. Deutsche Gerichte sind zuständig, weil Frieda Deutsche ist.

2. Örtliche Zuständigkeit

168

Friedas Anwalt wird also Scheidungsantrag bei einem örtlich zuständigen deutschen Familiengericht stellen. Die örtliche Zuständigkeit ergibt sich aus § 122 Nr 6 FamFG, da kein Ehegatte im Inland gewöhnlichen Aufenthalt hat. Zuständig ist das AG – FamG – Schöneberg in Berlin.

3. Vorabentscheidungsersuchen zum EuGH

169

Fraglich ist, ob das AG Schöneberg die Auslegungsfrage zu Art. 6, 7 Brüssel IIa-VO nachhaltig klären kann.

a) Kein Vorlagezwang

170

Das Gericht kann sich auf den Standpunkt stellen, die Auslegung des Art. 7 Brüssel IIa-VO sei zweifelsfrei, die Bestimmung verdränge auch Art. 6 Brüssel IIa-VO und kann dann im Sinn der hM entscheiden.

 

b) Vorabentscheidungsersuchen bei Zweifel

171

Da der herrschend vertretenen Auslegung freilich partiell widersprechende Wortlaute von Art. 6 und Art. 7 Brüssel IIa-VO zugrunde liegen, ist ein fakultatives Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH (Art. 267 Abs. 1 lit. b, Abs. 2 AEUV) zu erwägen. Erst recht wäre ein solches Verfahren zu erwägen, wenn das Gericht sich gegen die hM stellen will, weil das Argument, die Auslegungsfrage sei klar, dann kaum verfängt.

c) Vorlagebefugnis

172

Hierzu müsste das Gericht vorlagebefugt sein. Für die EG-/EU-Verordnungen zum Internationalen Verfahrensrecht gelten, anders als für das frühere EuGVÜ, die Rechtsbehelfe des Europarechts unmittelbar. Art. 267 AEUV ist also anwendbar.

Eine Einschränkung der Vorlagebefugnis, wie sie Art. 68 EGV für die auf Art. 65 ff EGV gestützten Rechtsakte vorsah, enthält der AEUV (seit der Fassung von Lissabon) nicht mehr. Das FamG, gegen dessen Entscheidung immer die Beschwerde (§ 58 Abs. 1 FamFG) stattfindet, ist allerdings nicht verpflichtet, die Frage dem EuGH vorzulegen; eine Verpflichtung besteht nur für Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit innerstaatlichen Rechtsmitteln anfechtbar sind (Art. 267 Abs. 3 AEUV).