Schweizer Heldengeschichten - und was dahintersteckt

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Schweizer Heldengeschichten - und was dahintersteckt
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Inhalt

Einleitung

Zur Einführung: Grundlinien der Geschichtsschreibung über die Schweiz

1 Der Bund von 1291

2 Wilhelm Tell

3 Die Erbfeindschaft der österreichischen Vögte

4 Ein einzig Volk von Brüdern

5 Die faktische und die juristische Unabhängigkeit

6 Neutral seit Marignano

7 Ein Volk in Waffen

8 Die schreckliche Franzosenzeit

9 Die verleugnete Revolution

10 Willensnation

11 Direkte Demokratie

12 Die humanitäre Tradition

13 Stachelschwein im Réduit

14 Schweizerische Freiheit

15 Die Schweiz – ein Sonderfall?

Ausblick

Anmerkungen

Bibliografie

Zeittafel Schweizer Geschichte

Namens- und Ortsregister

Einleitung

Beinahe jedes Interview, in dem ich zur schweizerischen Geschichte befragt wurde und werde, spricht schweizerische Geschichtsmythen und ihre anhaltende Wirkung an. Und beinahe jeden Artikel, den ich zu diesem Themenfeld in schweizerischen Printmedien veröffentliche, illustrieren die Redaktoren (und nun auch die Verleger des vorliegenden Buches) mit irgendeinem Kupferstich des Bundesschwurs oder mit einer Fotografie aus dem Zweiten Weltkrieg. Das sagt einiges aus über das Geschichtsbild heutiger Journalisten. Vermutlich liegen sie nicht ganz falsch, wenn sie auch den meisten ihrer Kunden unterstellen, dass diese die schweizerische Geschichte auf zwei Phasen des heldenhaften Widerstands gegen ausländische Bösewichte reduzieren: die habsburgischen Vögte im glorreichen Mittelalter, die Nazischergen im totalitären Zeitalter. Das populäre geschichtliche Selbstbild beruht nicht zuletzt darauf, dass der Rest der eigenen Geschichte unbekannt ist. Um schweizerische Geschichte(n) korrekt zu vermitteln, muss man deshalb nicht nur die genannten Feindbilder hinterfragen, sondern auch die (Wissens-)Lücken zwischen diesen Phasen füllen. Deshalb sieht sich für diese Aufgabe vor allem der Historiker der Frühen Neuzeit gefordert.1

Muss er zugleich Mythen stürmen? Wer Schweizergeschichte verkaufen will, ob Redaktor oder Verleger, der liebt die Gegenüberstellung von althergebrachten Mythen und fortschrittlicher Aufklärung darüber, was wirklich dahinterstecke. Diese Konfrontierung ist auch nötig, und ihr widmet sich dieses Büchlein unter anderem. Dennoch behagt mir das abgedroschene Reden vom «Mythos» und seiner «Entlarvung» nicht. Der umgangssprachliche Wortgebrauch suggeriert ein allzu enges, abwertendes Verständnis von Mythos: falsche, unreflektierte und überlebte Vorstellungen, die es zu überwinden gilt. Mythen eröffnen jedoch zum einen gerade in ihrem langsamen Wandel Zugänge zur Gedankenwelt und zur Geschichtskultur der Vergangenheit – allerdings nicht der Epoche, über die sie erzählen, sondern der Zeiten, in denen sie erzählt wurden. Zum anderen drücken mythische Erzählungen das historische Selbstbewusstsein einer (politischen) Gemeinschaft aus und sind insofern unverzichtbar und unersetzlich. Darin stimme ich gerne Peter von Matt zu: «Die Vorstellung, man könne ohne mythische Erzählungen, Bilder und Zeichen leben, ist eine Täuschung, sowohl für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Sie beruht auf einem seinerseits mythischen Begriff von Wissenschaft.»2 Diese Vorstellung verkennt auch, dass Halbwissen und Fehleinschätzungen, die zu eingängigen Deutungsmustern gerinnen, eine unvermeidliche Realität darstellen. Solche «Komplexitätsreduktionen» erfolgen gerade in den hochdifferenzierten und unüberschaubaren modernen Gesellschaften. Diese wollen ihr Schicksal nicht einer kleinen Zahl von Fachleuten überantworten, sondern demokratisch selbst darüber bestimmen. Es sind keine gründlichen Physikkenntnisse gefordert, um sich eine Meinung darüber zu bilden, ob Atomkraftwerke wünschenswert sind oder nicht, und diese Überzeugung im politischen Prozess zu vertreten.

So wenig ein Studium der Physik für die politische Teilhabe Voraussetzung ist, so wenig ist es eine professionelle Ausbildung in den Geschichtswissenschaften. Gemeinsame Bilder von der Herkunft und Vergangenheit, auch mythische, tragen aber dazu bei, dass eine politische Werte- und Solidargemeinschaft sich immer wieder neu begründet. Wer sich über eine gemeinsame Vergangenheit mit einer Gruppe Mitmenschen, mit Mitbürgerinnen und Mitbürgern verbunden fühlt, für den reicht es, wenn vereinfachende und identitätsstiftende Kontinuitäten die Brücke dorthin schlagen. Zu solchen gemeinschaftsbegründenden Erzählungen tragen viele Menschen bei und zumeist durchaus kontrovers: Zeitzeugen und solche, die es vermeintlich waren; Schullehrer und Journalisten; Politiker, manchmal auch Richter, die über die Leugnung von Menschenrechtsverbrechen urteilen; Leserbriefschreiber und Verfasser von Dreh- und Schulbüchern, Schautafeln und Museumskatalogen. Beim Prozess der kollektiven Sinnstiftung ist der wissenschaftlich ausgebildete Geschichtsforscher nur ein Akteur unter vielen. Der wichtigste ist er höchstens insofern, als er gegen andere Positionen nicht bloss seine Meinung formuliert, sondern Resultate, die auf systematischem Weg durch die Auswertung möglichst umfassender Quellenbestände gewonnen wurden und einen – stets vorläufigen – Forschungsstand unter den Fachleuten repräsentieren. An diesen Forschungsergebnissen kann der Historiker die vielen Meinungen und Wissensbrocken messen, die seine Zeitgenossen sich deutlich leichter aneignen und zu Kausalitäten verbinden können als die Prozesse bei der Kernspaltung. Orientieren muss er sich dabei an den methodischen Standards, etwa der Quellenkritik, wie sie in einer internationalen Gemeinschaft von Fachleuten gelten; und nicht an den Erwartungen seiner Landsleute, die ihre einfachen und eingängigen Erzählungen – eben die Mythen – jeweils selbst im öffentlichen Streitgespräch ausbilden und anpassen müssen.

Hier fällt dem Historiker eine Aufgabe zu, die der Identitäts- und Sinnstiftung oft zuwiderlaufen kann: Er kritisiert Überlieferungen, die vertraut sind, einen erkennbaren Bogen in die Vergangenheit schlagen und damit Sicherheiten bei der Gestaltung der Zukunft versprechen. Volkstümliche Geschichtserzählungen, «Geschichtsmythen», greifen auf Wissensbestände zurück, die als plausibel und bewährt gelten. Andernfalls vermöchten sie nicht auf Dauer Orientierung zu schaffen und ein kollektives Selbstverständnis auszudrücken. Dafür beschränken sie sich in der grossen Menge des Überlieferten gezielt auf einige historische Phänomene, betonen die einen Aspekte, drängen andere in den Hintergrund oder vergessen sie. Denn es soll weniger der Wandel einer Gemeinschaft analysiert als ihr Wesen erzählt werden. Geschichtsmythen sind letztlich unhistorisch, insofern sie Begebenheiten wiederholen und vergegenwärtigen, die in der Vergangenheit spielen, aber jenseits ihres historischen Kontextes zeitlose Gültigkeit beanspruchen. Darin ist ein Geschichtsmythos konservativ, auch dann, wenn er im Namen einer «progressiven» Partei formuliert wird: Er schreibt die Vergangenheit so fest, dass ihre Erzählung weder modifiziert werden soll noch kann.

Das Selbstbild, das sich aus diesem selektiven Umgang mit der Vergangenheit ergibt, ist tendenziell gefällig. Es muss dies auch sein, weil Selbstbewusstsein bei Kollektiven wie bei Individuen auch darauf beruht, dass man eigene Schwächen nicht gegen aussen betont, sofern man sie überhaupt selbst zu erkennen vermag. Doch das Ausblenden schafft diese Mängel nicht aus der Welt. Gerade deshalb brauchen Mythen auch eine kritische Geschichtswissenschaft als Korrektiv, das aufzeigt, was verdrängt wurde oder nicht mehr zeitgemäss ist, was den Aussenstehenden nicht mehr überzeugt und höchstens in der Nabelschau plausibel wirkt. Wirklich selbstbewusst und für andere berechenbar ist nur, wer Selbst- und Aussenwahrnehmung in eine solide Beziehung zueinander zu bringen weiss. Auch das gilt für die Individualpsychologie ebenso wie für diejenige der Völker.

 

Die Pose des wissenschaftlichen Aufklärers ist gleichwohl heikel, wenn er vorgibt, dem abergläubischen und ungebildeten Publikum die historische Wahrheit zu verkünden. Geschichtsdeutungen und Geschichtsbilder sind immer im Fluss. Das weiss niemand besser als der Historiker, der sich auch für die Geschichte seiner Disziplin interessiert und bedenkt, wie sich in ihr Interpretationen und Wertungen über die Zeit hinweg verändert haben und verändern. Das ist unvermeidlich, weil sich die Fragestellungen, die Orientierungsbedürfnisse, die Wissensbestände und die Perspektiven stets ändern und nur aus der jeweiligen Gegenwart heraus zu verstehen sind. Das heisst allerdings nicht, dass Historiker beliebige Aussagen über die Vergangenheit machen können. Sie brauchen Phantasie, um sich vergangene Vielfalt auszumalen, haben aber dabei nicht die Freiheit des Schriftstellers – oder Politikers. Ihre Resultate müssen aus methodisch durchdachter, kritischer und für Dritte überprüfbarer Forschungsarbeit hervorgehen und sich unter anderem dem «Vetorecht der Quellen» unterwerfen, wie Reinhart Koselleck es genannt hat. «Quellen schützen uns vor Irrtümern, nicht aber sagen sie uns, was wir sagen sollen.»3

Was gegenwärtig positiv, konstruierend gesagt werden kann, nennt man den wissenschaftlichen Forschungsstand: Er ist nicht endgültig und wird durch künftige Forschungen und Erkenntnisse revidiert werden. Der historiografische «Fortschritt», vielleicht besser das Voranschreiten besteht darin, dass der Geschichtswissenschaftler den jeweiligen Forschungsstand methodisch sauber kritisiert und stellenweise überwindet, weil er neue Quellen entdeckt oder alte überprüft, hinterfragt und in andere Zusammenhänge bringt. Diese Unterwerfung unter Quellen und Forschungsstand gilt für Wissenschaftler, nicht aber für diejenigen, die sich in der politischen Auseinandersetzung um die Zukunft ihres Landes auf historische Präzedenzfälle berufen und die Vergangenheit als Lehrerin für die Zukunft verstanden haben wollen. Es ist im Kampf um Macht und Wähleranteile legitim, wenn sie dabei veraltete Forschungsstände (über die vaterländische Geschichte wie über Atomenergie und vieles andere) für ihre Anliegen nutzen. Es ist aber ebenso legitim und manchmal auch nötig, dass ein Wissenschaftler die politische und volkstümliche Deutung der Geschichte mit dem aktuellen Wissensstand unter Fachleuten vergleicht und das Ergebnis der interessierten Öffentlichkeit mitteilt. Damit prägt er keine Geschichtsbilder, trägt aber zu deren Diskussion das bei, was er von Berufs wegen kann. Das ist letztlich eine negative, dekonstruierende Tätigkeit: Der Historiker sagt, was an den jeweils landläufigen «Wahrheiten» und Aussagen über die Geschichte mit den überlieferten Quellen übereinstimmt und was nicht. Es ist keine positive, konstruierende Tätigkeit deshalb, weil der Historiker die sinnstiftenden Verkürzungen von Berufs wegen nicht vornehmen darf, die nötig sind, damit Geschichtserzählungen für Kollektive sinnstiftend wirken können. Ebenso wenig darf er den Forschungsstand zugunsten von älterer Sekundärliteratur einfach ignorieren. Seine dicken, mit zahlreichen Fussnoten versehenen Abhandlungen sind etwas ganz anderes als die aus der Vergangenheit gezogenen Argumente, die sich Politiker und Journalisten in Sekundenschnelle in einer Talkshow entgegenwerfen können. Diese Argumente, diese Verkürzungen der wissenschaftlichen Kritik auf Allgemeinplätze darüber, wie es bekanntlich gewesen sei – sie sind der Stoff, aus dem der sinnstiftende Mythos wächst und in dem er sich verzehrt. Auch er wird laufend neu formuliert. Das muss so sein, wenn er einer sich stets verändernden Gesellschaft Spielräume eröffnen und nicht verbauen soll im Umgang mit Aussenwelten, die ebenfalls dem dauernden Wandel unterworfen sind. Aber ohne mythische Verkürzungen des Forschungsstandes geht es auf Dauer nicht – für die Geschichtswissenschaft zwar schon, nicht aber für das nach historischer Orientierung suchende Publikum.

In diesem Sinn will das vorliegende Buch Zugänge und Leseweisen der schweizerischen Vergangenheit erschliessen, die sich nicht einem einzigen, geradlinigen nationalgeschichtlichen Narrativ unterordnen. Damit reagiert dieser Text auf die geschickte und sehr erfolgreiche Erinnerungspolitik der schweizerischen Nationalkonservativen in den letzten rund 25 Jahren. Diese verteidigen überzeugt und vehement ein Geschichtsbild, das in der Geistigen Landesverteidigung während des Zweiten Weltkriegs und im Kalten Krieg bis weit in die politische Linke hinein konsensfähig war. Demnach wahrte die Schweiz als historischer Sonderfall in einer feindlichen Umwelt dank besonderen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Qualitäten ihre einzigartigen Freiheiten. Ihre Erfolgsgeschichte verdanke sie allein ihren eigenen Leistungen, da das Land in der Vergangenheit und vor allem im Zeitalter der Weltkriege im Wesentlichen die richtigen und guten Entscheidungen getroffen habe. Diese Selbstzufriedenheit erlaubt sich, ihrerseits ohne historische Tiefendimension, die Friedensordnung geringzuschätzen, welche die europäische Integration seit 1945 und nach 1989 hervorgebracht hat.

Die Nationalkonservativen tragen diese Position in Diskussionen über die nationale Vergangenheit derart dominant vor, dass die anderen politischen Lager hinterherhinkend wenig mehr anbieten als die Imitation patriotischer Folklore bei den bürgerlichen Parteien oder die linke Verweigerung des Streitgesprächs bei den Themen, die als solides Fundament des rechtspopulistischen Bollwerks erscheinen. Diese Hilflosigkeit überrascht immer wieder. Sie findet ihren Niederschlag in Motiven und Narrationen etwa von Fernsehfilmen und Zeitungsartikeln oder auf mehrsprachigen Informationsseiten des Bundes im Internet. Dabei kann es sich bei den Verfassern durchaus um Personen handeln, die sich politisch gar nicht zum rechtsbürgerlichen Lager zählen. Ihre Erzählmodelle aber konstruieren sie aus älteren Lesefrüchten oder gar Schulerinnerungen, und das sind die Fundamente der nationalkonservativen Vergangenheitspolitik.

Bürgerliche Imitation wie linke Verweigerung und auch hilf- wie gedankenlose Wiederholung bestätigen die Unterstellung der Nationalkonservativen, dass es nur eine Deutung der schweizerischen Vergangenheit gebe, nämlich die ihrige, und dass die Zukunft des Landes den bewährten Pfaden der Vergangenheit zu folgen habe. Wer diesen Vorgaben folgt, verliert den Sinn für Alternativen und Widersprüche, verhindert demokratische Streitgespräche und kontroverse Meinungsbildung, verbaut sich Handlungsoptionen und Gestaltungschancen. Dieses Büchlein möge dieser Entwicklung entgegenwirken und denen als Handreichung dienen, die Argumente auf dem heutigen geschichtswissenschaftlichen Kenntnisstand im politischen Streitgespräch einbringen wollen. Dieser ist aktuell ausserordentlich gut dokumentiert: 2014 ist der letzte, dreizehnte Band des dreisprachigen Historischen Lexikons der Schweiz erschienen, dessen Artikel auch kostenfrei im Internet konsultiert werden können (www.hls-dhs-dss.ch). Die Bibliografie am Ende dieses Buches enthält grundlegende und weiterführende Literatur, die in den Anmerkungen abgekürzt zitiert wird. Einschlägige Einzelstudien, die in der Regel nur einmal in den Endnoten auftauchen, sind dagegen dort vollständig bibliografisch verzeichnet.

In den folgenden fünfzehn Kapiteln werden ausgehend von Zitaten der nationalkonservativen Gallionsfiguren Christoph Blocher und Ueli Maurer Gemeinplätze über die Vergangenheit und historisch begründete Schlagworte der politischen Auseinandersetzung präsentiert und geprüft, wie weit sie mit der Überlieferung der Quellen und dem Forschungsstand übereinstimmen.4 Der einleitende historiografische Überblick ordnet die wichtigsten Autoren in die Entstehung und den Wandel von nationalen Geschichtsbildern ein, doch lassen sich die Kapitel auch einzeln lesen. Gelegentliche Wiederholungen sind auch deswegen unvermeidlich, weil bestimmte Werke oder Deutungen in unterschiedlichen Zusammenhängen wichtig waren.

Diese Ausführungen widme ich unseren Kindern Lucas, Valentin, Patricia und Anna zum Trost dafür, dass ich hiermit den Zahlencode der Schlösser preisgebe, mit dem sie ihre Fahrräder sichern: 1291. Diese Jahreszahl symbolisiert den echten, aber unaufgeregten Patriotismus von Auslandschweizern ebenso wie ihren debattierfreudigen, aber nicht verbissenen Widerspruchsgeist in vielen Diskussionen, die sie nicht nur zu historischen Themen mit ihrem Vater führen, dem sie zwar glauben, aber auch etwas übelnehmen, dass es Tell und Rütlischwur nie gegeben hat. Erlebt und erlesen haben sie beides dank ihren deutschen Lehrern in Heidelberg und einem tschechischen Regisseur in Zürich, die ihnen das facettenreiche Drama des deutschen Schriftstellers Friedrich Schiller nicht in nationaler Verengung, sondern als universales Erbe präsentierten. Dazu fügt sich gut der Dank an meine Frau Martina Bächli Maissen, meine Mutter Leena Maissen-Visapää und an meine Heidelberger und Pariser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Felicitas Eichhorn, Anna Frahm und Johan Lange, deren präzise Lektüre diesen Text bereinigte; an Guy P. Marchal für wertvolle Hinweise; an Franz Brunner, einen anregenden Sparringpartner, auch wenn er sich einen theatralischeren Text gewünscht hätte; an den sorgfältigen Lektor Urs Hofmann und die anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vom Verlag Hier und Jetzt in Baden, mit denen ich einmal mehr angeregt und ertragreich zusammenarbeiten durfte.

Zur Einführung:
Grundlinien der Geschichtsschreibung über die Schweiz

Viele Geschichten der Schweiz fangen mit der Ur- und Frühgeschichte an, mit den ersten Faustkeilen, die auf heutzutage schweizerischem Territorium gefunden wurden. Geschichtsschreibung über die Schweiz ist etwas anderes, und sie setzt auch nicht mit Julius Caesars Bericht über die Helvetier und seinen Sieg bei Bibracte ein. Selbst Urkunden, die uns viel über Machtverhältnisse und Gesellschaften im Mittelalter lehren, sind keine Quellen der Schweizer Geschichte im eigentlichen Sinn. Gewiss erfahren wir in mittelalterlichen Chroniken gelegentlich etwas über eine Stadt wie Zürich, oder Annalen verzeichnen die Begebenheiten in einem Kloster wie St. Gallen. Doch erst wer die Eidgenossenschaft und die Eidgenossen bewusst zu einem Gegenstand seiner Erzählung macht, kann zu den Begründern einer Geschichtsschreibung über die Schweiz zählen.5

Nicht die ältesten Bünde selbst, etwa der vielzitierte von 1291, sind also die ersten Belege für eine schweizerische Geschichte, wohl aber die ersten Berichte, die solche Bündnisse als kollektive Akteure erfassen. Das zu bedenken ist auch deshalb wichtig, weil es im Heiligen Römischen Reich des 13. und 14. Jahrhunderts nicht nur viele Bündnisse und Eidgenossenschaften gab, sondern die späteren schweizerischen Orte auch an vielen von diesen beteiligt waren. So gehörten die Städte des Mittellandes von Freiburg bis St. Gallen mit Basel, Breisach, Villingen und Ensisheim 1333 zu einem Landfriedensbündnis mit den Herzögen von Habsburg. Noch 1424 bezeichnete Bern den Herzog von Savoyen als «unsern genedigen Herren und liebsten eitgenossen», was eben bedeutete, dass sie ein Bündnis mit einem Eid beschworen hatten.6 Das passt nicht in die spätere Erzählung, wonach die Eidgenossenschaft aus einer «Urschweiz» am Vierwaldstättersee und im Kampf gegen die österreichischen Vögte erwachsen sei. Deshalb erinnert sich niemand mehr an solche Bündnisse, die für die damaligen Zeitgenossen im Gebiet der heutigen Schweiz viel wichtiger und präsenter waren als die regionalen von 1291 und 1315. Aber auch sie waren nicht entscheidend für die Autonomie, die Herrschaftsrechte und das entstehende politische Selbstverständnis der künftigen eidgenössischen Orte. Diese lagen nicht in Bündnissen begründet, sondern in der Reichsfreiheit. Die Könige beziehungsweise Kaiser stellten dieses Privileg aus und erneuerten es bei Herrschaftsantritt. Damit wurden die begünstigten Orte reichsunmittelbar, unterstanden also dem Kaiser direkt und übten die von ihm gewährten Hoheitsrechte autonom aus, vor allem die hohe Gerichtsbarkeit über Leben und Tod.

Uri, Schwyz und Unterwalden beanspruchten diese Reichsfreiheit dank den sogenannten Königsbriefen. Das früheste dieser Privilegien, das erhalten ist, wurde 1240 für Schwyz ausgestellt. Die meisten Königsbriefe stammen aus dem frühen 14. Jahrhundert, wobei etliche auch Fälschungen sein dürften, die nicht zuletzt Aegidius Tschudi (1505– 1572) zuzuschreiben sind, dem wichtigsten Chronisten der Schweiz. Angesichts dieser Ausrichtung auf das Heilige Römische Reich überrascht es nicht, dass Uri, Schwyz und Unterwalden 1309 unter einem Reichsvogt – dem Baselbieter Grafen Werner von Homberg, kein Habsburger! – vereint wurden und dann erstmals den gemeinsamen Namen Waldstätte erhielten. Der Reichsvogt ist nicht lange belegt, aber es gibt keinen Hinweis darauf, dass sich die Innerschweizer gewaltsam seiner entledigten: Werner von Homberg kämpfte 1315 bei Morgarten möglicherweise sogar auf Schwyzer Seite.7 Allerdings wissen wir über diese Jahre fast nichts. Erst in den 1340er-Jahren fügte der Zisterzienser Johannes von Viktring in seine lateinische Weltchronik die erste Beschreibung der Schlacht bei Morgarten – vier Sätze, die der Kärntner fast dreissig Jahre nach dem Ereignis formulierte. Ausführlicher tat dies etwa zur selben Zeit der Barfüssermönch Johannes von Winterthur, dessen Vater die Schlacht auf Habsburger Seite überlebt hatte. Doch für deren Beschreibung, gerade auch der Örtlichkeiten, folgte Johannes dem alttestamentlichen Bericht über den Kampf der Israeliten gegen Holofernes (Judith, Kap. 4).8 Beide Kleriker sprachen allein von «Swicenses» oder «Switenses», also Einwohnern von Schwyz.9 Ihre Informationen sind so vage, dass bis heute über den Ort der Schlacht gerätselt und – zwischen Zug und Schwyz – gestritten wird. Über dieses später oft geschilderte Ereignis ist kaum mehr bekannt, als dass es stattgefunden hat und dann alttestamentlich stilisiert wurde. Die Chronisten erwähnten auch keine Verbündeten oder gar «Eitgenozen», obwohl die Waldstätte sich im Bund von Brunnen 1315 bereits untereinander so nannten – aber wie erwähnt noch nicht in einem exklusiven Sinn. Eine territoriale Bedeutung, die den Geltungsbereich der versprochenen Hilfeleistungen absteckte, erhielt das Wort «unser eidgnosschaft» erstmals 1351 im Bund von Zürich mit den drei Waldstätten und Luzern.10 Dieses vorübergehende Bündnis wurde geschlossen, als Zürich sich unter Rudolf Brun, seinem Herrscher auf Lebenszeit, gegen eine konkurrierende, von den Habsburgern gestützte Patriziergruppe behaupten musste. Im Rückblick wurde seit dem 15. Jahrhundert daraus der «Beitritt» Zürichs zur Eidgenossenschaft, obwohl die zeitgenössischen Stadtchroniken den Bund von 1351 nicht einmal erwähnten.11

 

Die älteste Stadtchronik von Zürich stammt frühestens von 1339, wenn man von den lokalgeschichtlichen Einsprengseln in einer lateinischen Chronica universalis Turicensis absieht. Im Unterschied zu dieser beschränkte sich die sogenannte Chronik von den Anfängen der Stadt Zürich allein auf die Stadtgeschichte, die sie auf Deutsch erzählte. In verschiedenen Redaktionen überliefert, wurde sie auch in anderen eidgenössischen Orten rezipiert. Die etwa gleichzeitig, bis 1340 verfasste Chronica de Berno und andere Beispiele aus Deutschland zeigen ebenfalls, dass die Reichsstädte im 14. Jahrhundert dank wirtschaftlicher Prosperität und politischer Autonomie begannen, sich als Gemeinschaften mit einer eigenen Vergangenheit darzustellen, die sich nicht in der Zugehörigkeit zum Heiligen Römischen Reich und seinen Kaisern erschöpfte. In einer vom Adel dominierten Kultur war es besonders wichtig, frühe Anfänge und damit eine vornehme Abkunft zu behaupten: Trier etwa wollte 1250 Jahre vor Rom durch einen Sohn der Semiramis gegründet worden sein, und Solothurn kuppelte seine Anfänge später an diese Sage an.12 Geschichtsschreibung entfaltete sich damit im 15. Jahrhundert auch im eidgenössischen Umfeld zu einer «Staatsangelegenheit», wobei der Staat die jeweilige Stadt war, die ihre Geschichte im offiziellen Auftrag von Stadtschreibern verfassen liess. Nicht zuletzt sollte die Erzählung die kriegerischen und käuflichen Erwerbungen von Gütern und Rechtstiteln legitimieren, die sie schilderte. Entsprechend gehörten Sammlungen und Abschriften von Urkunden zu diesen Geschichtswerken oder standen vielmehr in ihrem Mittelpunkt.13 So sucht man in Luzern und der Innerschweiz vergebens nach einigermassen zeitnahen Beschreibungen der Schlacht von Sempach von 1386. Ein Luzerner Bürgerbuch erwähnte sie kurz, wendete aber viel mehr Raum und Herzblut auf, um ein Jahr davor die Einrichtung einer Turmuhr festzuhalten. Das wenige, was Zeitgenossen über den Waffengang berichteten, stammt aus einer Zürcher und zwei österreichischen Quellen. Das viele, was man sich später darüber erzählte, ersann man sich frühestens ein Jahrhundert nach dem Ereignis.14

Ebenfalls erst im 15. Jahrhundert sind Autoren von amtlichen Stadtgeschichten namentlich fassbar, zumeist der Stadtschreiber, der über seine Chronik den Aufstieg in die Führungsgruppen suchte – zumal wenn er von auswärts kam. Der wohl aus Rottweil stammende Conrad Justinger machte den Anfang, nachdem Bern ihm 1420 den Auftrag erteilt hatte, die Geschichte der Stadt von ihrer Gründung bis in die Gegenwart aufzuzeichnen. Justinger konzentrierte sich vorwiegend auf Berner Ereignisse, für die er neben städtischen Urkunden Geschichtswerke wie die Cronica de Berno auswertete. Umso mehr fällt auf, dass er die Schlacht bei Morgarten beschrieb und damit historiografisch einen Bogen von der Reichsstadt zu den Innerschweizern schlug, die zu diesem Zeitpunkt selbst noch gar nichts zu diesem Thema verfasst hatten. Auch die bereits bestehende Zürcher Chronistik fand Verwendung. Justinger und Bern ging es darum, eine rechtlich umstrittene Tat zu legitimieren, die in seiner Chronik viel Platz einnimmt: die Eroberung des Aargaus, den die Berner mit den Zürchern und den Innerschweizer Verbündeten 1415 den Habsburgern abgenommen hatten. Indem Justinger die Alliierten von Bern vorstellte und über ihre lang anhaltenden Differenzen mit den Habsburgern berichtete, rechtfertigte er die Aggression historisch, die den erst 1412 geschlossenen, fünfzigjährigen Frieden mit Habsburg brach. König Sigismunds Aufforderung, den Aargau zu besetzen, lieferte die rechtliche Legitimation dazu. Auch wenn Justinger diese «guten Fründe» als «Eidgenossen» bezeichnet, bedeutet das noch nicht viel, denn derselbe Titel findet sich auch für andere Alliierte wie Strassburg und weitere Reichsstädte.15

Man kann also festhalten, dass in der Mitte des 15. Jahrhunderts der Zusammenhalt der künftigen Eidgenossen noch locker war. Auf der einen Seite gab es die gemeinsamen Interessen durch die Gemeine Herrschaft und damit gegen die Habsburger, die ihre aargauischen Stammlande zurückerlangen wollten; auf der anderen Seite blieben dieselben Habsburger auch mögliche Partner, denn die Bundesbriefe des 14. Jahrhunderts gewährten den eidgenössischen Orten Bündnisfreiheit. Davon machte die Reichsstadt Zürich 1442 Gebrauch, als sie sich im Alten Zürichkrieg «ze ewiger zit» mit dem habsburgischen König Friedrich III. verband. Ihnen gegenüber stand Schwyz, dem sich die anderen eidgenössischen Orte anschlossen, sodass Zürich 1450 in einen Frieden einwilligen musste. Die alten Bundesbriefe, so derjenige von 1351 zwischen den Waldstätten und Zürich, wurden daraufhin leicht redigiert und neu ausgestellt, um den Eindruck zu erwecken, die Allianzen seien schon im 14. Jahrhundert gegen Habsburg gerichtet gewesen.

Die Mitte des 15. Jahrhunderts wurde auch für die Geschichtsschreibung über die Schweiz insofern eine folgenreiche Zäsur, als sich die Schwyzer Sicht auf den Alten Zürichkrieg durchsetzte, wie sie deren Landschreiber Hans Fründ in einer genauen, mit Dokumenten versehenen Schilderung des Kriegs festhielt. Für ihn war die Eidgenossenschaft aus einem antihabsburgischen Bündnis der Waldstätte erwachsen. Wie die anderen Orte auch, habe sich das bedrohte Zürich den Eidgenossen angeschlossen, um sich dann durch das Bündnis von 1442 mit dem Habsburger König vorübergehend bündniswidrig wieder zu entziehen. Dass dies eine rechtmässige Option war, hatten Zürcher wie Felix Hemmerli für den Alten Zürichkrieg durchaus festgehalten. Wie Bern sich aber politisch hinter Schwyz gestellt hatte, so ging Fründs antihabsburgische und antizürcherische Geschichtsdeutung auch in die Historiografie der Aarestadt ein. Dort setzten die Bilderchroniken eines Benedikt Tschachtlan oder Diebold Schilling des Älteren, mit seiner amtlichen Chronik der Stadt Bern von 1483, Justingers Werk und Tradition fort.16 Diese Modelle wirkten ihrerseits wiederum formal wie inhaltlich auf Chronisten in Luzern (Melchior Russ, 1482; Diebold Schilling der Jüngere, 1513), Freiburg, Bremgarten und sogar Zürich (Gerold Edlibach, 1485/86, bis 1527 fortgesetzt), wo sie die entstehenden gesamteidgenössischen Grundelemente um lokale Fakten erweiterten. Insbesondere schlossen sich Aegidius Tschudi im 16. Jahrhundert und Johannes von Müller im 18. Jahrhundert dieser Version an, die bis in unsere Gegenwart weiterwirkt. Fründ verdrängte mit Hemmerli auch dessen Polemik, welche die vornehme Reichsstadt Zürich klar von den schwyzerischen Bauern schied. Insofern überrascht es nicht, dass der Name «Schwyzer» und dann «Schweizer» auf alle Angehörigen dieses Bündnisses Ausdehnung fand, das sich nach 1450 zusehends als alternativlos verstand; und damit stempelten die Gegner der Eidgenossen bald auch die urbanen Zürcher und Berner als «Bauern» ab.17

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