Hekate

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Thomas Lautwein

Hekate

Die dunkle Göttin

Geschichte & Gegenwart


Erste Digitale Auflage 2012

Digitale Veröffentlichung: Zeilenwert GmbH

Copyright © 2009 by Edition Roter Drache.

Edition Roter Drache, Holger Kliemannel, Postfach 10 01 47,

D-07391 Rudolstadt.

edition@roterdrache.org; www.roterdrache.org

Buch- und Umschlaggestaltung: Edition Roter Drache.

Lektorat: Sabine Möbius.

© Bild Seite 365 by Voenix.

Alle Bilder stammen aus dem Archiv des Autors und des Verlags. Der Verlag hat sich bemüht, sämtliche Inhaber der Bildrechte zu ermitteln. Sollte dem Verlag gegenüber dennoch nachgewiesen werden, dass eine Rechtsinhaberschaft besteht, entrichten wir das branchenübliche Honorar nachträglich.

Gesamtherstellung: Bexx GmbH, Neuweiler.

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN: 9783944180007

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Einleitung

Wir stehen an einer Wegkreuzung

Die Realität der Götter

C. G. Jung: Das „kollektive Unbewusste“ und die „psychischen Teilsysteme“

Exkurs zum buddhistischen Weltbild

Die vier Gesichter der Göttin

Die Religion der Steinzeit

Erde, Unterwelt, Geisterwelt

Das Material: die antike Literatur

Teil I

Hekate in archaischer Zeit

Herkunft und Erscheinung

Kleinasiatische Sonnengöttinnen

Die Karer

Der Tempel in Lagina

Trimorphos - Das Rätsel der drei Gestalten

Frühe literarische Zeugnisse

Der Hekate-Hymnus in Hesiods „Theogonie“

Der eleusinische Demeter-Hymnus

Teil II

Hekate in der klassischen Literatur

Hekate in Athen

Hekate in der griechischen Tragödie

Die Hekatesien – Dunkelmond-Opfer am Kreuzweg

Kirke und Medea – die Hexen der Hekate

Kirke

Medea

Nekromantie und Unterweltreisen

Teil III

Hekate in der Spätantike

A) Griechische Zauberpapyri aus Ägypten:

Die Papyri Graecae Magicae

Große Anrufung der Selene (PGM IV, 2786 ff.)

Symbolik und Ritual

Die goldene und eherne Sandale der Hekate

Weihung von Statuen und Talismanen

Das Mantra der Hekate

Hekate als Orakelgöttin und Traumsymbol

Die Figuren der zweiten Kreiszone (Agrell, S. 88 - 109)

Die Figuren der dritten Kreiszone

Hermes und Hekate

Hermetische Theurgie

Die Iynx

Sophron

Verfluchungen

B) Hekate in der Orphik

Der orphische Hekate-Hymnus

Das orphische Argonautenepos

C)Hekate im Mithras-Kult, in den chaldäischen Orakeln und der neuplatonischen Theurgie

Die Neuplatoniker und die chaldäischen Orakel

Teil IV

Hekate in der Renaissance

Latenz und Wiedererscheinen der Göttin in der Renaissance

Erasmus von Rotterdam und der Hexenprozess von Orléans 1501

Thomas Middleton: The Witch

Shakespeare: Schicksals-Göttinnen

Teil V

Hekate in der Moderne und Gegenwart

Hekate-Iphigenie in Gerhart Hauptmanns

Atriden-Tetralogie

Iphigenie in Aulis

Iphigenie in Delphi

Das Nachleben einer Göttin: Lady Death

Hekate in der modernen Esoterik:

Crowley und Steiner

Crowley: Dark side of the moon

Rudolf Steiner: Weltenwunder, Seelenprüfungen & Geistesoffenbarungen

Crowleys Kinder: O.T.O., T.O.T.O, Ma’at

Im Zeichen der Ma’at

Hekate-Verehrung in der Gegenwart

„Sie veränderte mein Leben“

Rituale

Anhang

Literatur

Index

Der Autor

Vorab

Einleitung
Wir stehen an einer Wegkreuzung


Es erscheint heute als möglich, wenn nicht sogar unausweichlich, dass eine weitere Ausbreitung unserer technisch-industriellen Zivilisation die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit zerstört. Seit der Jungsteinzeit hat die Menschheit versucht, die Natur durch Technik zu beherrschen und sich vor ihrer Unberechenbarkeit zu schützen. Während die Technologie ständig neue Erfolge erzielt (die es irgendwann vielleicht ermöglichen werden, den eigenen Körper beliebig zu modfizieren, das Bewusstsein in einen virtuellen Raum zu übertragen und das Weltall zu besiedeln), wächst andererseits bei vielen Menschen die Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Einheit mit der Natur – sei es einem ländlichen Leben wie vor der industriellen Revolution oder gar einer Jäger- und – Sammlerexistenz wie vor der neolithischen Revolution.

 

Die Zwiespältigkeit unserer heutigen Existenz macht sich auch sozial und ideologisch bemerkbar. Die gesellschaftliche Beziehung zwischen Mann und Frau wird neu verhandelt, wobei die seit 5000 Jahren geltende Vorrangstellung des Mannes (das Patriarchat) zunehmend in Frage gestellt wird. In Religion, Kunst und Wissenschaft sind „Frauenthemen“ in den letzten 50 Jahren vom Rand zunehmend in den Mittelpunkt gewandert, wie etwa die Diskussionen um ein ursprüngliches Matriarchat (matrizentrische Gesellschaft u. ä.) zeigen. Vor allem aber macht sich unterschwellig ein immer stärkeres Unbehagen an und in den monotheistischen (d. h. patriarchalen) Religionsformen bemerkbar. Die Formen, in denen sich heute ein neues Heidentum artikuliert, mögen oft genug unbeholfen und naiv wirken, entspringen aber offenbar dem dunklen Gefühl, dass in den letzten 2000 Jahren eine Möglichkeit religiösen und Natur-Erlebens unterdrückt, verfälscht oder verzerrt wurde, dass unserem Dasein eine Dimension fehlt, die es früher wohl einmal gegeben haben muss und nach nach der eine tiefe Sehnsucht besteht.

Mit einem Wort: Die GÖTTIN wird wieder zum Thema.

Für die Aktualität des Themas „Göttin“ gibt es ontologische und historische Gründe. Ontologie, als Analyse der menschlichen Existenz verstanden, wird uns zu der Einsicht führen, dass der Mensch nicht nur in abstrakten Begriffen denkt, sondern auch innere Bilder erlebt, die symbolische Bedeutung haben (sei es individuell oder kollektiv). Diese inneren Bilder werden von Polaritäten strukturiert, d. h. von Gegensätzen, die sich logisch gesehen zwar gegenseitig ausschließen, sich im LEBEN aber gegenseitig bedingen und ständig ineinander übergehen, wie Tag und Nacht, Licht und Schatten, Sonne und Mond. Eine der grundsätzlichen Polaritäten ist die von männlich und weiblich, die sich auf alle Lebensbereiche erstreckt. Mit Ludwig Klages können wir sie wie folgt skizzieren:

Empfängnisvermögen, unten, Ruhe, Dunkelheit, Erde, Raum, Nacht, Sterben, Zügelung, Innerung, ‚Herz’, links auf der einen Seite;

Zeugekraft, oben, Bewegung, Licht, Sonne, Zeit, Tag, Entstehen, Antrieb, Äußerung, ‚Kopf’, rechts auf der andern.1

Ursprünglich sind „männlich“ und „weiblich“ (chinesische gesproch: Yin und Yang) keine feindlichen Gegensätze, sondern sich ergänzende Pole:

Gleichgültig, ob wir unterscheidende Eigentümlichkeiten des Verhaltens im Paarungsvorgang oder sonstige Haltungsunterschiede beider Geschlechte zum Leitbild wählen, immer besteht auf männlicher Seite ein Übergewicht des Sichbewegens, Aussicherhausgehens, Kräfteverschwendens, auf weiblicher des Verharrens, Empfangens und Kräftebewahrens. Darnach entsprechen dem Männlichen: offenbarende Helle, Beweglichkeit, Schleuderkraft, aufrechte Lage, heraklitischer ‚Weg nach oben’, Gestaltung des Kommenden; dem Weiblichen: verhüllendes Dunkel, Ruhe, Ziehkraft, liegende Lage, heraklitischer ‚Weg nach unten’, Hang zum Gewesenen. Wird aber jede der beiden Seiten als Pol und nicht etwa als vereinzelbare Hälfte gefasst, so haben wir die sinnbildlich gemeinte Mannheit als durchdrungen vom Weiblichen vorzustellen, die Weiblichkeit als durchdrungen vom Männlichen. Die heute vollzogene Spaltung der Geschlechter dagegen in zwei einander bald befehdende und gebrauchende, bald leidenschaftlich suchende Parteien, ist nur die praktische Folge der nämlichen Lebenszerklüftung, (...) der Entbilderung und Atomisierung der Welt durch den rechnenden Willen zum Ausdruck kommt.2

In der Geistesgeschichte des Westens wurde das „weibliche“ Prinzip in den letzten 2500 Jahren zweifellos immer weiter zurückgedrängt, ja geradezu als Ursprung des „Bösen“ und Irrationalen verteufelt – mit fatalen Konsequenzen, die von der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frauen bis zur Naturzerstörung reichen. Im Bereich der Religion drückt sich die einseitige Dominanz des männlichen Prinzips in der Errichtung monotheistischer Strukturen mit ihren Priesterhierarchien aus.

Zweiter Grund: Seit Bachofen mehren sich die Zweifel an der naturgegebenen Vorherrschaft des Mannes. Die Erforschung unserer Ur- und Frühgeschichte lässt es zunehmend glaubhaft erscheinen, dass am Anfang der Menschheitsgeschichte eine Epoche stand, in der religiöse Funktionen überwiegend von Frauen ausgeübt wurden und die Verehrung nicht einem allmächtigen Vatergott galt, sondern einer großen Göttin, die mit der Natur in all ihren Aspekten gleichgesetzt wurde. Sie war war nicht nur die Große Mutter, in deren Händen Liebe und Geburt ruhen, sondern auch die Herrin der Dunkelheit und des Todes; sie war unten und oben, Himmel und Erde. Diese ursprüngliche Einheit wurde dann in der Jungsteinzeit und Bronzezeit aufgespalten in eine Polarität von weiblicher Erde und männlichem Himmel, bis die neuen Himmelsgötter schließlich ganz die Macht an sich rissen und die Göttinnen als Gemahlin oder Tochter von sich abhängig machten. Die Geschichte des Abendlandes lässt sich so als gigantischer Verdrängungsprozess beschreiben, an dessen Ende die Dämonisierung der Göttin als Hexe oder ihre Reduktion auf eine bloß dienende Funktion erfüllt (wie wir dies etwa sehr gut am Beispiel des katholischen Marienkultus sehen können). Die abgespaltenen und verdrängten Aspekte lösen sich aber nicht einfach in nichts auf, sondern bleiben im kollektiven Bewusstsein latent vorhanden und drängen immer wieder nach oben, wobei sie, da sie nicht erkannt und akzeptiert werden können, Angst auslösen.

Einer dieser Aspekte, die ursprünglich ein Gesicht der Göttin waren, ist die Gestalt der Todes- und Hexengöttin. Bevor wir uns aber näher mit den vier Gesichtern der Göttin beschäftigen, wollen wir uns zunächst einmal der grundsätzlichen Frage zuwenden, was denn Götter eigentlich sein sollen – und wozu man sich im 21. Jahrhundert noch mit ihnen beschäftigen soll.

Die Realität der Götter

The true nature of the gods is that of magical images shaped out of the astral plane by mankind‘s thought, and influenced by the mind.

Dion Fortune, The Mystical Qabalah

Menschen aller Kontinente und Rassen haben seit Jahrtausenden an die Existenz von Göttinnen und Göttern geglaubt und sie verehrt; völkerkundlich gesehen, ist der Götterglaube geradezu als eine anthropologische Konstante zu bezeichnen. Jedes Volk besitzt ursprünglich sein eigenes Pantheon und praktiziert einen naturverbundenen Polytheismus.

Mit dem Aufkommen des Monotheismus wird die Gottesvorstellung abstrakt und transzendent, Gott ist nicht mehr in der Welt, sondern über der Welt; er verkörpert sich nicht mehr in Bäumen und Berggipfeln, sondern im WORT, d. h. in einer heiligen Schrift, die nun alle Weisheit und Antwort auf alle Fragen enthalten soll. Da es nur noch einen wahren Gott geben kann, werden die alten Götter des Polytheismus entwertet, zu Dämonen degradiert oder als Betrug denunziert.

Als sich der neuzeitliche Rationalismus in der Zeit der Aufklärung schließlich vom Monotheismus emanzipiert, der ihm lange als Vehikel diente, kommt es zum Streit zwischen Offenbarung und Vernunft. Historische und Erkenntniskritik erschüttern den Glauben an die Existenz Gottes, so dass die Religion als gesellschaftliche Legitimationsinstanz nun von der empirischen Wissenschaft und dem „Diskurs“ der Spezialisten abgelöst wird (auch die Ideologien des 20. Jahrhunderts mussten sich als „wissenschaftlich“ präsentieren, um Akzeptanz zu finden, sei es die biologische Rassenlehre des Nationalsozialismus oder der soziologische „wissenschaftliche Sozialismus“). Die Wissenschaft kann sich seither (also spätestens seit dem 18. Jahrhundert) daran machen, das Phänomen „Religion“ bzw. Religiosität endgültig aufzulösen (d. h. durch Reduktion zu beseitigen). Mit welchen Methoden dies versucht wird, sieht man sehr schön in der Einleitung zur „Griechischen Mythologie“ von Herbert J. Rose (1928), wo sieben Theorien genannt werden, die den Glauben an Götter philosophisch erklären sollen:

1. Die allegorische Theorie – Ein Gott ist lediglich eine Veranschaulichung eines bestimmten Phänomens oder Begriffs, so ist etwa Venus = Liebe;

2. Die symbolische Theorie – Götter sind Symbole, in denen die Philosophen alter Zeit ihre geheime Weisheit verborgen haben, die für das gemeine Volk zu anspruchsvoll war (Friedrich Creuzer);

3. Der Rationalismus – primitives Missverstehen von natürlichen Vorgängen führt über eine falsche Schlussfolgerung zu der Illusion, ein höheres Wesen habe z. B. den Blitz geschleudert, der einen Baum in Brand setzt (Palaiphatos)

4. Euhemerismus – die Götter waren ursprünglich herausragende Menschen (Könige, Gesetzeber), die nach ihrem Tode immer mehr von Sagen umwoben und schließlich ins Übermenschliche erhoben wurden;

5. Die Naturmythen-Theorie – Götter entstehen durch ein poetisches Naturerleben, Zeus = Himmel, Hermes = Wind (Stoa, Max Müller)

6. Ethnologie und Soziologie – Mythen sind Ausdruck eines Volksgeistes, in ihnen drücken sich die sozialen Verhältnisse eines Volke, sein Gemütsleben und seine Weltanschauung aus (Lobeck, K. O. Müller);

7. Psychologie – Mythen sind Ausdruck unbewusster Komplexe und verdrängter Wünsche, die nach außen projiziert werden, sie sind eine kollektive Neurose bzw. Wahnbildung (Feuerbach, Freud).3

Der Nachweis, dass alle diese Theorien letzten Endes unfähig sind, religiöses Erleben restlos zu erklären, bedürfte eines eigenen Buches. Halten wir vorläufig nur die Situation fest, wie sie sich heute in der westlichen Gesellschaft darstellt: Dem traditionellen christlichen Monotheismus, der sich in der Defensive befindet, steht ein öffentlich dominierender Skeptizismus und Atheismus gegenüber. Zwischen diesen beiden Positionen erstreckt sich das Feld der sogenannten „Spiritualität“ und „Esoterik“, d. h. die Welterklärungsmodelle der Menschen, die sich weder als Christen noch als Atheisten fühlen.

Typisch für die moderne Spiritualität ist die Vermengung traditionell religiöser Themen mit psychologischer Terminologie. Besonders folgenreich war hierbei die Psychologie Carl Gustav Jungs, der aus Sicht der orthodoxen Freudianer der „Schlammflut des Okkultismus“ Tür und Tor öffnete und aus Sicht der orthodoxen Christen in gnostische Irrlehren zurückfiel. Für unser Thema ist Jung von Interesse, weil er die Existenz von Göttern als objektive psychische Realität plausibel macht.

C. G. Jung: Das „kollektive Unbewusste“ und die „psychischen Teilsysteme“

In seinem Kommentar zu dem taoistischen Text „Das Geheimnis der goldenen Blüte“ definiert C. G. Jung das „kollektive Unbewusste“ als ein „gemeinsames Substrat“, das aus „latenten Dispositionen zu gewissen identischen Reaktionen“ besteht: „Die Tatsache des kollektiven Unbewussten ist einfach der psychische Ausdruck der Identität der Gehirnstruktur jenseits aller Rassenunterschiede. Daraus erklärt sich die Analogie, ja sogar Identität der Mythenmotive und der Symbole und der menschlichen Verständnismöglichkeit überhaupt. Die verschiedenen seelischen Entwicklungslinien gehen von einem gemeinsamen Grundstock aus, dessen Wurzeln in alle Vergangenheit hinunterreichen.“4

Im kollektiven Unbewussten existieren nun „psychische Teilsysteme“, die, je komplizierter sie sind, umso mehr Persönlichkeitscharakter haben:

Sie sind eben auch Konstituenten der psychischen Persönlichkeit und müssen darum Persönlichkeitscharakter haben. Solche Teilsysteme finden sich namentlich bei Geisteskrankheiten, bei den psychogenen Persönlichkeitsspaltungen (...) und ganz gewöhnlich bei den mediumistischen Phänomenen. Auch bei religiösen Phänomenen sind sie zu finden. Darum sind viele der früheren Götter aus Personen zu personifizierten Ideen und schließlich zu abstrakten Ideen geworden, denn belebte unbewusste Inhalte erscheinen stets zuerst als nach außen projiziert und werden im Verlauf der geistigen Entwicklung via Raumprojektion vom Bewusstsein allmählich assimiliert und zu bewussten Ideen umgestaltet, wobei letztere ihren ursprünglich autonomen und persönlichen Charakter einbüßen. Einige der alten Götter sind bekanntlich via Astrologie zu bloßen Eigenschaften geworden (martialisch, jovial, saturnin, erotisch, logisch, lunatic usw.). 5

 

Das Bewusstsein versucht also ständig, die psychischen Teilsysteme zu abstrahieren und zu rationalisieren, um sie beherrschbar zu machen und dem abstrakten Gott des Monotheismus zu unterwerfen. Nach Jungs Ansicht ist es insbesondere dem Christentum nicht gelungen, die die „Götter“ wirklich zu überwinden:

Unsere wahre Religion ist ein Monotheismus des Bewusstseins, eine Bewusstseinsbesessenheit mit fanatischer Leugnung der Existenz von autonomen Teilsystemen. Darin unterscheiden wir uns aber von den buddhistischen Yogalehren, dass wir sogar die Erfahrbarkeit von Teilsystemen leugnen. Darin liegt eine große psychische Gefahr, denn dann verhalten sich die Teilsysteme wie irgendwelche verdrängten Inhalte: sie bringen zwangsläufig falsche Einstellungen hervor, indem das Verdrängte in uneigentlicher Form wiederum im Bewusstsein erscheint. Diese in jedem Neurosenfall in die Augen springende Tatsache gilt auch für die kollektiven psychischen Erscheinungen. Unsere Zeit begeht in dieser Hinsicht einen fatalen Irrtum; sie glaubt nämlich, religiöse Tatsachen intellektuell kritisieren zu können. (…) Man vergisst dabei völlig, dass der Grund, warum die Menschheit an den ‚Daimon’ glaubt, gar nicht mit irgend etwas Äußerem zu tun hat, sondern einfach auf der naiven Wahrnehmung der gewaltigen, inneren Wirkung autonomer Teilsysteme beruht.6

Eine bloße Leugnung der psychischen Teilsysteme führt dazu, dass sie unbewusst nach außen projiziert werden. Im christlichen Bezugssystem werden sie dann als „Satan“ oder „Dämonen“ bezeichnet und mit großem Aufwand exorziert, ohne doch jemals völlig besiegt zu werden. In anderen Ideologien kann eine beliebige Gruppe als Projektionsfläche gewählt werden (Juden, Freimaurer, Illuminaten, Aliens), deren „bösem Willen“ eine weltweite Verschwörung unterstellt wird – kurz, es kommt zu kollektiver Wahnbildung, und destruktiven Massenpsychosen, die durchaus Kriege und Revolutionen auslösen können. Mit Jungs Worten:. „Die Götter sind Krankheiten geworden.“7

Ein Aspekt des kollketiven Unbewussten ist die Anima, das Ur-Weibliche:

Die tiefere Introspektion oder die ekstatische Erfahrung enthüllt die Existenz einer weiblichen Figur im Unbewussten, daher die weibliche Namengebung Anima, Psyche, Seele. Man kann die Anima auch definieren als Imago oder Archetypus oder Niederschlag aller Erfahrungen des Mannes am Weibe. Darum ist das Animabild auch in der Regel in die Frau projiziert.8

Nach Jungs Auffassung nimmt die Anima für jeden Mann eine besondere Gestalt an, so wie umgekehrt jede Frau einen Animus in sich trägt. Können Animus und Anima nicht richtig integriert werden, weil die herrschende Religion etwa bestimmte Aspekte von Weiblichkeit unterdrückt und tabuisiert, werden begreiflicherweise Anima-Projektionen entstehen, die angstbesetzt, aber auch gleichzeitig faszinierend sind. So wird etwa in der Offenbarung des Johannes von der reinen, keuschen Muttergöttin Maria die scharlachrote „Hure Babylon“ abgespalten. Auch Göttinnen wie Venus, Hekate und Diana wurden in den Untergrund abgedrängt, wo sie, wie wir wissen, dort das ganze Mittelalter über rumorten.

Da das Christentum unfähig ist, die archetypischen Bilder zu integrieren, prophezeite Jung 1928 ein Zunehmen von individuellen Symbolbildungen:

Diese seit uralters bestehende Symbolfunktion ist auch heute noch vorhanden, obschon die Entwicklung des Geistes seit vielen Jahrhunderten danach strebte, die individuelle Symbolbildung zu unterdrücken. (…) Die christliche Epoche hat bekanntlich Außerordentliches geleistet in der Unterdrückung der individuellen Symbolbildung. In dem Maße, als die Intensität der christlichen Idee abzublassen beginnt, darf man auch ein Wiederaufflackern der individuellen Symbolbildung erwarten. Die geradezu ungeheure Sektenvermehrung seit dem 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der ‚Aufklärung’, dürfte ein entsprechendes Zeugnis dafür sein.9

Inzwischen sind 80 Jahre vergangen, und rückblickend darf man wohl sagen, dass Jungs Prophezeiung sich erfüllt hat, obwohl Jung die Entstehung der modernen Hexenbewegung nach dem 2. Weltkrieg, den Zen- und Yoga-Boom seit den 1960er Jahren und die kommerzialisierte Vulgäresoterik der letzten vier Jahrzehnte nicht voraussehen konnte. Die Religionssoziologie spricht heute abschätzig von einer „Patchwork-Spiritualität“, um das zu bezeichnen, was Jung „individuelle Symbolbildung“ nannte. Der Begriff „patchwork“ suggeriert dabei, dass heterogene Elemente wahllos zusammengeklaubt werden, was bei manchen Zeitgenossen sicherlich der Fall sein mag. Es sollte jedoch nicht unterschätzt werden, dass in vielen Fällen tatsächlich eine Wiederentdeckung bislang verschütteter und unterdrückter Symbole stattfindet, was sich dann eben in dem Gefühl äußert, von „Göttern“ ergriffen zu werden und natürlich eine hochemotionale Angelegenheit ist.