Von Naumann zu Heuss

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KLEINE REIHE

Thomas Hertfelder

Von Naumann zu Heuss

Über eine Tradition des sozialen Liberalismus in Deutschland

STIFTUNG BUNDESPRÄSIDENT - THEODOR - HEUSS - HAUS


Zum Autor

Thomas Hertfelder, geboren 1959, hat in München Geschichte, Germanistik und Politologie studiert. Er arbeitete zunächst im Schuldienst und in der Erwachsenenbildung, von 1990 bis 1997 schließlich als wissenschaftlicher Assistent an der Universität München. Dort wurde er 1995 mit einer wissenschaftsgeschichtlichen Arbeit promoviert. Seit 1997 ist er Gründungsgeschäftsführer, seit 2010 Mitglied des Vorstands der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus in Stuttgart. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zur Zeitgeschichte.

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Zur Publikation

Friedrich Naumann (1860 – 1919) gilt als einer der Begründer des sozialen Liberalismus in Deutschland. Sein politischer Ziehsohn und Mitarbeiter Theodor Heuss (1884 – 1963) hat Naumann zeitlebens verehrt und ihm in einer großen Biographie ein Denkmal gesetzt. Noch als Bundespräsident hat Heuss in zahlreichen Reden und Artikeln auf Naumann Bezug genommen.

Die vorliegende Studie zeichnet die Konturen des Naumann-Bildes nach, das Theodor Heuss zwischen Deutschem Kaiserreich und früher Bundesrepublik vertreten hat. Sie untersucht die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im politischen Denken und Handeln der beiden Politiker und legt die Spur eines sozialen Liberalismus frei, die sich in Deutschland bis in die Gegenwart verfolgen lässt.

Titelfoto:

Theodor Heuss bei seiner Gedenkrede auf Naumann am 24. August 1929 auf dem Berliner Zwölf-Apostel-Friedhof.

Einleitung: Von Naumann zu Heuss

THOMAS HERTFELDER

Von Naumann

zu Heuss

Über eine Tradition des sozialen Liberalismus in Deutschland*

Einleitung: Von Naumann zu Heuss

Nach der historischen Bedeutung Friedrich Naumanns für die Bundesrepublik Deutschland haben Historiker erstaunlich selten gefragt. Für die Naumann-Forschung war dies nicht unbedingt von Nachteil. Denn die bereits mit der Naumann-Biographie von Theodor Heuss einsetzende Konzentration auf Friedrich Naumann in seiner Zeit[1] hat den Blick frühzeitig dafür geschärft, das Wirken des liberalen Publizisten und Politikers in den diskursiven Feldern von Politik, Ökonomie, Gesellschaft und Kultur des Deutschen Kaiserreichs in seiner ganzen Ambivalenz zu erfassen. Eine solche Historisierung erschien schon allein deshalb geboten, weil die ungeheure Produktivität Naumanns zwischen Theologie und Politik, Publizistik und Pädagogik, Ästhetik und Ökonomie wohl nur dann überhaupt zu begreifen ist, wenn man sie im Zusammenhang mit den Problemlagen des späten Kaiserreichs sowie den Überzeugungen und Praktiken sieht, die der zeitgenössische bildungsbürgerliche Kulturprotestantismus dazu entwickelt hat.[2] So ist Naumann seit nunmehr über siebzig Jahren in immer wieder neuen Konjunkturen Gegenstand der historischen Reflexion geworden;[3] in kaum einer Geschichte des Kaiserreichs fehlt sein Name.

Dem Gedächtnis des frühen 21. Jahrhunderts ist dieser schillernde Prophet des Fortschritts hingegen weitgehend entschwunden. Naumann hatte mit seiner Politik zwischen allen Stühlen bestenfalls begrenzten Erfolg, ein Staatsamt war ihm nie beschieden, sein früher Tod im August 1919 trägt, anders als bei seinen Zeitgenossen Ebert, Rathenau und Stresemann, nicht die Züge eines Martyriums im Namen der Demokratie. Naumann vermochte sich zwar wort-, nicht aber bildmächtig zu inszenieren; die überlieferten Bilder, sehr wenige Fotografien und immerhin eine Porträtskizze Max Liebermanns, hinterlassen spärliche und zudem eher blasse visuelle Eindrücke. Heute lebt Naumanns Name noch in der nach ihm benannten politischen Stiftung fort, die freilich jüngst mit der Erweiterung ihres Namens als »Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit« signalisiert hat, dass Naumanns Name allein offenbar nicht mehr in der Lage ist, die politische Arbeit der Stiftung historisch und programmatisch hinreichend zu verorten. Ob Naumann überhaupt geeignet ist, eine liberale, demokratische und soziale politische Tradition zu begründen, hat in der Tat bis in die jüngste Zeit für öffentliche Kontroversen gesorgt.[4]

Über die Wirkungsgeschichte Naumanns wissen wir wenig. Naumanns Nachleben wird in aller Regel mit dem Verweis auf Theodor Heuss abgetan, manchmal mit verblüffend weitreichenden Folgerungen. Ein prägnantes Beispiel hierfür bietet das für die DDR maßgebliche Lehrbuch der Geschichte von Fritz Klein, das die marxistisch-leninistische Interpretation von Naumanns Wirken im Kaiserreich mit einem überraschenden Exkurs zur Bundesrepublik verbindet. In der Bundesrepublik Deutschland seien, so der Doyen der DDR-Zeitgeschichtsschreibung, wesentliche Vorstellungen von Naumanns nationalsozialen Ideen verwirklicht: Ein reiner Imperialismus, die uneingeschränkte Herrschaft des Finanzkapitals sowie die Kapitulation der Sozialdemokraten vor einer Bourgeoisie, deren Diktatur verschleiert werde durch die »verschwommene Reformideologie Naumanns«. Als Gewährsmann seiner Deutung dient Klein kein anderer als Theodor Heuss, der sich als Mitglied des Parlamentarischen Rats und erster Bundespräsident immer wieder auf Naumann berufen habe.[5] Im politischen Gründungskonsens der Bundesrepublik Deutschland erkennt der DDR-Historiker somit einen späten Sieg des national-sozialen Pfarrers, der zu Lebzeiten weder die Sozialdemokratie noch die Mehrheit des Bürgertums für seine Politik zu gewinnen vermochte. Auch westdeutsche Historiker haben die Frage nach Naumanns Bedeutung für die Bundesrepublik gelegentlich gestreift. So stellte Thomas Nipperdey 1992 in seiner Deutschen Geschichte lapidar fest, Naumann werde als Politiker des Kaiserreichs, zumal unter Intellektuellen, eher überschätzt und sei zudem über seinen Schüler Heuss »zu einer Art ‚Mythos‘ geworden«.[6]

Theodor Heuss und der Naumann-Mythos:[7] Die Frage nach diesem Zusammenhang drängt sich nicht nur jedem auf, der sich wissenschaftlich mit Naumann beschäftigt. Sie führt auch, wie der folgende Beitrag zu zeigen versucht, auf verschlungenen Wegen auf Spuren jener vielfältigen Legitimationsgeschichten der jungen Bundesrepublik, die bis heute auf kontroverse und politisch durchaus folgenreiche Weise fortgesponnen werden.[8] Sie verweist fernerhin auf eine politische Traditionsbildung in Deutschland, die mit dem Begriff »sozialliberal« nicht immer ganz scharf bezeichnet wird.[9] Für beide Perspektiven erweist sich eine Untersuchung der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Friedrich Naumanns als fruchtbar. Sie lässt sich zudem nach immerhin bald einem Jahrhundert Naumann-Forschung und der neuerdings intensiven Erschließung der Korrespondenz von Heuss[10] auf einer breiten Basis von Quellen und unter einer Vielzahl möglicher Perspektiven diskutieren.

Übereinstimmung besteht dahingehend, dass Theodor Heuss bei der Rezeption und Aneignung von Naumanns politischem und publizistischem Wirken bis ins späte 20. Jahrhundert hinein eine zentrale Rolle gespielt hat. Diese Rolle wurde in der Forschung keineswegs nur positiv gesehen: Heuss habe »die Erinnerung an Naumann kanalisiert, monopolisiert, sakralisiert und säkularisiert«, lautet das Urteil Ursula Kreys; Ralph Raico fügt den wohl entscheidenden Begriff hinzu: Heuss habe Naumann idealisiert.[11] Doch werfen auch diese Befunde Fragen auf. Wie konnte unter den zahlreichen wortgewaltigen Anhängern des national-sozialen Politikers gerade Heuss zu seinem autoritativen Interpreten werden? Welches Naumann-Bild hat Heuss in der Zeitspanne zwischen dem Deutschen Kaiserreich und der jungen Bundesrepublik tradiert? Welchen Wandlungen war dieses Bild unterworfen? Welche Funktion hat der Rekurs auf Naumann in der Gründungsphase der Bundesrepublik und in der Ära Adenauer erfüllt? Welcher Fundus an gemeinsamen Überzeugungen erlaubt es, von einer sozialliberalen Tradition zu sprechen, die von Naumann über Heuss bis in die siebziger Jahre der Bundesrepublik hinein reicht? Und schließlich: Welche Rolle spielte der Rekurs auf Naumann beim Versuch einer Wiederbelebung einer sozialliberalen Tradition in Deutschland?

1.Vater und Ersatzvater:
Wege in die Politik

Als der 22-jährige Theodor Heuss 1907 um die Hand der Professorentochter Elly Knapp anhielt, bat er seinen Arbeitgeber Friedrich Naumann, bei dessen Wochenschrift »Die Hilfe« Heuss als Redakteur tätig war, um seine Zustimmung.[12] Was wie ein Relikt aus vormodernen Zeiten anmutet, trifft ins Zentrum des Verhältnisses zwischen den beiden liberalen Politikern. Für Heuss war Naumann im Jahrzehnt vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs weit mehr als nur Redaktionschef und politischer Mentor geworden. Er sah in Naumann eine Art Ersatzvater, der bei allen biographischen Weichenstellungen der jungen Jahre im Spiel war: von der Wahl des Studienorts[13] über die Berufswahl[14] bis hin zur Wahl der Ehepartnerin[15].

 

Auf den Namen Friedrich Naumann war Heuss bereits als Schüler im Kreis seiner Familie gestoßen. Dort war dem Vierzehnjährigen die »Hilfe« in die Hände gefallen, die der politisierende Bruder Ludwig in den späten 1890er Jahren abonniert hatte. Die Idee, sich den Sozialdemokraten anzuschließen, verwarf der Gymnasiast alsbald, nachdem er den nationalsozialen Pfarrer bei einer Rede in Heilbronn erlebt hatte und immer mehr in den Bann von Naumanns Schriften geraten war.[16] In Bezug auf den politischen Wertehimmel des Vaters, eines Anhängers der württembergischen Demokraten, bot das Auftreten Naumanns eine doppelte Chance: Einerseits war Naumanns Ideenwelt durchaus nicht un- oder antibürgerlich, manches ließ sich mit der politischen Vorstellungswelt des Vaters Louis Heuss verbinden.[17] Andererseits nutzte Heuss in der Begegnung mit Naumann die Gelegenheit zur Abgrenzung vom politischen Weltbild des linksliberalen Parteiführers Eugen Richter, den Louis Heuss verehrte, Naumann hingegen für seinen dogmatisch erstarrten Liberalismus kritisierte. Dabei markierte wohl weniger Naumanns sozialpolitischer Impetus als vielmehr sein vehementes Eintreten für den Imperialismus Wilhelms II. die entscheidende Differenz zum Vater.[18] Über die Identifikation mit Naumann konnte der junge Heuss somit sein rebellisches Element ausleben, ohne die vom familiären Sozialmilieu gesteckten Grenzen zu verlassen oder die Welt des kindlich bewunderten Vaters, der seit 1899 psychisch schwer erkrankt war, in Bausch und Bogen verwerfen zu müssen.[19] Dies galt auch über den frühen Tod des Vaters im Mai 1903 hinaus.

Über die Identifikation mit Naumann konnte der junge Heuss sein rebellisches Element ausleben, ohne die Welt des kindlich bewunderten Vaters in Bausch und Bogen verwerfen zu müssen.

Bereits zu Naumanns Lebzeiten machte Heuss aus seiner Bewunderung für seinen Lehrer kein Hehl. Er gratulierte ihm zur Ehrenpromotion,[20] lobte in Rezensionen seine Schriften[21] und wurde nicht müde, ihn in seiner Korrespondenz zu preisen und notfalls zu verteidigen.[22] Als Naumann 1907 auf Grund des unermüdlichen Einsatzes seines Wahlhelfers Heuss den Einzug in den Deutschen Reichstag feiern konnte, gewann die Beziehung zwischen Heuss und Naumann an emotionaler Intensität.[23] Zudem schloss Naumann nicht nur den jungen Redakteur, mit dem er nahezu täglich zu tun hatte,[24] ins Herz, sondern auch dessen Verlobte Elly Knapp, der er Briefe und Zeichnungen schickte.[25] In diesen Jahren, zwischen 1905 und 1912, wurde Naumann für Heuss zum Protektor, Mentor und – wie er es selbst ausdrückte – »geistigem Vater«[26]; umgekehrt beriet Heuss Naumann in politischen und publizistischen Fragen.[27] Aus der politischen Arbeitsgemeinschaft erwuchs eine Freundschaft, die angesichts der Zugehörigkeit der beiden Männer zu unterschiedlichen Generationen durchaus ungewöhnlich war.[28]

Über fünfzehn Jahre bis in den Ersten Weltkrieg hinein folgte Heuss den elastischen politischen Programmen und Zielen Naumanns nahezu ohne Einschränkungen – freilich mit einer zunächst deutlichen Präferenz für Themen der Kunst und Literatur. Gleichviel ob es sich um Naumanns emphatische Bejahung des kapitalistischen Industriezeitalters, seinen scharfen Kurs gegen die ostelbischen Großagrarier, seine Analyse der ökonomischen Klassenlage, sein Eintreten für den Freihandel, seine Option für den imperial ausgreifenden Nationalstaat unter Kaiser Wilhelm II. handelte oder um die Demokratisierung des Wahlrechts, die Gewinnung der Arbeiterschaft auf dem Wege bürgerlicher Sozialreform und die Öffnung der Linksliberalen zur Sozialdemokratie – in allen politischen Grundsatzfragen der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg erwies sich Heuss als ein treuer Gefolgsmann.[29] Als Naumann nach Ausbruch des Krieges sein »Mitteleuropa«-Konzept 1915 vorlegte, lobte Heuss das Buch begeistert[30] und regte die Herstellung einer Feldpostausgabe an.


Abb. 1: Friedrich Naumann (2. v. links) mit den Redakteuren der »Hilfe«, darunter Theodor Heuss (2. v. rechts), 1908

Eine nennenswerte politische Differenz[31] wurde erst 1917 über der Friedensresolution des Deutschen Reichstages erkennbar, die Naumann im Parlament unterstützt, Heuss hingegen als eine »Entwertung der tauschbaren Faustpfänder« mißbilligt hat.[32] Auch in der Einschätzung der Grundrechte, wie sie unter Naumanns Einfluss 1919 im zweiten Hauptteil der Weimarer Reichsverfassung kodifiziert wurden, deutete sich ein Dissens an: Heuss sprach abschätzig von einer »Lyrik der Menschen- und Grundrechte«.[33] In beiden Fällen lag Heuss auf der Linie von Positionen, die Naumann bereits hinter sich gelassen hatte, sein Schüler aber offenbar nicht aufzugeben bereit war. Der engen Verbundenheit tat dies keinen Abbruch.[34] Heuss’ Korrespondenz im Kaiserreich lässt erahnen, wie er in der Begegnung mit Naumann und seinem engeren Kreis eine politische Sozialisation erlebt hat, in der sich persönliche und berufliche, politische und familiäre Fragen auf vielfache Weise überkreuzt haben. In den zahllosen Elogen, die Heuss nach Naumanns Tod verfasst hat, imaginierte er in seinem Lehrer nachgerade den Antitypus des klassischen Wilhelminers: diskursiv statt autoritär, feinfühlig statt herzlos, intellektuell beweglich statt dogmatisch erstarrt, progressiv statt konservativ.[35] Nicht in allem, aber in vielem erschien ihm Naumann offenbar anders als der eigene, als autoritär und schwierig empfundene Vater. Diese persönliche Beziehung bildete den Kern jenes metapolitischen Naumann-Bildes, das Heuss noch zu Naumanns Lebzeiten verinnerlicht und später auf vielfache Weise tradiert hat. Naumanns überraschender Tod am 24. August 1919 bedeutete für Heuss und seine Frau somit eine harte Zäsur: »Naumanns Tod hat uns beide des geistigen Vaters beraubt [...] Unsere Sorge ist jetzt die Weiterführung seines Werkes«, schrieb er am 18. September 1919 an seinen Doktorvater Lujo Brentano.[36] Was aber konnte die Weiterführung des Werkes unter völlig veränderten politischen Rahmenbedingungen heißen?


Abb. 2: »Die Hilfe« vom 28.6.1908, Titelseite

2.Demokratie und Nation, Maschine und Persönlichkeit:
Sozialer Liberalismus bei Naumann und Heuss

Nationale Demokratie Nach Naumanns Tod hielt Heuss an Grundüberzeugungen fest, die er während seiner politischen Lehrjahre im Naumann-Kreis gewonnen hatte.[37] Dazu gehörte zunächst der Glaube an die nationale Demokratie als die dem Industriezeitalter angemessene Form politischer Herrschaft. Wie Naumann deutete Heuss die Demokratie nicht als ahistorische Verfassungsnorm, sondern funktional als diejenige Herrschaft, in der die divergierenden gesellschaftlichen Interessen zum Ausgleich kommen.[38] Den Prüfstein hierfür sah Heuss in der von ihm aufmerksam verfolgten Entwicklung der Sozialdemokratie, die seinem Urteil zufolge bereits während des späten Kaiserreichs über ihre zunehmende Einbindung in parlamentarisch-demokratische Prozeduren aus ihrer intransigenten Oppositionshaltung gegenüber dem Staat herausgefunden hatte. In dem Maß, in dem die Demokratie gesellschaftliche Kräfte zu integrieren und die Bürger für den Staat zu gewinnen vermochte, sollte sie, so der Naumannianer Heuss, der Steigerung nationaler Macht und sozialer Wohlfahrt zugute kommen.[39] Dies – und nicht etwa naturrechtliche Überlegungen – war der entscheidende Gedanke jenes im Kern funktionalen Verständnisses von Demokratie, wie es Heuss, Max Weber folgend, vertreten hat. Für Naumann wie für Heuss waren Demokratie und Nation jedenfalls zwei eng miteinander verwobene Konzepte. In diesem Sinn stritt Heuss zusammen mit Naumann im Wilhelminischen Deutschland für die Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts. Für eine Parlamentarisierung des Regierungssystems indessen trat Naumann ab 1908 – immerhin noch vor Ausbruch der Daily-Telegraph-Affäre – ein,[40] während sein politischer Schüler auf einen langwierigen Verfassungswandel setzte und aus vielerlei Erwägungen erst zehn Jahre später, nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, die parlamentarische Regierungsform explizit befürwortete.[41]


Abb. 3: Theodor Heuss: Die neue Demokratie, Berlin 1920, Innentitel

Individuelle Freiheit und organisierter Kapitalismus Zudem war Heuss mit dem späten Naumann davon überzeugt, dass in der Gewährung individueller Freiheit die Voraussetzung für die Entfaltung der ökonomischen und kulturellen Ressourcen der Nation liege. So hat der historisch informierte Nationalökonom Heuss immer wieder darauf hingewiesen, dass die Industrialisierung im 19. Jahrhundert unter den Bedingungen des sich entfaltenden Kapitalismus weite Kreise der Bevölkerung aus dem Elend des vorindustriellen Pauperismus herausgeführt und ein Mindestmaß an materiellem Wohlstand ermöglicht habe.[42] Individuelle Ressourcen wie Wissen, Talent, Kreativität, Fleiß, Wagemut und Leistung – kurz: die »produktive Kraft der bürgerlichen Freiheit«[43] – galt es so zu organisieren, dass nicht nur der volkswirtschaftliche Nutzen, sondern zugleich auch der Primat der persönlichen Verantwortung ebenso wie der Schutz des Einzelnen vor Willkür und Ausbeutung gewährleistet sind.[44] Gemäß dem Prinzip der Selbsthilfe gehörte dazu auch und vor allem die Freiheit zur Assoziation und Organisation der Interessen in Form von Genossenschaften und Gewerkschaften; starke Gewerkschaften galten Naumann als Garanten humaner Verhältnisse in der industriellen Arbeitswelt: »Hätten wir mehr Freiheit der gewerkschaftlichen Entwicklung gehabt, würden wir weniger Gesetze, Strafen und Beamte gebraucht haben«, notierte Naumann 1906.[45]

Jenseits dieser Präferenzen setzten Lehrer und Schüler die Akzente in sozialökonomischen Fragen allerdings unterschiedlich. So zeigte sich Naumann über alle Maßen fasziniert von der Evolution gesellschaftlicher Großorganisationen jeglicher Art: »Unsere Gefühle sind noch in der alten Welt, die im wirtschaftlichen Liberalismus ihren Ausdruck fand, aber um uns türmen sich unliberale Gestaltungen: Syndikate, Preiskartelle, Riesenbetriebe, Arbeiterverbände, Verkaufsgemeinschaften aller Art. Ihnen offen ins Auge zu schauen, ist unsere Pflicht.«[46]

 

Abb. 4: Friedrich Naumann: Die Neudeutsche Wirtschaftspolitik, Berlin 1906, Innentitel

Sein ökonomisches Hauptwerk, die »Neudeutsche Wirtschaftspolitik«, hatte Naumann unter dem Eindruck des 1902 erschienenen Werks »Der moderne Kapitalismus« von Werner Sombart geschrieben – genau zu jener Zeit, als sich Heuss in München bei Lujo Brentano, einem »politisch-ökonomischen Klassiker des modernen Sozialliberalismus«,[47] dem Studium der Nationalökonomie zuwandte. Anders als Sombart, für den »das Gewinnstreben, der kalkulatorische Sinn, der ökonomische Rationalismus«[48] die Essenz des Unternehmertums ausmachte, sah Naumann den Unternehmer primär als Organisator wachsender Riesenbetriebe, der Unternehmenskonzentration und unternehmerischer Zusammenschlüsse, die mit Effizienz- und Produktivitätsgewinnen sowie einer größeren Berechenbarkeit der Volkswirtschaft einhergehen: An die Stelle des individualistischen tritt, so die zeitgenössische Sicht, der organisierte Kapitalismus. Dabei enthielt sich Naumann jener polemisch-herablassenden Spitzen gegen das zeitgenössische Unternehmertum, die Werner Sombarts Kapitalismus-Studien durchziehen.[49]


Abb. 5: AEG-Maschinenfabrik in Berlin-Wedding um 1900

Die »praktische Sozialisierung der Gesellschaft«, wie sie der organisierte Kapitalismus in Naumanns Augen hervorbrachte,[50] lief in dieser Perspektive auf eine Konvergenz zwischen Sozialismus und Liberalismus hinaus. Die gemeinsame Aufgabe beider politischer Bewegungen sollte, so Naumann, darin bestehen, die neuen ökonomischen und sozialen Organisationsformen zu demokratisieren:[51] In der »Mitbeteiligung aller an Leitung und Ertrag der Produktion« identifizierte er das Ziel seines »neuen Liberalismus«.[52] Das Liberale an dieser Idee bestand in dem Bestreben, die Würde und Autonomie der Einzelpersönlichkeit im organisierten industriellen Kapitalismus im Rahmen des Möglichen zu wahren und zu verteidigen, möglicherweise sogar neu zu begründen. Auf dieser Linie plädierte Naumann auch für hohe Löhne, die sich für den Unternehmer am Ende rechnen würden, denn »billige Arbeit ist schlechte Arbeit«. Gutbezahlte Qualitätsarbeit ermögliche – auch im Großbetrieb – Qualitätsproduktion, die sich nicht nur in der »gesunde[n] Kraft einer deutschen Lokomotive«, sondern überhaupt in einer »Kultur von bleibenden Gebrauchswerten« niederschlage und zudem deutschen Waren auf dem sich globalisierenden Weltmarkt einen guten Ruf mit entsprechenden Exportchancen eintrage.[53] Im Zusammenspiel von sozialer Organisation, technischer Innovation und individueller Persönlichkeitsbildung sollte sich der ökonomische Erfolg des modernen deutschen Industriestaats erweisen. »Maschine und Persönlichkeit« lautete Naumanns Formel dafür, wie überhaupt die Maschine ihm zur Chiffre des technisch-gesellschaftlichen Fortschritts geriet.[54]

Im Zusammenspiel von sozialer Organisation, technischer Innovation und individueller Persönlichkeitsbildung sollte sich der ökonomische Erfolg des modernen deutschen Industriestaats erweisen. »Maschine und Persönlichkeit« lautete Naumanns Formel dafür.

Heuss, obwohl gelernter Nationalökonom, hat sich zu sozialökonomischen Fragen weitaus seltener und zurückhaltender geäußert als der Theologe Naumann. Von Naumanns enthusiastischer Analyse sozialer Großorganisationen findet man bei ihm kaum eine Spur,[55] am ehesten noch in seiner Schrift »Kriegssozialismus« aus dem Jahr 1915.[56] In der Weimarer Zeit nahm sich Heuss primär der Probleme der freien und künstlerischen Berufe, der handwerklichen Arbeit sowie der mittelständischen Betriebe an und betonte, hier ganz in der Tradition Naumanns, die ethische und ökonomische Notwendigkeit von hochwertiger Qualitätsarbeit.[57] Wie Naumann hielt er wenig von der abstrakten Annahme eines homo oeconomicus und brachte gegen sie das Argument der Historischen Schule der Nationalökonomie in Anschlag, dass jeder wirtschaftende Mensch in vielfachen kulturellen, sozialen und institutionellen Bindungen stehe und ein rein ökonomisch gedachter Liberalismus folglich in die Irre gehe.[58] Ohnehin interessierte Heuss, wiewohl er gelegentlich gegen einzelne volkswirtschaftliche Theoreme wie die Kaufkrafttheorie Stellung bezog,[59] die reine ökonomische Lehre wenig. Sein Augenmerk galt vielmehr dem unter konkreten historischen Bedingungen handelnden, schöpferisch tätigen Individuum. Heuss’ Vorliebe für das Genre der Biographie, das er insbesondere während des erzwungenen Rückzugs vom öffentlichen Leben während der NS-Zeit erprobte, ist somit auch als eine Beschwörung jener bürgerlichen Individualkultur zu verstehen, der die damaligen Zeitläufte so wenig gewogen waren.[60] Und in seinen Ansprachen als Bundespräsident vor den Belegschaften großer Industriebetriebe erinnerte er gerne an die

schöpferischen Leistungen der Unternehmensgründer – auch auf sozialpolitischem Gebiet.[61] Kurzum: Heuss’ Denken kreiste nicht um die Evolution sozialer Großorganisationen – die »anonyme Apparatur des Gesellschaftslebens« lehnte er ab[62] –, sondern um das schöpferische, produktive bürgerliche Individuum in seinen vielfachen historischen Bezügen. In ihm sah er, etwa auf der Linie des Ökonomen Joseph A. Schumpeter, noch als Bundespräsident die eigentliche Produktivkraft der Geschichte, und nicht, wie sein Mentor, im Gleichklang aus technischem Fortschritt und sozialer Organisation:[63] »Passen Sie auf, dass kein übergroßer Apparat entsteht!«, riet Heuss im Februar 1950 der Arbeitsgemeinschaft Chemischer Industrie; zwei Jahre später verwies er die These von der unabwendbaren Konzentration der Großbetriebe ins Reich der Legende.[64] In diesen Positionen stand Heuss seinem Lehrer denkbar fern und deutlich in der Tradition eines altliberalen Menschen- und Gesellschaftsbildes.


Abb. 6: Theodor Heuss: Robert Bosch. Leben und Leistung, Stuttgart/Tübingen 1946 Sozialer Liberalismus

Sozialer Liberalismus Kann Naumann überhaupt als Liberaler bezeichnet werden? Oder war und blieb er zeitlebens ein »nationaler Sozialist«?[65] Diese Frage sorgt in der Naumann-Forschung bis heute für Kontroversen. Die Antwort hängt davon ab, auf welche Periode des Naumannschen Wirkens man den Akzent setzt, und was man unter Liberalismus versteht.[66] In dem Jahrzehnt zwischen der Auflösung des Nationalsozialen Vereins 1903 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs hat sich Naumann bekanntlich dem organisierten Linksliberalismus angeschlossen, bei einer Reihe von Fragen genuin liberale Positionen vertreten und zugleich wie kein anderer für eine Reformulierung liberaler Programmatik im Zeichen der industriegesellschaftlichen Moderne plädiert.[67] Bestimmt von einer eigentümlichen Mischung aus grundsätzlichen und taktischen Erwägungen hat Naumann dabei in der Gewerkschaftsfrage, in seiner Haltung gegenüber der Sozialdemokratie, in der Frage der Industrieverfassung, der Mittelstandspolitik, der nationalen Selbstbestimmung, der Militär-, Kolonial- und »Weltpolitik« oftmals unorthodoxe Positionen verfochten, die zunächst mit den Leitlinien traditioneller liberaler Politik im Kaiserreich kaum vereinbar schienen; nach der Jahrhundertwende jedoch trafen sich seine Vorschläge mit einer zunehmenden sozialpolitischen Aufgeschlossenheit aller liberaler Strömungen.[68] Im Zuge der Begründung eines neuen, »sozialen Liberalismus«,[69] der nicht von abstrakten Setzungen, sondern von den realen Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen im entfalteten Industriekapitalismus ausgegangen ist, hat Naumann die naturrechtlich-individualistischen Grundlagen des klassischen Liberalismus ebenso über Bord gehen lassen wie die liberale Zielutopie einer Gesellschaft mittlerer selbstständiger Existenzen, die er vom technisch-ökonomischen Fortschritt überholt sah. Nicht über Bord gegangen ist indessen das elementare Freiheitspostulat, das er historisch und kontextbezogen interpretiert: »Jede Zeit hat ihre eigenen Freiheiten, die sie sucht«.[70] Naumann vermochte den elementaren neuzeitlichen Freiheitsimpuls unter den sozialökonomischen Bedingungen des frühen 20. Jahrhunderts nur noch als »organisierten Lebensspielraum« zu imaginieren.[71] Sein sozialer Liberalismus sah folglich in den hochaggregierten, bürokratisierten Organisationen des gesellschaftlichen Lebens einen Gegner und notwendigen Verbündeten der Freiheit zugleich, einer Freiheit allerdings, die er im Unterschied zur klassisch liberalen Sicht vorwiegend in der Defensive zu denken vermochte. Gleichwohl blieb sein sozialpolitisches Hauptanliegen, die Autonomie und Würde des Einzelnen im Zeitalter des Großbetriebs zu verteidigen, im Kern ein liberales Anliegen.[72]

Die Frage nach dem liberalen Kern ist bei Heuss leichter zu beantworten als bei Naumann.[73] In der Weimarer Zeit wie in der Nachkriegszeit hat Heuss vom Liberalismus mit einem kritischen Zungenschlag gesprochen; ihn störte, dass der Liberalismus keinen klaren und »positiven« Begriff vom Staat entwickelt und in seinem Individualismus die Formen sozialer Vergemeinschaftung vernachlässigt habe.[74] Damit folgte Heuss einer Tendenz des liberalen Denkens der Zwischenkriegszeit, das der Suggestion, in einem nachindividualistischen Zeitalter zu leben, erlegen war.[75] Gleichwohl legte Heuss, wie wir gesehen haben, gegenüber seinem Lehrer den Akzent auf das handelnde, schöpferische Individuum. Zwar sah er sehr wohl dessen soziokulturelle Verankerung in gesellschaftlichen Strukturen, doch interpretierte er sozialen Wandel weit weniger deterministisch als Naumann. Anders als sein Mentor betrachtete er folglich das moderne Individuum nicht nur defensiv unter der Perspektive seiner Bedrohung, sondern mindestens ebenso sehr unter dem Aspekt seiner Chancen, seiner Produktivität und Kreativität. Über alledem hat Heuss Naumanns Anliegen weiter im Auge behalten und 1920 – in Anlehnung an Kant und Lujo Brentano – als ein wesentliches Prinzip der Demokratie gefordert, »daß kein Mensch zum Mittel in der Hand eines anderen werde«[76] und zehn Jahre später, auf dem Gründungsparteitag der Deutschen Staatspartei, emphatisch die »bürgerliche Freiheit« beschworen, ohne die wir »nicht atmen« könnten.[77] Solche Bekenntnisse mochten im Zeitalter des Social Engineering altbacken klingen, markierten jedoch deutlich die Beharrungskraft liberaler Grundüberzeugungen. Liberaler Utilitarismus und Humanismus konvergierten bei Heuss, während sie in Naumanns Konzeption, die dem Social Engineering deutlich affiner war, auseinander zu fallen drohten. Politisch hat sich Heuss seit 1919 und erneut nach 1945 als engagierter Verfechter der parlamentarischen Demokratie und ebenso entschiedener Gegner plebiszitärer Verfahren profiliert; sein Eintreten für einen begrenzten, juristisch verbindlichen Grundrechtskatalog in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rats markiert erkennbar einen Lernprozess gegenüber 1918.[78] Dies alles weist auch ihn als einen Liberalen im Zeitalter der Extreme aus – wenngleich in anderer Akzentuierung als bei Naumann.

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