Geschichte in Film und Fernsehen

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Erzählweisen und Erzählstrukturen

An audiovisuellen Erzählungen sind nicht nur die Sozial- und Kulturwissenschaften, sondern naturgemäß auch Film-, Literatur- und Erzählwissenschaft (Narratologie) stark interessiert. Als der Film um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aufkam, wurde er von der Literaturwissenschaft anfangs nicht ernst genommen, er galt als Volksvergnügen ohne größere kulturelle Bedeutung. Zudem war ja der Roman und nicht der Film das Hauptbetätigungsfeld der Literaturwissenschaft und Erzähltheorie. Es war deshalb auch die sich herausbildende Filmwissenschaft selbst, die dem Film seit den 1920er Jahren einen Kunststatus zusprach und ihn von den literarischen Formen des Erzählens radikal abgrenzte. Dabei verwies sie auf die Tatsache, dass das Medium ‚Film‘ völlig andere Zeichen benutzt, um sichtbare Welten darzustellen, als das Medium ‚Literatur‘, nämlich bildliche statt sprachliche Zeichen. Das Visuelle und das Literarische galten als unvereinbar; showing stand gegen telling, unmittelbares Darstellen im Film gegen mittelbares Erzählen im Text (dazu Bietz 2013, 81ff.). Während der literarische Text gewissermaßen aus ‚toten‘ Buchstaben besteht und wie eine ‚Partitur‘ gelesen wird, d.h. beim Lesen von den Lesern „zur Aufführung gebracht wird“ (Seel 2013, 120), ist der Film selbst eine Aufführung, die die Zuschauer in einen raumzeitlich strukturierten audiovisuellen Geschehensablaufs hineinzieht und diesen miterleben lässt. Die mediale Kluft zwischen Film und Roman schien unüberbrückbar. Erst seit ein paar Jahren versuchen einige Literaturwissenschaftler, Filmwissenschaftler [8]und Erzähltheoretiker wieder Brücken zwischen Film und Literatur zu schlagen, indem sie darlegen, dass beide Darstellungsformen eines gemeinsam haben: das Erzählen.

Diese zuletzt von Christoph Bietz in seinem Buch über „Die Geschichten der Nachrichten“ (2013) vorgeschlagene transmediale Ausweitung des Erzählbegriffs von den Literatur auf das bewegte Bild und das vermittelnde Wort von Erzählstimmen im Film, führt damit auch den filmischen Erzähler wieder mit denen zusammen, die einer audiovisuellen Erzählung zusehen und zuhören, dem Publikum. Beide treffen sich im Erzählraum des Kinos oder vor dem Bildschirm im Fernsehzimmer. Der eine erzählt in Bild und Ton eine Geschichte, die zuvor vielleicht ein historischer Roman war, und die anderen verwandeln diese Bild-Ton-Geschichte wieder in mittelbare sprachliche Erzählungen, wenn sie zu Hause oder bei der Arbeit über das Filmereignis berichten.

Die Erzähltheorie interessiert sich aber nicht nur für die unterschiedlichen Modi des Erzählens (visuell vs. literarisch bzw. szenisch vs. dokumentarisch), sondern auch für das Verhältnis von Erzählung und dem ihr zugrunde liegenden Ereignis. Es geht dabei um die Frage, ob und wie Geschichtsfilme die vergangene tatsächliche Welt abbilden bzw. darstellen können. Auch hier hat zuletzt Bietz erneut klargelegt, dass es keinem audiovisuellen Medium und keinem Erzähler gelingen kann, die äußere Welt unmittelbar, objektiv, geschweige denn vollständig abzubilden. Bietz zeigt das bei der Analyse aktueller Fernsehnachrichten unter erzähltheoretischen Gesichtspunkten. Das von ihm erprobte Analyseinstrumentarium wird in diesem Buch teilweise zur Systematisierung und Analyse von Geschichtsfilmen benutzt.

Film und Geschichtswissenschaft

Das Medium ‚Film‘ ist von der Historiografie jahrzehntelang nicht als ‚geschichtswichtig‘ angesehen worden. Erst in den 1970er Jahren gab es in Frankreich und England Interesse von Seiten der Historiker (Marwick 1974; Ferro 1975). In den 1980er Jahren hat dann Irmgard Wilharm eine geschichtsdidaktisch orientierte Auseinandersetzung mit dem Medium ‚Film‘ in die Geschichtswissenschaft eingeführt. Sie hat Geschichtsfilme nicht nur in ihrem Bezug zur tatsächlichen Welt befragt, sondern die erzählte filmische Welt auch quellenkritisch analysiert. Im Zentrum ihrer Analysen standen mentalitätsgeschichtliche Überlegungen: die Filmbilder und die durch sie vermittelten Aussagen wurden als Quellen für Bewusstseinslagen zeitgenössischer Lebenswelten interpretiert (Wilharm 2006). Auch Anton Kaes begann in den 1980er Jahren mit der Untersuchung von Geschichtsfilmen der deutschen Nachkriegsgeschichte, beschränkte sich aber, wie andere auch, hauptsächlich auf werkimmanente Interpretationen (Kaes 1987). Ein stärkeres Historikerinteresse an Geschichtsfilmen blieb aber aus, selbst [9]dann noch, als das Fernsehen in den 1990er Jahren zum Leitmedium der populären Geschichtsdarstellung wurde. Erst nach der Jahrtausendwende begann eine breitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Geschichte in populären Medien, allerdings noch nicht grundsätzlich und systematisch, sondern bezogen auf Teilaspekte.

Untersucht wurde hauptsächlich die Darstellung der NS-Zeit im deutschen Nachkriegsfilm (so z.B. Bösch 2009; Vatter 2008), aber auch dem Mittelalter, der Antike und der Archäologie wurden Studien gewidmet (Meier/Slanička 2007a; Lochman/Späth/Stähli 2008; Gehrke/Sénécheau 2010). Der zweite Untersuchungsschwerpunkt bezog sich auf die Rolle von ZeitzeugenZeitzeugen in Geschichtsdokumentationen seit den 1980er Jahren (Keilbach 2003, 2005, 2008; Sabrow/Frei 2012). Dabei ging es einerseits um die Fragen der Glaubwürdigkeit und des Erkenntnisgewinns von Zeitzeugenaussagen, also um Zeitzeugen als Quelle, andererseits um die Zeitzeugen als Katalysatoren einer zunehmenden Personalisierung und Emotionalisierung von Geschichte im kollektiven, massenmedial gestützten Erinnerungsdiskurs der Gegenwart. Drittens nahmen sich die Historiker das Themenfeld der populären Darstellung von Geschichte in unterschiedlichen populären Medien (Zeitschrift, Comic, Film, Fernsehen, Internet) und Einrichtungen der Erinnerungskultur (Denkmäler, Museen, Ausstellungen etc.) vor. Barbara Korte und Sylvia Paletschek leisteten 2009 mit der Herausgabe des Sammelbandes „History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres“ einen wichtigen Beitrag zum Untersuchungsfeld der populären Geschichtskultur. Zeitgleich widmete sich auch die Zeitschrift „Zeithistorische Forschungen“ in einem monothematischen Heft (3/2009) der populären Geschichtsschreibung. Wie diese populären Geschichtsmedien im Einzelnen genutzt werden und welche Wirkung sie entfalten, das ist allerdings noch ziemlich unklar. Viertens beschäftigt sich die Geschichtswissenschaft zunehmend auch mit den Fragen der historischen AuthentizitätAuthentizität, authentisch, Authentifizierung und ‚Objektivität‘ in audiovisuellen Geschichtsdarstellungen. Dabei ist man sich weitgehend darüber einig, dass es sich bei erzählter Geschichte, unabhängig davon, welches Erzählmedium genutzt wird, um Rekonstruktionen von historischen Welten handelt, die die tatsächliche historische Welt weder abbilden noch darstellen, sondern sie allenfalls repräsentieren. Je stärker die filmische Rekonstruktion dabei auf die Einarbeitung von historischen Quellen setzt (Archivbilder und -filme, Originaltöne, schriftliche Dokumente, ZeitzeugenZeitzeugen etc.), desto stärker erzeugt sie den Eindruck von AuthentizitätAuthentizität, authentisch, Authentifizierung und desto größer wird damit auch ihre dokumentarische Glaubwürdigkeit. Je weniger sie es tut und stattdessen auf Spielszenen baut, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen szenischer und dokumentarischer bzw. zwischen fiktionaler und faktualer Geschichtsdarstellung (Fischer/Wirtz 2008).

[10]Die Flüchtigkeit der Filmbilder hat viele Historiker bis in die 2000er Jahre hinein davon abgehalten, adäquate Mittel und Methoden für die wissenschaftliche Analyse von Geschichtsfilmen mit explizit geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen zu entwickeln. Erst seitdem sich Geschichtsfilme problemlos von jedermann leicht aufzeichnen und speichern lassen, haben die Bemühungen zugenommen, audiovisuelle Geschichte generell und systematisch mit standardisierten Methoden zu analysieren. Dabei konnten die Historiker auf die große Erfahrung der Medienwissenschaft bei der Filmanalyse zurückgreifen, die seit langem genreübergreifend idealtypische Handlungsmuster in Drehbuch und Film sowie die typischen Rollenzuweisungen, Konfliktmuster und standardisierte Lösungen untersucht. Auf der Grundlage medienwissenschaftlicher Forschungen hat Annerose Menninger in ihrem Buch „HistorienfilmeHistorienfilme als Geschichtsvermittler“ (2010) erstmals ein ausgefeiltes und erfolgreich an zwei Kolumbus-Filmen erprobtes Analysemodell zur Verfügung gestellt. Sie untersucht dabei nicht nur Quellen und Rezeption der filmischen Geschichtserzählungen, sondern fragt auch nach den ErzählformErzählformen und -strukturen, wobei sie die verschiedenen audiovisuellen Erzählebenen genauer in den Blick nimmt: „Auf narrativer Ebene wird die Filmhandlung mit ihrer Erzählstrategie (Erzähler, chronologische Handlung oder Rahmenhandlung), ihrer Geschichte, Problematik und Aussage sowie den Akteuren (Held oder Antiheld, statische oder sich entwickelnde Charaktere) untersucht. Auf visueller Ebene werden Sequenzen und SchnittSchnitte sowie Blickpunkt, Einstellungen und Perspektiven, Wechsel und Fahrten der Kamera betrachtet. Ihr Einsatz hat entscheidende Bedeutung für das Filmerlebnis, die Filmspannung wie auch die Zeichnung handelnder Personen. […] Auf auditiver Ebene werden Sprachmittel (Monologe, Dialoge, Erzähler, Voice-OverVoice-Over), Geräusche (die erst eine natürliche Atmosphäre erzeugen) und Filmmusik (die die visuelle Ebene unterstützt) als dramaturgische Elemente ausgeleuchtet“ (Menninger 2010, 15).

‚Audiovisuelle Geschichte‘ ist ein Element des Visualisierungsschubs, der im 19. Jahrhundert mit der massenmedialen Nutzung von Fotografie, Illustration, Grafik in den Printmedien begann und sich mittels Film, Video, Computergrafik etc. immer weiter in der Gegenwart ausgebreitet hat. Als Folge dieses visual turn leben wir heute in einer Bilderwelt, die sehr viele gesellschaftlichen Erzähl- und Erinnerungsformen prägt. Die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich seit einiger Zeit unter dem Label ‚Visual History‘ mit Bildern als historischer Quelle. Sie hat dazu neue Fragestellungen und Untersuchungsmethoden entwickelt.1 Dabei geht es allerdings in erster Linie um das Einzelbild, insbesondere um die Fotografie. Eine ‚Audio Visual History‘ als Forschungszweig der Geschichtswissenschaft steht noch in den Anfängen.

 

[11]Weiterführende Literatur

Erll/Wodianka Erll/Wodianka 2008a: Astrid Erll/Stephanie Wodianka (Hg.), Film und kulturelle Erinnerung: Plurimediale Konstellationen. Berlin, New York 2008.

Hickethier 2010: Knut Hickethier, Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart, Weimar 20102.

Paul 2006: Gerhard Paul, Visual History: Ein Studienbuch. Göttingen 2006.

Menninger 2010: Annerose Menninger, Historienfilme als Geschichtsvermittler: Kolumbus und Amerika im populären Spielfilm. Stuttgart 2010.

Straub 1998a: Jürgen Straub (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a.M. 1998.

[13]2 Audiovisuelles Erzählen

Die Welt steckt voller Erzählungen. Wir lesen und hören, wir verbreiten und erhalten Tag für Tag Erzählungen, die von gegenwärtigen und vergangenen Ereignissen handeln. Als gesellschaftliche Wesen brauchen wir nicht nur Erzählungen, sondern definieren wir uns auch über sie. Erzählen ist ein Lebenselixier, eine ständige Kräftigung und Verjüngung von familiären, sozialen oder nationalen Gemeinschaften. Erzählungen führen zwei Perspektiven zusammen, die des Erzählers und die des Zuhörers. Dieses Zusammenspiel ist unabdingbar für das Erzählen: Jede Erzählung entsteht, nimmt sprachliche Gestalt an, entwickelt Spannung und Tempo einzig und allein in Hinblick auf einen tatsächlichen oder imaginären Zuhörer. Und umgekehrt: jeder Mensch hört auf die Stimmen in seiner Umgebung, seien sie natürlichen Ursprungs (Familie) oder technischen Ursprungs (Massenmedien) in der steten Erwartung, es könne sich eine Erzählung entwickeln. Wenn etwas erzählt wird, geht es meistens um die Gegenwart, um das Hier und Heute. Neuigkeiten werden gehandelt, die all das enthalten, was uns Menschen persönlich gerade interessiert und aufregt und was wir gerne an andere weitererzählen. Dazu gehört neben dem alltäglichen Tratsch und Klatsch auch das, was an Besonderem in der Welt passiert, das, was die Nachrichten erzählen. Das ist nicht nur heute so, sondern gilt auch für die Vergangenheit. Bevor wir aber die audiovisuellen Geschichtserzählungen untersuchen, wollen wir uns in diesem Kapitel mit den audiovisuellen Nachrichtenerzählungen der Gegenwart befassen. Das hat zwei Gründe: Zum einen enthalten die Nachrichtenerzählungen bereits all jene grundlegenden Aspekte und Probleme, die auch bei den Geschichtserzählungen wieder auftauchen werden. Zum anderen liefern die Nachrichtenerzählungen den Grundstock für die meisten Geschichtserzählungen: Viele Ereignisse, von denen die Nachrichten heute erzählen, werden Jahre oder Jahrzehnte später in Geschichtserzählungen erneut zum Thema werden.

Audiovisuelle Erzählungen gibt es erst seit knapp 100 Jahren. Sie setzen technische Medien voraus, die Bilder und Töne synchron aufzeichnen, speichern, verarbeiten und verbreiten können. Das begann Ende der 1920er Jahre mit dem Tonfilm, der im Kino als audiovisuelle Erzählung ‚lebendig‘ wurde. Heute sind es meist die digitalen Camcorder, die im Profi- und Amateurbereich zum Einsatz kommen und die Ereignisse nicht nur audiovisuell aufzeichnen, sondern auch direkt wiedergeben können. Bei den alten wie auch den neuen AV-Medien [14]befinden sich Bild und Ton auf unterschiedlichen, voneinander getrennten Ebenen (Spuren). Die visuelle Ebene speichert alle Bildquellen der sichtbaren Welt, zum Beispiel Landschaften oder Personen, aber auch Fotos, Texte, Grafiken. Die auditive Ebene speichert alle Tonquellen der hörbaren Welt, zum Beispiel Geräusche, Stimmen, Musik. Handelt es sich um Aufnahmen von professionellen Fernsehteams, dann werden diese durch Bild- und Tonprotokolle dokumentiert (Tag, Uhrzeit und Ort der Aufnahme; bei Interviews auch Namen der interviewten Person). Damit wird die Tatsächlichkeit des gefilmten audiovisuellen Ereignisses belegt. Genannt wird auch der Name des Kameramanns, weil er für die (technische) Bildqualität, die Einstellungen, die Perspektiven verantwortlich zeichnet und den Bildern seine ‚Handschrift‘ gibt. Da die filmischen Nachrichtenerzählungen der Gegenwart der Stoff für zukünftige Geschichtserzählungen sind, behalten auch die Bild- und Tonprotokolle ihre Bedeutung. Sie dienen dazu, das in Geschichtsdokumentationen verwendete Archivmaterial als authentisch zu deklarieren (→ Kap. 2.3.2).

Ereignis und Erzählung

Im Leben eines jeden Menschen spielen selbst erlebte oder medial vermittelte Ereignisse eine wichtige Rolle. Die als ,bedeutend‘ empfundenen Ereignisse werden vom Einzelnen verarbeitet, in dem dieser sie in seine sprachlich erworbenen Denk- und Erzählmuster einfügt. Diese Muster entsprechen in hohem Maße denen, die im jeweiligen sozialen und kulturellen Umfeld Verwendung finden. Solche Erzählmuster (Klischees, Stereotypen) erleichtern den Austausch von Erzählungen zwischen den Mitgliedern von Erzählgemeinschaften (Familie, Freundeskreise etc.). Und sie vereinfachen das Speichern von wissenswerten Dingen im Gedächtnis. Wenn wir Wirklichkeit wahrnehmen, deuten und schließlich erinnern, so die Kulturwissenschaftlerin Astrid Erll, „greifen wir auf kulturspezifische Schemata zurück, d.h. auf innerhalb von Kollektiven (Familien und anderen Gruppen, Gesellschaften usw.) standardisierte mentale Wissensstrukturen, die bestimmte Aspekte der Realität in abstrakter und generalisierender Form repräsentieren“ (Erll 2008, 12f.). Die wichtigen erlebten oder medial vermittelten Ereignisse werden im Verlauf des Lebens durch Erinnerung zu Merkposten der jeweiligen Lebensgeschichte.

Auch das kollektive Gedächtnis speichert Ereignisse ab, die von sozialen Gruppen wahrgenommen und für wichtig erachtet werden. Wahrgenommen werden sie vor allem in den Massenmedien, und zwar meist als Nachrichtenerzählungen, die tagtäglich die wichtigsten Ereignisse des Weltgeschehens vermitteln. Um diese aktuellen Geschehnisse des öffentlichen Lebens aufzuzeichnen und audiovisuell bereitzustellen, sind weltweit tausende Reporter und Kameraleute im Auftrag von Nachrichtenredaktionen und -sendern zu den Schauplätzen des [15]Geschehens unterwegs, um von dort zu berichten. Heutzutage treffen die Nachrichtenprofis dort natürlich auch auf zahlreiche Foto- und Videoamateure, die die Geschehnisse mit ihren Camcordern oder Handys festhalten. So entstehen ‚vor Ort‘ audiovisuelle Erzählungen mit sehr unterschiedlichen Perspektiven und für ganz unterschiedliche Personengruppen, die je nach Nachrichtenwert entweder wieder gelöscht werden, als unterhaltsame buzz feed im Internet kursieren oder als breaking news die Nachrichtensendungen beherrschen.

BREAKING NEWS – ANSCHLAG AUF DAS WORLD TRADE CENTER (USA 2001)

Am 11. September 2001 sind die Brüder Jules und Gedeon Naudet mit ihrem Kamerateam in New York unterwegs. Sie drehen eine Alltagsreportage über eine Feuerwache. Bis zum 11. September war nichts Aufregendes passiert und auch an diesem Tag erwartet niemand etwas Besonderes. Die Männer von der Feuerwache brechen zu einem Routineeinsatz auf, aus irgendeinem Kanaldeckel in der Nähe des World Trade Centers (WTC) war Gas ausgetreten. Die Kameras der Brüder Naudet beobachten, wie die Männer unschlüssig um den Gullydeckel herumstehen und überlegen, was sie machen sollen. In diese Allerweltszene hinein dringt das Geräusch eines niedrig fliegenden Passagierjets. Der Lärm der Triebwerke nimmt zu und plötzlich, wie um sich zu orientieren und diesem Geräusch auf die Spur zu kommen, schwenkt die Kamera hoch und erfasst das Flugzeug. Sie folgt ihm, wie es durch die Häuserschluchten fliegt und sich dann beim Einschlag in das World Trade Center in einen Feuerball verwandelt. Auf den Gesichtern der Beobachter zeichnet sich erst ungläubiges Erstaunen, dann Entsetzen ab. Noch kann niemand von ihnen begreifen, was genau geschehen ist, doch jeder weiß, dass der Einschlag der Flugzeuge ein katastrophales Ereignis ist, das das Land verändern wird …

So oder so ähnlich könnte eine Erzählung beginnen, die von den Schreckensereignissen des 11. September 2001 in New York erzählt. Ein Leser, der sich nicht nur für den Inhalt und Verlauf der Ereignisse interessiert, sondern auch für das Erzählen selbst, wird bemerken, dass es einen Unterschied gibt zwischen der Erzählung, die er gerade liest, und dem Ereignis, das ihr zugrunde liegt. Dieser Unterschied wird in vielen alltäglichen Erzählsituationen erfahrbar, wenn jemand ankündigt, „ich erzähle dir jetzt mal, was passiert ist.“ Der Erzähler unterscheidet nämlich dabei zwischen seiner Erzählung, die gleich folgen wird („Ich erzähle Dir jetzt mal,…“) und einem ‚Ereignis‘, das sich in der unmittelbaren oder früheren Vergangenheit ereignet hat („… was passiert ist“) und das Ausgangspunkt der Erzählung ist. Die Unterscheidung markiert einen fundamentalen Sachverhalt: Tatsächliche Ereignisse sind Unikate, die es nur einmal gibt. Sie haben ihre Zeit, ihren Ort, ihre Akteure und Abläufe, sind aber zum Zeitpunkt ihres Geschehens noch nicht erzählbar. Erst durch die Fähigkeit der Menschen, [16]sichtbare und hörbare Geschehensabläufe aus der sie umgebenden Welt mit den Sinnen zu erfassen (Wahrnehmung), sprachlich zu benennen (Codierung, Formung) und zu erzählen (Vermittlung), wird die Welt meist amorpher sprachloser Geschehnisse zu einer erzählten Welt. In dieser erzählten Welt werden die als ,wichtig‘ eingestuften Ereignisse als bedeutsame Zustandsänderungen im raumzeitlichen Ablauf des Weltgeschehens dargestellt (Mauerfall, 9/11, Brexit). Sie markieren einen Unterschied zwischen einem Zustand ‚davor‘ und einem ‚danach‘, haben einen Anfang und ein Ende. Dennoch kann es von einem einzigartigen tatsächlichen Ereignis zahlreiche verschiedene Erzählungen geben, abhängig davon, wie viele Erzähler sich des Ereignisses im Laufe der Zeit annehmen und von welchem Standpunkt aus sie erzählen.

So war es auch am 11. September 2001, als die Kameraleute der Brüder Naudet zufällig Zeugen des Einschlags der Flugzeuge in die Twin Towers wurden. Damals dauerte es nicht lange, bis auch die kommerziellen News-Sender mit ihren Übertragungswagen (Ü-Wagen, ausgestattet mit Aufzeichnungs-, Schnitt- und Sendetechnik) vor Ort waren. Sie richteten ihre Kamera(s) auf die Twin Towers und ihre Antennen auf den Satelliten aus und sendeten die Bilder live als ‚cleanfeed‘ (unbearbeitet) an ihre Fernsehstationen. Dort wurde der große Nachrichtenwert der Bilder sofort erkannt und entschieden, das laufende Programm sogleich zu ändern und die Bilder vom Geschehen als ‚breaking news‘ mit maximaler Reichweite zu verbreiten. Als die Bilder öffentlich wurden, wollten weltweit auch viele andere Fernsehsender das Live-Signal übernehmen, aber es gab die üblichen rechtlichen, technischen und redaktionelle Probleme: Nachrichtenteams mussten zusammengerufen, die Leitungen angemietet und geschaltet, die Studios besorgt und hochgefahren, die Lizenzkosten für Bilder ausgehandelt werden – alles Dinge, die einige Zeit brauchen. Auch bei deutschen Fernsehsendern gab es Schwierigkeiten. Als man dort über die Live-Bilder verfügte, mussten die Nachrichtensprecher aus ihren 6000 km entfernten Studios einen ‚livestream‘ von schockierenden Bildern kommentieren, zu denen die Hintergrundinformationen noch weitgehend fehlten.