Jack Kerouac konnte nicht Auto fahren

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Aus der Reihe: Lindemanns #238
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Entlang der Straße hat ein Kandidat mit dem ansprechenden Namen Randy Angst überall Schilder aufstellen lassen, für einen Republikaner kein unpassender Name. Das Wort „Angst“ kennt man auch in Amerika, gerne in Verbindung mit „German“. In Ft. Wood teilt sich Greyhound das Gebäude mit Dr. John’s Lingerie Novelties – „Absolut kein Eintritt unter 18!“ – und während ich noch darüber sinniere, was für eine Art Doktortitel man für Reizwäsche benötigt oder ob das Geschäft vielleicht Mac Rebenack gehört, der vor Jahrzehnten in New Orleans als Dr. John Karriere machte, entert eine Brigade Marines den Bus und legt alles in Beschlag. Milchgesichter, die nicht den Eindruck erwecken, als hätten sie bei Dr. John schon Zutritt. Was soll das für ein Krieg sein, den sie in einem Greyhound gewinnen wollen? Jetzt wird’s jedenfalls richtig gemütlich, der Gang ist mit Seesäcken zugestellt und wer aussteigen will, muss drüber klettern. Sicher gegen jede Vorschrift, aber niemand sagt was, schließlich verteidigen die Jungs die Freiheit aller Anwesenden, meine ausgenommen.

Jede Menge Laster mit leeren Truthahnkäfigen überholen uns, es ist Herbst und damit Schlachtsaison. Eine relativ umfangreiche farbige Frau porträtiert die Reisenden mit Kohlestift, Skizzen, wie man sie von Gerichtszeichnern kennt. Das Gewackel des Busses treibt die Zeichnungen indes dem Expressionismus zu. Sie hat einiges zu tun, die Busse sind allgemein proppenvoll – heißt das nun, dass sich die Leute nicht mehr ins Flugzeug trauen, dass es keine besseren Verbindungen gibt oder überhaupt welche, oder dass die Armut zunimmt? Ich verlasse den Bus an der Haltestelle beim Flughafen, Lambert Airport St. Louis, Missouri, so kann ich meinem Abholer vorgaukeln, mit dem Flieger angekommen zu sein. Was würde das denn für einen Eindruck machen: Ein Künstler, der im Greyhound anreist? Nach drei Tagen Exkursion durch die tiefste Provinz erscheint mir ein Starbucks wie der Inbegriff von Hochkultur und ich gelobe, nie wieder zu meckern über die Globalisierung. Der Greyhound ist eigentlich nur zu empfehlen, wenn man sich auf nichts anderes konzentrieren muss als auf das Reisen selbst, über starke Nerven und ein gewisses Durchsetzungsvermögen verfügt und einen wenig ausgeprägten Geruchssinn.

St. Louis. Hier im Süden der Stadt haben früher weiße Arbeiter gewohnt, die überwiegend bei Anhaeuser Busch gearbeitet haben. Heute ist das Viertel gemischt, geblieben ist der bunkerartige Bau des Deutschen Kulturvereins in der Jefferson Avenue mit nur wenigen, schießschartenartigen Fenstern, nicht gerade einladend. Vor dem Haupteingang, der nebenbei schon seit Jahren nicht mehr genutzt wird, baumelt eine zerschlissene US-Fahne. „Keep out!“ steht auf zahlreichen Schildern. Das kann mich nicht schrecken, ich kenne den Auftrittsort bereits. Vor zehn Jahren hatte mich das Anwesen allerdings außer Fassung gebracht mit seinen Portraits von Trachtenvereinen, mit Pokalen und dem Ehrenteller der Stadt Mosbach, abgerundet von Burschenschaftswimpeln und Deckblättern von abwegigen Publikationen wie „Der Schwengelbrunnen“ hinter Glas – um Gottes Willen, dachte ich bei wachsender Panik, wohin hat mich Goethe denn jetzt gelockt? Das Foto einer in die Jahre gekommenen Trachtengruppe über dem Sinnspruch „Tugend und verlorene Zeit kommt nie wieder in Ewigkeit“ und das ebenfalls gerahmte Gedicht von Catherine Großkopf „Amerika, die neue Heimat“ gaben mir fast den Rest. Das Zentrum der Donauschwaben ist ein Hort strengster Deutschtümelei, Erika Steinbach würde es lieben.

Keiner der Anwesenden deutlich unter 70, nicht unbedingt meine Zielgruppe. Der damalige Institutsleiter muss mir meinen Schrecken gleich angesehen haben, denn er begrüßte mich aufgeräumt mit den Worten: „Keine Bange, nachher kommen völlig andere Leute!“ Er hatte Recht – und sie kamen in Scharen, Deutschschüler, Studenten, Amerikaner, und nicht wenige Auswanderer, immer die spannendste Mischung bei Auftritten wie diesen. Doof ist es häufig bei Unis oder in Schulen, wenn Dozenten oder Lehrer glauben, sie bräuchten nichts vorzubereiten, weil jetzt ein Gast die Stunde bestreitet. In St. Louis sind sie ausgehungert nach Sprache, es ist unverantwortlich, dass das Goethe-Institut sich nach nur wenigen Jahren Aufbauarbeit wieder aus dieser Stadt zurückgezogen hat. Erst macht man den Leuten den Mund wässrig, lässt sogar eine neue Leiterin antanzen, mit schulpflichtigem Kind, nur um ihr nach einem Jahr zu eröffnen, dass die Bude dicht gemacht wird und die vielen Besucher im Regen stehen gelassen werden.

Der Rückzug der Deutschen gerade auf kulturellem Gebiet könnte sich wirtschaftlich rächen, denn ohne Präsenz finden wir einfach nicht statt im Sozialleben einer so großen Stadt wie St. Louis, und in Cincinnati oder Vancouver ist das nicht anders. Wenigstens haben die Leute von St. Louis die Schließung des Instituts nicht klaglos hingenommen, sondern selbst die Initiative ergriffen: Honorarkonsulin Anne Beck hat Gelder aufgetrieben, und dank der tatkräftigen Hilfe engagierter Zeitgenossen gelang es, das German Culture Center zu gründen, das dem Universitätszentrum für Internationale Studien angegliedert ist und gleichzeitig als Goethe-Zentrum fungiert, d.h. nicht als vollwertiges Institut – aber immerhin. Ein Drittel der Gelder kommt aus München, die Uni trägt ein Weiteres dazu bei, der Rest ergibt sich aus Spenden, vor allem vom Förderverein. Larry Marsh hält den Laden am Laufen, arbeitet mit den 17 deutschen Vereinen zusammen, pflegt den Kontakt zu den Deutschlehrern, organisiert Workshops, verpflichtet Künstler, auch zu Klassenbesuchen, betreut die Studenten der umliegenden Unis, stellt in seinem Raum an der University of St. Louis Bücher und Filme zur Verfügung, lädt zu einer regelmäßigen Kaffeestunde ein und, und, und. Deutschland, so Larry, habe wegen seiner Geschichte nie einen leichten Stand gehabt, und die Deutschamerikaner hätten sich stets eher bedeckt gehalten, obwohl sie gerade hier im Mittleren Westen eine ansehnliche Zahl ausmachten. Mit zwei Weltkriegen und Hitler könne man natürlich nicht reüssieren, weswegen sie unverzüglich echte Amerikaner wurden. Generell, meint Larry, sei die deutsche Sprache auf dem Rückzug, Missouri mache da keine Ausnahme, viele Schüler würden Spanisch wählen, was ja auch die einfachere Sprache sei. Oder sie lernen gleich chinesisch. Ein Amerikaner hat neulich in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschrieben, eines der ersten deutschen Wörter, das er in einem Goethe-Institut gelernt hätte, sei „Recycling“ gewesen. Das GCC wolle mit seiner Arbeit erreichen, dass es wieder cool wird, Deutsch zu lernen. Nur zu gerne hätte ich da auch zu beigetragen, aber vielleicht war ich in den letzten Jahren – Goethe, Webster- und Washington-University, Kulturverein – einfach zu häufig dort; möglicherweise werden gerade ein paar Veranstaltungen zuviel angeboten, wie Larry mutmaßt: Anders als sonst verirren sich gerade mal zwei Dutzend Zuschauer in das doch recht weiträumige Geläuf. In einem derart großen Saal eine Atmosphäre herzustellen, ist ein vergebliches Unterfangen, und Larry ist zerknirscht, obwohl ihn keine Schuld trifft. Manchmal erwischt man einfach den falschen Tag, die Besucherzahl lässt sich nie vorhersagen, auch in Deutschland nicht.

In Amerika präsentiere ich ein anderes Programm als zu Hause, mit nicht wenigen Texten über Amerika und leicht erfassbaren Liedern, um den Einstieg zu erleichtern. Manche beherrschen das Deutsche nur rudimentär, können grad mal fließend „Guten Tag“ sagen, lassen sich aber gerne von ihren Nachbarn anstecken, viele kommen nach dem Auftritt mit Anregungen oder Kritiken und genießen es sichtlich, deutsch sprechen zu können.

Mittelmäßige Abende gehen nie spurlos an einem vorüber, ich verlasse die Stadt am nächsten Tag achselzuckend in Richtung Minneapolis, 900 Kilometer den Mississippi hinauf, natürlich im Flugzeug, in einen der Gefrierschränke des Mittleren Westens, wo die Autos serienmäßig mit beheizbaren Außenspiegeln ausgestattet sind. Eine Stadt mit erstaunlich wenigen Countrysendern, trotzdem habe ich die Gegend immer gemocht, wegen ihrer Weltoffenheit, wegen meines Radiogottes Garrison Keillor und nicht zuletzt wegen Penny Hill, die eine Zeitlang meine amerikani-schen Auftritte organisiert und koordiniert hat, eine lebendige Mischung aus Anekdotenschatz und Lexikon. Lange Zeit hat sie in Deutschland gelebt, in St. Paul ist sie das „Mädchen für alles“ des dortigen Germanic-American-Instituts. Geboren aber ist sie in Missouri. Sie erzählte mir einmal von dem Schild in Belton südlich von Kansas City: „No goats, mules and chickens at any time in a public park!“ Sie hat gute Arbeit geleistet, der Auftritt an der Hamline University ist exzellent besucht, hundert Leute, die Resonanz gut, Aufbauarbeit für beide Seiten, erstmals erlebe ich jemanden mit Popcorn im Publikum, nur am Schluss verharren alle auf den Stühlen und Penny muss die Initiative ergreifen: „Die Leute in Minnesota stehen nach dem Auftritt erst auf, wenn man es ihnen sagt!“ Pat Metheny, der wie sie aus Missouri stammt, hat sich einmal in einer Fernsehdoku darüber gewundert, dass das Publikum in Deutschland immer gleich nach dem Konzert verschwinden würde.

Ich bin jedenfalls erleichtert, das war schon ein ganz anderer Abend als der vor elf Jahren im Deutschen Haus, volles Auditorium, dreihundert Leute, aber schnell wurde klar, dass nur eine Minderheit der deutschen Sprache mächtig war. Ich absolvierte in meiner Not ein etwa zehnminütiges Set und eröffnete dann allen, dass diejenigen, die schon zum gemütlichen Teil im Ratskeller unten übergehen wollten, dies jetzt gerne tun könnten. Mir blieben dreißig, aber die hörten zu. Vom Ratskeller ist mir der Mundharmonikaspieler in Erinnerung geblieben, der den musikalischen Teil des Abendprogramms bestritt, mindestens neunzig Jahre – er musste von einem unwesentlich jüngeren Kerl, der hinter ihm auf einem Stuhl hockte, gestützt werden.

 

Man servierte übrigens deutsches Essen. Zu Goethe-Zeiten durchlitt ich das häufig, privat bei irgendwelchen Hochschullehrern, die der Meinung waren, dass ich eigens nach Amerika gereist wäre, um dort die deutsche Küche zu studieren. Ich habe in den letzten 20 Jahren garantiert nur ein einziges Mal Kassler Rippenspeer mit Kartoffelpürree gegessen, mit einem Stück Schwarzwälder Kirschtorte als Dessert – und das war in Dearborn, Michigan, anlässlich einer Goethe-Veranstaltung. In einem deutschen Restaurant mit Ölbildern an der Wand, die aussahen, als hätte sie Hitler persönlich gemalt, wie sich eine Deutschlehrerin auszudrücken beliebte. Und während ich meine Texte vorlas neben einem Monstrum von Schrank, der aussah wie ein Halbbruder von Göring, trat unversehens eine Bedienung neben mich, öffnete einen halben Meter neben mir eine Schublade und fing an, in aller Seelenruhe Besteck einzusortieren.

In den Zwillingsstädten Minneapolis und St. Paul schlossen sich bereits in den 50er Jahren verschiedene Vereine – Turnverein, Chöre, Edelweiss-Verein, Wanderverein, insgesamt völlig undeutsche Aktivitäten – im Kulturhaus zusammen, um ihre Aktivitäten zu koordinieren. Tatsächlich funktionierte das sogar. Unter diesem Dach wurde das Germanic-American Institute gegründet, das vor allem unter der Ägide eines heimgekehrten Lehrerehepaares zu einer stark frequentierten Sprachschule gedieh, die mittlerweile als offizielles Testzentrum für das Goethe-Institut fungiert, wo man anerkannte Zertifikate erwerben kann. Nach Anlaufschwierigkeiten gedeiht nun auch die Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Chicago, welches gelegentlich Künstler anbietet und den einen oder anderen Dollar beisteuert. Unterstützt wird die Arbeit von einer Deutschlehrervereinigung MN-AATG und der Vereinigung der Fremdsprachenlehrer MCTLC.

Entgegen des amerikanischen Trends ist hier das Interesse an Deutsch gestiegen. „Das liegt an der Intelligenz der Leute in der Region, die erkannt haben, dass sie globale Menschen werden müssen!“, beteuert Penny. Vor allem Business-Deutsch sei ein Renner, man biete Crashkurse für Manager aus technischen und medizinischen Betrieben an, die nach Deutschland geschickt werden, und bemühe sich dabei, auch deutsche Kultur und deutsches Brauchtum näher zu bringen. Das Ganze nennt sich „cross-cultural training“. Die Amerikaner seien sehr interessiert, viele Schüler blieben bei der Stange, meint Penny Hill. Derzeit betreuen 16 Lehrer fast 200 Kursteilnehmer, 70 Kinder nähmen an einem „Intro to German“-Kurs teil, 50 säßen in den Unterrichtsklassen. Pennys Tage in Minnesota sind trotzdem gezählt (der Winter!), sie zieht es ins sonnige Kalifornien, wo wir ihr später wieder begegnen werden.

Wer Amerika ein bisschen kennt, hat eine Vorstellung davon, wie wenig die Mehrheit über die Welt da draußen Bescheid weiß – und da sind solche Initiativen wie in den Twin Cities nur zu begrüßen. Mir haben die Begegnungen mit deutschen Kulturträgern in Nordamerika den Horizont erweitert und gelegentlich großen Respekt abgenötigt, denn deren Arbeit ist nicht einfach, ein bisschen Unterstützung aus dem Mutterland täte gut. Noch dazu haben mich die Auftritte in Nordamerika – manchmal ungewollt – zu einem flexibleren Menschen gemacht, denn oft ist Improvisation gefragt. Man muss bei seinen Auftritten jederzeit mit allem rechnen, überall. Kein deutschsprachiges Publikum – wie in Vermillion, South Dakota, – oder eben schepperndes Besteck in der Schublade. Was kann man mehr verlangen?


Galveston – Take a Hike, Ike!

In Galveston, there ain’t no higher ground.

Greg Trooper

Den Song, den Jimmy Webb 1969 geschrieben und der Glen Campbell auf Platz 1 der Countryhitparade geführt hat, habe ich immer für einen simplen Sehnsuchtsschmalzschmachtfetzen gehalten. Ausgerechnet dem Mann von Nicole Kidman, dem Countrycrooner Keith Urban, einem Australier dazu, blieb es vorbehalten, Aufklärungsarbeit zu leisten. Bei einem Live-Auftritt für den Countrykanal CMT erzählte er, dass er dieses Lied jahrelang gespielt habe, bevor sich ihm die Story eröffnete: Die Geschichte eines jungen Mannes, der seine Heimatstadt und sein Mädchen verlassen muss, um im Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 zu kämpfen, und der natürlich Angst vor dem Sterben hat und Sehnsucht nach den Stränden von Galveston. Da das Lied während des Vietnamkriegs ein Hit war, galt es als Antikriegslied. Von Campbell ist mir darüber hinaus ein schöner Satz erinnerlich, aus einer Fernsehdokumentation über sein Leben, die auch den jahrelangen exzessiven Konsum von allem Möglichen ausleuchtete, und darin sprach er sinngemäß: „Ich war in der Hölle. Gehen Sie bloß nicht dorthin, das ist kein sehr komfortabler Platz!“

Die Sehnsucht nach Galveston kann ich nachvollziehen, zum Glück ohne tragische Umstände. Die Stadt hat sich über all die Jahre allmählich in unsere Herzen geschlichen, natürlich wegen seiner Bewohner, von denen ich zwei hervorheben möchte. Meine Frau und ich sind bekennende Wiederholungstäter, Galveston zählt seit fünfzehn Jahren zum festen Bestandteil jeder U.S.-Reise. Es waren Julie Ann und Denice, die uns die Stadt erschlossen haben. Denice Franke habe ich zum ersten Mal im Video „One Fair Summer Evening“ Ende der achtziger Jahre wahrgenommen, bei einem Konzert von Nanci Griffith in der Anderson Fair in Houston, als Denice die Harmonien gesungen hat, wie zuvor auch schon bei Lyle Lovett. Hey, das sind Helden für mich!

Dann war da dieser Abend im Februar 1991 im Folkclub in Villingen, zu dem ich eigens aus Heidelberg anreiste, durch Schnee und Eis, aber wenigstens im Zug, und wir kamen ins Gespräch, und wenig später kam sie mit Julie Ann nach Heidelberg, und da sie damals neun Monate lang durch Europa reisten, those were the days, my friend, diente ihnen Heidelberg als gelegentliche Basis. Sie schnürten in einem preiswert erstandenen Opel Kadett über europäische Autobahnen, gerne mit 90 km/h auf der linken Spur, da sie dachten, in der Alten Welt dürfe man auch rechts vorbeiziehen. Es ergab sich der eine oder andere gemeinsame Auftritt, u.a. einer beim WDR, der ihnen einen ganzen Monat Reise finanzierte. Über die Jahre haben wir uns immer gesehen, willentlich, gegenseitig besucht, ausgetauscht, es ist so familiär, dass mir beim Abschied regelmäßig das Wasser in die Augen steigt.

Denice hat die Liedermacherei für eine Weile an den Nagel gehängt und gärtnert jetzt professionell und findet das völlig okay, der Kunststress ist weg und vor allem die Reiserei. Julie Ann organisiert für die Stadt u.a. ein großes Vogelbeobachter-Festival, kennt jeden und alles hier, schließt sich mit den Nachbarn kurz, beide haben uns die Bespielbarkeit des Platzes Galveston beschert. Sie haben binnen fünf Jahren Wurzeln geschlagen, kennen sämtliche Oppossums mit Vornamen, haben wunderbare Freunde gefunden, merkwürdige Leute natürlich, denn in Galveston gibt es nicht so viele Spießer. Aber schon auch. Über Key West sagt man, es sei die Welthauptstadt der schwarzen Schafe. Galveston ist die Bezirkshauptstadt.

Wohl eher unbewusst habe ich ein Faible für solche Lokalitäten in exponierter Lage entwickelt. Den Golf von Mexiko haben Key West und Galveston als Verbündeten und Gegner gemeinsam, die (Halb)-Insellage und das damit verbundene Selbstbewusstsein bis hin zu Unabhängigkeitsbestrebungen. Dazu die lästigen Kreuzfahrtschiffe, hier stauen sich die Touristen, die Bierbäuche, die Erlebnisspaßhaber in ihrer Standarduniform: Unterhemd, Bermudashorts, weiße Turnschuhe, die freigelegte Haut nicht selten krebsrot. Das männliche Schönheitsideal orientiert sich am Piraten im Ruhestand, lediglich der Mut zum Holzbein geht ihnen ab. Über den weiblichen Einheitsdress breiten wir den Mantel des Schweigens aus. Aber es gibt ja genügend Möglichkeiten, beidem auszuweichen.

Gerade zwei Blocks von Key Wests Duval Street entfernt wähnt man sich in der Karibik, im Blue Heaven Restaurant, von Jimmy Buffett besungen, tanzen die Hühner auf den Tischen. Was für Key West Duval und Mallory Square, ist für Galveston der „Strand“, d.h. die Downtown sowie der Küstenstreifen mit dem Seawall Boulevard, denn die bündeln die Nervensägen. Wobei man in der Nachsaison überall einen Platz findet, im Restaurant als auch davor, also beispielsweise in den Wochen zwischen Neujahr und Mardi Gras. Wer Ruhe sucht, sollte unbedingt dem sog. „Spring Break“ ausweichen, wenn sich die Collegekids entlang der Golfküste die Kante geben. Das Wetter kann im Januar zwar Temperaturen um den Gefrierpunkt erreichen, wenn aus dem Norden ein gemeiner Wind namens „Blue Norther“ zuschlägt, aber lange hält das nie vor. Und ein Sonnenparadies entfaltet auch ohne Sonne seinen eigenen, unaufdringlichen Charme, Melancholie ist die unangenehmste Stimmungslage nicht, und die Temperaturen im Sommer sind mörderisch, wenn das Heißgebläse aus Mittelamerika zur Hochform aufläuft – wobei Galvestonians stur behaupten, dass es im Sommer meist 10˚F kühler und im Winter 10˚F wärmer ist als in Houston.


Fatalerweise übt die Stadt eine magische Anziehungskraft auf Hurrikane aus. Die meisten von ihnen nehmen ihren Ursprung vor der Küste Westafrikas und lassen sich durchaus als Rache Afrikas für die Sklaverei interpretieren. 1961 kam ein grosser vorbei, eigentlich soll das alle 20 Jahre passieren, man spielt Golfküstenroulette: Die Bewohner scheinen die Gefahr fröhlich-fatalistisch zu nehmen, generell fühlt man sich unverwundbar. Das hat man mit der Erdbebenerwartungszone San Francisco gemein, das Pfeifen im Walde, Fatalismus, der mit einer gewissen Weltoffenheit einhergeht. Mit dem Ozean ist nicht zu spaßen, nicht selten fliegen diese orangefarbenen Rettungshubschrauber die Küstenlinie entlang auf der Suche nach irgendwelchen Gestrandeten. Gerade wurde die Stadt als beispielgebend für die ganze Nation ausgezeichnet für ihr Warnsystem und ihre Evakuierungspläne. Manche Straßen sind sogar mit Hinweisschildern bestückt: „Das ist keine Hurrikan-Evakuierungsstraße!“ Die Insel ist flach wie ein Pfannkuchen, dreißig Meilen lang und so schmal, dass man zu Fuß maximal eine halbe Stunde braucht, um von der einen Seite zur anderen zu gelangen. Noch etwas: Der Meeresspiegel steigt, die Küste erodiert am Golf, zur Bayseite hingegen wird Sand angeschwemmt. Wir haben es also mit einer Insel zu tun, die sich allmählich auf das Festland zubewegt.

Auftritt Ike, am 8. September 2008. Ein Vierteljahr vorher hatten unsere Freunde ihr Haus bezogen, ein kleines Steinhaus vier Blocks vom Ozean entfernt. Sie hatten unvorstellbares Glück. Es war sicher kein Zufall, dass dieser Hurrikan denselben Vornamen bekam wie der schlägernde Ex-Mann von Tina Turner, worauf die Galvestonians mit ihrem Galgenhumor in Graffitis Bezug nahmen: „Don’t beat me like Tina!“ Eine Frau von der FEMA, der nationalen Koordinationsstelle für Katastrophenhilfe (und bei Katrina Teil der Katastrophe), beschrieb den Unterschied zwischen New Orleans 2005 und Galveston so: „In New Orleans sitzen die Leute heute noch auf der Veranda und warten, dass alles in Ordnung gebracht wird. Nach den ersten Rettungskräften kamen die Galvestonians zurück und schippten Schlamm. Die Leute haben ihren Stolz und lieben ihre Insel.“ Beim Hurrikan „Isidora“ 2002 haben sie in New Orleans alles Vernagelnswerte notdürftig vernagelt und Sandsäcke ausgelegt. Und die Kneipen aufgelassen.

Ähnlich New Orleans litt die Insel vor allem unter den Flutwellen. Schlimmer als die Golfseite, die lediglich Salzwasser abbekam, traf es die Hafenseite: Dieselöl, Benzin und toxischer Schlick mit Substanzen, deren exakte Analyse wohl jedermann in schwere Depressionen gestürzt hätte, verdichteten sich zu einem Sud, der viele der alten Lebens-Eichen absterben ließ, also jene majestätischen Schattenspender, die ihre Äste baldachinartig über die Straßen ausbreiteten, was in einer Stadt mit subtropischem Klima hilfreich ist. Wer sich hier ein Fahrrad mietet, und das ist eigentlich dringend zu empfehlen, weiß jeden Sonnenschutz zu schätzen. Als wäre das nicht genug: Im darauffolgenden Januar vernichtete Frost einen Teil der Palmen – und Frost gibt es sonst nie. Aus vielen Baumstümpfen – „iked wood“ – hat der Künstler Dale Lewis Schnitzereien gefertigt, die vor allem in der Ball-Street zu besichtigen sind und gelegentlich in Ausstellungen.

Aber auch die Meerseite blieb nicht verschont: Dem Flagship Hotel, nicht unbedingt ein Flaggschiff seiner Zunft, aber immerhin aus robustem Beton, hat es die Fassade zerzaust und die Zufahrt – schwere Betonplatten – davongetragen. In Kuba würde es in diesem Zustand nicht weiter auffallen. Leider hat es auch den Balinese Room komplett pulverisiert, ein nationales Kleinod auf einem alten Pier. Ein Barmann des Etablisssements, das früher ein „Speakeasy“ von zweifelhaftem Ruf war, reklamierte für sich, die Margarita erfunden zu haben. Im nahe gelegenen und weniger beschädigten Hotel Galvez gaben sich u.a. die Präsidenten Roosevelt und Eisenhower, der Spielerkönig Sam Maceo und andere Halunken die Ehre. Der jetzige Besitzer, George Mitchell, hat sich schon immer um die Restauration alter Häuser verdient gemacht – nach Ike langte er tief in die Brieftasche. Ihm ist es auch zu verdanken, dass in den 80er Jahren der Mardi Gras zurück in die Stadt kehrte.

 

Etwa 1.100 Häuser wurden nach Ike auf der gesamten Insel verlassen. Aber wie so häufig, erwächst aus der Katastrophe Gutes wie z.B. der Nachbarschaftssinn. „Leute, die womöglich miteinander sterben müssen, sollten lernen, miteinander zu leben“, hat ein gewisser Harris K. Kempner gesagt, weshalb man ihm spontan eine Straße gewidmet hat. Die Galvestonians lassen sich nicht unterkriegen – „Take a hike, Ike!“ – und kümmern sich umeinander. Auf Brachflächen legten sie Gemeinschaftsgärten an. Überall hört man sie werkeln, paradiesische Zeiten für Baumärkte und Handwerker. Im Lokalblatt steht: „Die Firma Mitchell Historic Properties lädt Sie ein, die Downtown von Galveston wieder zu entdecken, wo alles Alte wieder neu ist.“ Das ist nicht einmal abschreckend gemeint, man gibt sich wirklich Mühe, originalgetreu zu rekonstruieren – schließlich macht man Umsätze mit der Historie. Noch etwas Gutes: Nach Ike funktionierten lange Zeit die Parkuhren nicht mehr. Zudem beflügelte er Geschäftsideen: Nachdem an der Küste viele aufgebockte Häuser ihrer Treppen verlustig gegangen waren, annoncierte ein cleverer Zimmermann: „Treppen in nur einem Tag!“ Auch Gerüstbauer und mexikanische Wanderarbeiter dürfen sich die Hände reiben. In den Geschäften auf der Flaniermeile – dem sog. „Strand“ – sieht man überall die blauen „Ikelines“, die den jeweils höchsten Wasserstand anzeigen.

Ike traf am 8. September 2008 punktgenau auf die Stadt. „Danach war es totenstill. Die Vögel kamen erst im März wieder. Es kann Momente geben, da vermisst man sogar Tauben“, sagt Sam, der die Stadt wie so viele verlassen hat. Offizielle Zahlen sprechen davon, dass zwar nur 6 Prozent der Einwohner Galveston den Rücken gekehrt haben, in einem Land ohne Meldepflicht sind diese Zahlen freilich mit Vorsicht zu genießen. Außerdem geht es um Geld – die Einwohnerzahl darf keinesfalls unter 50.000 sinken, der staatlichen Fördergelder wegen. Der Besitzer von Midsummernite Books ist weggeblieben, was in Zeiten von eBooks und Versandhandel auch andere Ursachen haben kann. Das Lunchboxcafé hat den Standort gewechselt, nachdem das alte Land unter gegangen war: Es ist nun schöner und geräumiger. Viele Häuser sehen dank großzügiger Versicherungsprämien besser aus als je zuvor. Und überall flattern diese kleinen, blauen Fähnchen: „Historic Galveston Rebirth!“

Der Golf von Mexico. Dem Texaner dient er als Verkehrsweg zu den Ölplattformen, den Menschen aus Louisiana als schier unerschöpflicher Meeresfrüchteeintopf, obwohl das Shrimpfischen alle Naslang untersagt werden muss, wegen eben jener Ölplattformen. Mississippi hat nur einen kleinen Anteil daran und sowieso fehlt es dort immer an Geld, trotz der hässlichen Casinos, auch Alabamas Rolle ist gering, hier dient der Golf als Parkplatz für Kriegsschiffe. Die Bewohner Floridas dürfen ihn als Gelddruckmaschine betrachten, bevorzugt die Bodenspekulanten, Immobilienmakler und Schnapsbudenbesitzer. Von Houston erreicht man Galveston in 50 Minuten, außerhalb der Stoßzeiten, von beiden Flughäfen verkehrt ein erschwinglicher Shuttle-Bus. Als Steve von CoolTours uns 2013 in Houston am Flughafen aufgabelt, ist er wenig bleich um die Nase. Ob wir die Schießerei mitbekommen hätten, im Nachbarterminal? Nein, wir waren gerade erst dem Einreisesperrfeuer entronnen. Er hätte jemanden absetzen wollen, da seien schon Leute aus dem Terminal gerannt, in den Bus gesprungen und hätten „Los! Vollgas!“ geschrieen. Willkommen in Texas! Bei der Rückfahrt aber nahm uns die uns bis dahin unbekannte Fahrerin, Betty, in den Arm, nachdem sie beobachtet hatte, wie wir uns tränenden Auges von unseren Freunden verabschiedeten.

Für eine Stadt von gerade mal 50.000 Einwohnern hat Galveston erstaunlich viel auf der Pfanne: einen immer noch bedeutenden Hafen, vor allem für die Kreuzfahrtmonster. Das Hospital direkt gegenüber, das zur Universität von Texas gehört und Mediziner aus aller Welt ausbildet. Ein wunderschönes altes Opernhaus. Einen kleinen Nationalpark an der Ostspitze der Insel, Apffel State Park, von dem aus man je nach Interessenlage Pelikane beobachten kann oder die Frachtschiffe, die durch den Galveston Ship-Canal die offene See ansteuern. Im Westen gleiten rosarote Löffler über das Marschland. Okay, es gibt das Cruisergalveston, das Badeölgalveston, das Trolleytourgalveston, das T-Shirt-Galveston, das Eisenbahn- und das Fliegermuseum und banale Freizeitparks wie die Schlitterbahn oder die Moody Gardens mit den drei Pyramiden, I-Max-Kino und eigenem Regenwald; kann man alles haben oder genießen, irgendwann wird noch ein Casino dazu kommen. Man sollte also bald reisen, schöner wird’s nicht, die Bautätigkeit entlang der Küste ist, allen anderen Bedrohungen zum Trotz, beängstigend.

Obendrein gibt es das texanische Galveston mit Pickuptrucks, Walmart und haarigen Steaks, wie Kinky Friedman sie nennt. Tröstlicherweise findet man auch ruhigere Viertel, nichts spricht dagegen, sich ein Fahrrad zu leihen und frühmorgens die Straßen der „Renaissance Zone“ entlangzufahren, unter den verbliebenen immergrünen Eichen, und sich an den Oleander- und Magnolienbäumen zu erfreuen und an den stolzen viktorianischen Villen, z.T. in den schillerndsten Farben. Sogar Spaziergänge sind möglich. Rasche Wechsel von Block zu Block, von Mittelklasse zu Armut, zu Reichtum. Viele Häuser künden von einer prosperen Vergangenheit als bedeutendster Handelsplatz zwischen New Orleans und San Francisco.

Im Jahre 1900 fegte ein Sturm durch die Stadt, der 6.000 Menschen in den Tod riss. Damals trugen Hurrikane noch keine Namen, dafür hat es dieser Jahrhundertsturm zu einem eigenen Museum gebracht, in dem man die damaligen Verheerungen besichtigen kann. Die Rolle als bedeutender Hafen musste Galveston danach an Houston abtreten. Wenigstens errichtete man als Konsequenz aus den Schäden einen Seedeich sowie eine verlässliche Brücke zum Festland. Die Stadt dahinter wurde buchstäblich angehoben, tatsächlich Gebäude um Gebäude mit allen Mitteln der Hydraulik in die Höhe geliftet und behutsam auf robuste Stelzen gesetzt. Anschließend wurde das Hafenbecken ausgepumpt und die schlammige Masse in die Stadt geleitet. In der sengenden Hitze trocknete das Gemisch schnell und Galveston fand sich eine Etage höher wieder, ein Upgrade also. Galveston ist weiterhin ein architektonisches Kleinod mit seinen Südstaatenvillen, viktorianischen Anwesen, den „Vernacular Greek Houses“, also griechisch inspirierten Gebäuden. Sogar die „Shotgunhouses“, kleinere Häuschen, die nur aus einem in die Länge gezogenen Gebäude bestehen, durch das sich also lässig eine Kugel hindurch feuern ließe, entbehren nicht des Charmes.

Die alten Backsteinhäuser aus dem 19. Jahrhundert werden in den oberen Etagen ja nicht dadurch hässlich, wenn man in der unteren geschmackloses Zeugs verhökert. Der Architekturkritiker Howard Barnstorn schrieb, dass Galveston vielleicht nicht gerade die städtebauliche Qualität der Avenue de l’Opéra in Paris erreicht hätte, dieser aber näher gekommen sei als kein anderer Ort in Texas, womöglich im gesamten Westen. Ein preiswertes Vergnügen ist z.B. die Besichtigung des alten Jugendstilpostamts, allzu viele kriegt man davon nicht mehr zu sehen. Trutzburgen wie die Moody Mansion, die auch dem Grafen Dracula gefallen würde, gibt es sonder Zahl. W.L. Moody war ein Finanzmagnat, der als Baumwollfabrikant 1865 in Galveston anfing, das aktuelle Familienvermögen wird auf 500 Millionen Dollar geschätzt. In Galveston haben heute etwa zehn Familien das Sagen. Die Einheimischen bezeichnen sich versnobt als BOI, „born on the island“, stellen sich als solche vor und ziehen damit eine scharfe Grenze zu den IBC, den „Islanders by choice“, den „Imis“, wie die Kölner sagen würden. Die BOI sprechen von Galveston nur als „The Island“.

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