Jack Kerouac konnte nicht Auto fahren

Text
Aus der Reihe: Lindemanns #238
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Anderseits haben Ohio und Wisconsin einmal ernsthaft in Erwägung gezogen, Sexualstraftätern grüne Nummernschilder aufzuzwingen. Ach ja – in vielen Bundesstaaten werden die Schilder in Gefängnissen hergestellt. Polizeifahrzeuge sind neuerdings mit Kameras ausgestattet, die Nummernschilder scannen können, mit denen man Bewegungsprofile erstellen kann. Falls die Familie McCoy also zufällig an einer Moschee vorbeigefahren ist – in Washington wissen sie davon. Und wenn wir vergessen haben, wo wir überall waren – Anruf genügt.

In Tucson, Arizona, konnte ich die Käfer zu Fuß erlegen. In Little Rock, Arkansas, verstand ich sofort, warum Bill Clinton unbedingt weg nach Washington wollte. Florida, Georgia, Mississippi und Louisiana erledigte ich an einem Tag. In Wisconsin, Minnesota und Indiana stachelte ich Fahrer zu Verfolgungsjagden an. In Kalifornien ertrank ich fast in Käfern. In South Carolina wäre ich frühstückshalber fast unter einem Berg Pfannkuchen begraben worden. Für Billings, Montana, brauchte ich exakt neunzig Minuten. Für North Sioux City, South Dakota, sogar fünfundachtzig Minuten weniger, eine Ehrenrunde im Taxi. Richard Wagner hieß mein Taxifahrer in Omaha. In Missouri scheuchte ich den Direktor des Goethe-Institutes St. Louis zwei Stunden lang über Parkplätze. In Fargo, North Dakota, brachte mich der Taxifahrer zu seinem eigenen VW, den ich ablichten durfte, während er das Taxameter ungerührt weiterrattern ließ.

In Memphis nahm mich die Security auf einem Parkplatz hoch. In Honolulu verabredete ich mich um sechs Uhr morgens mit einem Käferfahrer japanischer Abstammung für ein Gespräch nach Feierabend – er zog es vor, nicht zu erscheinen. In Seattle machte man mich mit einem Elektro-Käfer bekannt. In New Mexico sah ich einen Käfer, der zum Camper umgebaut worden war, in New York traf ich eine Performance-Künstlerin, die Käfer-Balletts veranstaltete, no kidding. In Virginia erlebte ich Bugs bei Autorennen und in Michigan entdeckte ich nicht einen von ihnen auf dem Parkplatz von Volkswagen of Amerika Inc. Überall traf ich jedoch Spinner, es war herrlich! Allerdings scheint der VW-Käfer kein Auto für die Farbigen zu sein, sieht man mal von Paquito d’Rivera ab, und der ist Kubaner.

Was für eine Komposition: Ein Professor, der die Indianersprachen des Südwestens erforscht und mit seiner philippinischen Frau im südlichen Illinois wohnt. Hier ist es übrigens nicht bretteben, sondern hügelig und abwechslungsreich. Malerische Briefkästen hocken am Straßenrand wie Hühner auf der Stange. Ich folge dem Duft von Joel Marings Pfeife durch das hohe Gras. Neugierig watschelt eine Entenfamilie hinter uns her. Vor einer Scheune grast ein Pferd. Hier, inmitten dieser ländlichen Idylle, haben bald zwanzig Volkswagen ihre letzte Ruhestätte gefunden. Im Wort „funeral“ steckt ja die Silbe „fun“ mit drin. Ich habe immer vermutet, dass sich Käfer zurückziehen wie Elefanten, wenn sie ihr letztes Stündlein kommen spüren. In der Scheune schlummert ein Exemplar meines Baujahrs, 1952. Ehrfurcht bemächtigt sich meiner. Unverwüstlich hat er mehrere Attacken der Marings überlebt. Ester Maring hatte ihn im achten Monat ihrer Schwangerschaft auf den Kopf gestellt, sich zweieinhalb Mal überschlagen, der Wagen war auf dem Dach liegen geblieben. Sie verletzte sich allerdings erst, als sie den Gurt löste und kopfüber nach unten sauste. Dieses Exemplar hat Joel Maring mindestens fünfmal restauriert, wahrscheinlich kennt er jedes Ersatzteil in drei verschiedenen Navajodialekten. Unverdrossen macht er weiter, nichts vermag ihn von seiner Obsession zu kurieren. Wäre ich ein Käfer, würde ich mich in meinen alten Tagen wohl auch in die beschauliche Idylle von Macanda, Illinois, zurückziehen. Hier würde ich geachtet und umsorgt werden.

Was mag Joel Maring besonders am Käfer? „Bei hoher Geschwindigkeit ist er unstabil und das Steuern ist schwierig. Du kannst nicht fahren und träumen, dann landest du sonstwo!“ Man merkt gleich: Auch dieser Mann ist diesem Vehikel in inniger Liebe zugetan. Kurz bevor ich den großen Staat Illinois verlasse, kommt im Radio diese Nachricht: Eine Band namens Midsouth ist in der Nähe in einer Radiostation von der Polizei verhaftet und über Nacht in polizeilichem Gewahrsam belassen worden, weil keiner in der Gruppe über die erforderliche Genehmigung zum Geben von Interviews verfügte. Midsouth spielt christlichen Country-Rock.

Iowa, die Dakotas, die Great Plains – Landschaften, die oft unterschätzt werden, die Augen-zu-und-durch-Staaten. Eine Illustration eines Artikels über die Badlands in einem Reisemagazin zeigte drei Schilder hintereinander entlang des Highways. „(1): Only 200 miles to more (2) of the (3) same.“ Der Himmel. Die Leere. Endlich Raum für eigene Gedanken.

Der Langeweile kann in einem Reiz überflutetem Land durchaus etwas Tröstliches innewohnen. Die Büffel hatten nichts auszusetzen an dieser Region, und die Indianer fanden hier heilige Orte. Die unheiligeren Gebäude künden von einer längst vergangenen Zeit, da die Ärzte in ihren Sprechzimmern rauchten. Die zurückgelassenen Kulissen kleiner und großer Dramen, Schauplätze von Seifenopern. Die Straßen schnurgeradeaus, als hätte der liebe Gott sein Maßband nicht wieder aufgerollt. Der Abstand der Werbetafeln richtet sich nach der vorgeschriebenen Geschwindigkeit. Sechs Sekunden bleiben, um die Botschaft wahrzunehmen.

Natürlich läuft nicht jeder Floridatourist Gefahr, erschossen zu werden. Das kann in jedem anderen Bundesstaat passieren, im Land sind geschätzte 300.000 Waffen in Privatbesitz, und die Ballerwut der Amerikaner ist nicht zu unterschätzen. In Nashville erscheint ein Magazin namens „Garden & Gun“. In Texas sind 1991 mehr Menschen durch Schusswaffen ums Leben gekommen als durch Autounfälle und ein Jahr später gab es mit 30.000 Schusswaffenopfern in den U.S.A. mehr Tote als im schlimmsten Jahr des Vietnamkrieges. Die Fabrik, die die gelben Plastikbänder mit dem Aufdruck „Police Line – Do Not Pass“ herstellt, die der Absperrung von Verbrechensschauplätzen dienen, dürfte jedes Jahr gigantische Umsatzsteigerungen verzeichnen.

Nirgends habe ich so viele Streifenwagen gesehen wie in Amerika. Vielleicht sind die Verbrechensraten kein Wunder in einem Land, in dem ein Kind während seiner Grundschulzeit ungefähr 100.000 Gewalttaten im Fernsehen sieht. Dass sich daran etwas ändert, ist so unvorstellbar wie ein Westernhemd mit kurzen Ärmeln. Manchmal bin ich richtig erleichtert, mit heiler Haut davongekommen zu sein, aber es liegt schon an einem selbst, ob und wie man sich in Gefahr begibt. Keine Ahnung, ob Käfer in drive-by-shootings, also Schießereien im Vorüberfahren, involviert sind, und ebenso wenig weiß ich, ob Käferfahrer in Detroit an roten Ampeln mit vorgehaltener Pistole davon überzeugt werden, den Wagen besser dem Waffeninhaber zu überlassen, aber sicher waren keine Käfer bei den bump-and-run-Vorfällen in Florida beteiligt – der Käfer taugt nicht zum Rammbock und ist als Fluchtauto eher weniger geeignet.

In Bridgeport, Connecticut, stehen die meisten Fabriken leer. Eigentlich bräuchten wir hier einen gescheiten Krieg, sagt Bob, natürlich meint er das nicht ernst, ich würde ihn eher bei den Quäkern verorten, aber dieser Teil von Connecticut hat lange von der Waffenindustrie gelebt. Manche Häuser sind derart heruntergekommen, dass sogar der Wilde Wein resigniert hat: Bereits Anfang Juni beginnt er sich zu verfärben. Waterbury ist auf den ersten Blick eine beschauliche Provinzstadt in Neuengland: proper, niedlich, friedlich. Aber selbst hier ist nichts mehr sicher. „In Amerika“, erzählt mir Bob Dorr, der Präsident der Connecticut Volkswagen Association, „werden keine Veranden mehr zur Straße hin gebaut. Früher saß man auf den ‚porches’ und hat sich mit den Leuten unterhalten, heute ist das zu gefährlich. Lieber baut man sich nach hinten eine Terrasse. Folglich gibt es immer weniger Gelegenheiten, jemanden kennenzulernen. Die Idee des Volkswagenclubs ist es, diese Leute wieder aus ihren Häusern herauszulocken, der Volkswagen ist der Anlass. Es geht um Partnerschaft und Freundschaft, eine soziale Angelegenheit.“


In sozialen Fragen kennt sich Bob aus, schließlich hat er bereits 1983 im zarten Alter von 32 Jahren im Senat von Connecticut gesessen, einer seiner Vorfahren war Gouverneur von Rhode Island. Neben seiner Käfermanie, die er mit seiner Frau Mary Ann teilt, ist er begeisterter Jamaika-Verehrer und Reggaefan, womöglich der weltweit Einzige, der nicht kifft. Ein Trip auf die Insel muss pro Jahr drin sein. Bob ist der zweite Woodstockveteran, den ich kennenlerne, und er ist eine wilde Mischung! „Der Käfer“, sagt Bob, „ist das am leichtesten zu erkennende Auto der Welt. Wenn du einen Käfer hast, hast du wirklich einen Weltwagen.“ Deshalb hat die CVA Mitglieder in Japan, Indien und Europa, mit denen man zum Teil via Email kommuniziert. Bob Dorr zitiert dazu Marshall Mc Luhan: „Die Welt ist ein globales Dorf!“

Ein paar Alltagsbewältigungstipps nebenbei: Für Smalltalks empfiehlt es sich, ein paar der legendären Namen und Spielzüge der Baseball- und Footballgeschichte auswendig zu lernen, dann wird man schneller akzeptiert. Vorsicht mit großen Geldscheinen: Bezahlst du mit einem Hunderter, haftet dir der Ruch des Geldwäschers an. Dass man dich, kaum dass man ihn erfahren hat, in jedem zweiten Satz mit deinem Namen anredet, ist nicht unbedingt persönlich gemeint. Und wenn der Kellner fragt, wie es dir heute geht, heißt das nicht, dass er dich gestern gesehen hat. Amis vermitteln einem häufig den Eindruck, dass sie einen persönlich meinen. Viele Besucher freuen sich, wenn sie von einem Türsteher oder einer Barkeeperin nach dem Ausweis gefragt werden und denken: Danke, dass Sie mich für so jung halten! Dabei ist die Frage obligatorisch.

 

Der Käfer war das offizielle Fahrzeug der Generation, die damals noch nicht Woodstock-Generation hieß. Außer für Kommunen vielleicht und die Fans der Grateful Dead, die mussten natürlich VW-Busse nehmen. Die Ingenieure haben wirklich an alles gedacht beim Käfer, das muss die deutsche Gründlichkeit sein. Es soll vereinzelt Modelle mit Wasserpfeifenantrieb gegeben haben. Den Auspuff konntest du abschrauben und als Chillum verwenden. Überhaupt der ganze Schnickschnack: Flokatibezüge, Patschulibar, und wenn du ein brandneues Modell hattest, konntest du mit Henna künstliche Roststellen einfärben, damit dich die anderen nicht blöd anmachten. Der Käfer war ein absolut anarchisches Auto, der immer machte, was er wollte. Der Kifferkäfer. Erst Walt Disney hat ihn domestiziert mit seinem dämlichen Herbie.

Ich habe nie verstanden, warum sich die Pazifisten ausgerechnet den Mercedes-Stern als Friedenssymbol ausgesucht haben. Womöglich haben die besser bezahlt. Mercedes fuhr kaum jemand damals, alle bevorzugten sie den Käfer, mit denen sie wohl diesen Stau auf der Interstate 87 hoch nach Bethel veranstaltet haben. Böse Zungen behaupteten, damit habe man verhindern wollen, dass bestimmte Künstler rechtzeitig zum Auftritt gelangten, zumindest bei Joni Mitchell hat das geklappt. Andere wiederum sagen, das sei gar kein echter Stau gewesen, sondern die Dreharbeiten für einen Spot von Doyle Dane Bernbach, die damals die Werbekampagnen für VW entwarfen. Dieser Stau jedenfalls war das größte Bug-Happening mit Tausenden von friedlichen Käfern. Manch einer mag gedacht haben: Keine Chance, Alter, aus diesem Stau kommt nur der raus, der läuft und läuft und läuft. Besser erging es meinem Kumpel Fred, der im Bulli mit Freunden in die Catskills unterwegs war: Er hatte sein Fahrrad auf dem Dach befestigt, das er folgerichtig herunter nahm, als es ihm zu bunt wurde, sich auf den Sattel schwang und sagte: „Sorry, Folks, I gotta go!“ Das war zwar nicht besonders hippiehaft, dafür aber effektiv. Noch heute irren Dead-Heads in Bullis über die Highways, obwohl Gevatter Tod unter den ehemaligen Mitgliedern der Grateful Dead reiche Ernte gehalten hat. Am 9. Juli 1995 spielten sie ihr letztes Konzert im Soldier Field in Chicago, die Fans aber bleiben beharrlich.

57 Tage lang reiste ich reichlich borniert: Vieles, was nicht aussah wie ein Käfer, habe ich schlicht ignoriert und so heroisch wie idiotisch allen Verlockungen getrotzt. Bloß bei Zinfandel, Karottenkuchen, Pepperidge Farms Macademia-Kekse, Shiner Bock Beer, Pazifischem Lachs (King Salmon) und Café Latte habe ich nicht nein sagen können. Ich habe überall meinen Fuß hingesetzt, aber nicht immer ein Bein auf den Boden bekommen. Trotzdem ist es optimal, mit einem Thema als rotem Faden zu reisen: Da muss man in die Ecken spähen und sich hinter den Kulissen auf den „Ho-Chi-Minh-Pfaden“ bewegen. Egal, was man sich raussucht: Jogger auf Highways, Briefkästen, Diners, stillgelegte Autokinos, Zapfsäulen, Ortsschilder, Neonreklamen, Motels oder Trucks – mit einem Thema entwickelt jede Reise schnell ihre Eigendynamik. Der Kollege Zufall weicht einem wie Tonto nie von der Seite und strickt an der Reiseroute mit.

Ich hatte keine Ahnung, was ich von Amerika eigentlich wollte. Ich habe es auf den Käfer delegiert, und der suchte sich selbst seinen Weg. Er lief und lief und lief ... und erzielte extrem hohe Werte auf der nach oben hin offenen Mythenskala. Anders als beim TV-Quiz habe ich meinen Gewinn mitgenommen und möchte trotzdem wiederkommen, nicht zuletzt, weil noch viele Fragen offen blieben, so z.B. die folgenden:

Wie kommt eigentlich diese sonst so hoch stehende Zivilisation mit diesen vorsintflutlichen, weil unverrückbaren und ins Nirgendwo zielenden Duschköpfen zurecht? Was genau ist der Unterschied zwischen Baseball und Gartenarbeit? Warum kommt eigentlich niemand hinter Victoria’s Secret, und will das wirklich jemand wissen? Wieso passen die Toastscheiben immer seltener in den Toaster hinein – sind im Laufe der Jahrzehnte die Geräte kleiner geworden oder die Weißbrote ausgemonstert? Kann man das Death Valley nicht endlich wiederbeleben? Hat Lederstrumpf etwas mit Sado-Maso zu tun? Warum machen manche der legendär schnurgeraden Highways vor allem im Westen urplötzlich doch mal eine scharfe Kurve – ist da womöglich ein übrig gebliebener Kommunist dran schuld, der sein Grundstück nicht verkaufen will? Warum steht zumindest im Westen auf jedem Ortsschild die Einwohnerzahl mit drauf – und müsste die nicht täglich geändert werden, in den Metropolen sogar von Minute zu Minute, Sekunde zu Sekunde? Ich stelle mir das so vor: Irgendein armer Tropf ist am Schild stationiert und über Funk, SMS oder E-Mail mit der Stadtverwaltung verbunden. Mit Lappen und Kreide bewaffnet, bringt er bei Geburt und Tod sowie Zu- und Wegzug geschwind die Tafel auf den neuesten Stand. Ein harter Job, verdammt einsam. (Es freut sich über jeden Kontakt: lonesomewiper@coldmail.com)

Warum stopfen hüben wie drüben Millionen mündiger Bürger Millionen mundiger Burger in sich hinein? Wie sind 2% milk, cholesterol-free tooth-picks, non-dairy-creamers, sugarfree sugar und proteinfortified dish-towels zu verstehen? Nimmt man von low fat potato chips tatsächlich ab? Wieviel? In welchem Zeitraum? Wo kriege ich meinen Langkornreis her – von Uncle Ben, Uncle Sam oder Uncle Tom? Wenn es regular coffee gibt, gibt es gerechterweise irregular coffee? Wenn Amerika das freieste Land weltweit ist, zumindest das zucker- und rauchfreieste, was sind dann um Gottes Willen Eggbeaters? Werden hier tatsächlich Eier verprügelt? Was mag ein complimentary breakfast sein? Schon gut, bemühen Sie sich nicht, das war nur eine rhetorische Frage: Hier handelt es sich um eines dieser fragmentarischen Hotelfrühstücke, mit dem man den Gast aus dem Haus komplimentieren will.

Amerika jedenfalls lieben wir sicher all dieser Fragen wegen, denn Fragen halten die Welt in Bewegung. Keinen Schimmer, ob sie jemals beantwortet werden, aber die Philosophen behaupten ja ohnehin, dass Antworten nicht der Sinn des Lebens sind. Immerhin: Wenn man die Lösung gefunden hat, erkennt man allmählich sogar das Problem!

Seattle, Washington. Als ich meine Fotos abholen will, sieht mich der ältere Mann bei Bartell Drugs in Magnolia prüfend an und sagt lächelnd: „Wenn ich mir Ihre Bilder betrachte, muss ich feststellen: Sie haben eine Vorliebe für alte Autos und einen guten Sinn für Humor.“ Scheiß auf die Diskretion, danke für das Kompliment.


The Midwest 2002

„I’d rather be in hell than in Oklahoma“

(aus dem Western „Bite the Bullett – 700 Meilen westwärts“)

Die amerikanische Bahngesellschaft Amtrak gehört zu den gefährdeten Arten. Traditionsgemäß alle zwanzig Minuten geht das Geld aus, und Washington gewährt grummelnd neue Summen. Kleine Beträge, versteht sich. Überraschenderweise gelingt es damit gelegentlich, das Streckennetz zu erweitern: Zur Jahrtausendwende um die Trasse Boston–Portland, die 2012 nach Brunswick, ME, verlängert wurde, demnächst soll Chicago–Rockford dazukommen, und im Jahre 1999 bereicherte Amtrak den Fahrplan mit der Route Dallas–Oklahoma City, ein „Remake“ nach zwanzig Jahren Unterbrechung, das unter dem traditionellen Namen Heartland Flyer vermarktet wird, immerhin satte 206 Meilen lang. Da man nie sicher sein kann, ob Amtrak nicht doch spontan den Geist aufgibt, habe ich mich A.D. 2002 auf diesen Zug geschwungen, aber vielleicht bleibt die Linie ja erhalten, von überarbeiteten Bahnbossen übersehen. Dieser Zug jedenfalls ist womöglich das einzig verbindende Element zwischen Texas und Oklahoma, denn natürlich ergehen sich beide Volksstämme – wie unter Nachbarn üblich – in herzlicher Abneigung.

Das wird eine Dienstreise. Im Laufe von 15 Jahren – Stand 2002 – habe ich etwa ein halbes Hundert Auftritte in den U.S.A. absolviert, auf gut Deutsch. In Goethe-Instituten, bei Lehrerkonferenzen, an Unis oder Schulen. Ich bin vielleicht der beliebteste Giftmüllexport Heidelbergs. Natürlich bringt das kein Geld, macht sich aber gut, wenn im Tourplan steht: Riegel–New York–Unna, wie im April 1999. Nach Riegel hatte mich Fred aus Seattle begleitet, der zufällig in Europa weilte. Nach der Show meinte er, man solle unbedingt in New York vor dem Auftrittsort eine Stelltafel auf dem Bürgersteig postieren: „Nach dem großen Erfolg in Riegel jetzt auch in New York!“ Diesmal bin ich unterwegs nach St. Louis, um im German Culture Center aufzutreten; fast ein Heimspiel, denke ich siegesgewiss, doch es soll anders kommen. Selbst nach (damals) 25 Jahren in der Humorbranche gibt es immer Überraschungen. Ich reise dabei gerne über Land, sozusagen „the hard way“ – um möglichst viel mitzubekommen, bevorzugt mit Bussen und Bahnen. Man sollte unbedingt darauf warten, dass die Seele nachkommt, behaupten die Indianer.

In Ft. Worth habe ich mich vorher mit Espresso und frischen Säften gedopt. Reisen nach Nine-Eleven ist nicht immer einfach: Zum ersten Mal muss ich durch eine Sicherheitsschleuse, nur um Briefmarken zu kaufen. Im Bahnhof hält gerade der Trinity Express, der die neue Verbindung zwischen Ft. Worth und Dallas herstellt, wunderbare schnieke Waggons, silbern und geriffelt wie Rimowa-Koffer, und an Räder haben sie auch gedacht. Sieh an, die Texaner: Still und heimlich haben sie den öffentlichen Nahverkehr entdeckt. Sogar in Houston basteln sie an einer Lightrail – 2012 werden sie fünf Linien haben. In den „Flyer“ gelange ich ohne größere Checks, viele Reisende sind wir nicht. Aber einer von ihnen, einer dieser Typen, dessen Hosen nur noch mittels breiter Hosenträger am Körper befestigt werden können, springt als Erster auf, als die Durchsage kommt, die Snackbar habe ab sofort geöffnet, leider gäbe es pro Kopf aber nur vier alkoholische Getränke. Ob das für fünf Stunden Fahrzeit reicht? Zwei davon hat er unterm Arm, als er wieder auftaucht und launig erzählt, er hätte mal in OKC gewohnt und wenn ein Symbol für diesen Staat auf die Rückseite des Quarters passen würde, wäre es ein Plumpsklo. Ein Texaner, vermutlich.

Sanftes Schaukeln durch verlorene Landstriche, in die man Kühe in unregelmäßigen Abständen gepflanzt hat, um den Autofahrern auf dem parallel führenden Highway 35 das Einschlafen zu verleiden. In diesem Bundesstaat gibt es ein Gesetz, das untersagt, Kühe mit Graffity zu besprayen. Dabei würde das die Aufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer bündeln. Die Texaner mit ihrem grenzenlosen Selbstbewusstsein haben sicher darauf bestanden, dass der Zug mit seinen drei Waggons und dem schwer vereinsamten Snackbarkellner – bei dem man sich schon aus schierem Mitgefühl einen antrinken sollte – den Teil der texanischen Strecke bei Tageslicht zurücklegt, damit der Reisende etwas hat von der bestürzenden Schönheit der texanischen Pampa mit ihren Überlandleitungen, Basketballkörben, Getreidesilos, Wassertürmen – das allamerikanische Leporello. Da kann es nur ein Bier geben, das perfekt zu dieser Ödnis passt: Bud Light. Wehe dem, der es versäumt hat, sich bei der Corner Deli in Ft. Worth mit gescheiter Verpflegung einzudecken. Wie man den Zug attraktiver machen könnte? Vielleicht als Themen-Nostalgiezug „70er Jahre“, das Personal in Village People-Klamotten. Die orangene Farbe im WC und das Tristbraun des Teppichbodens müssten sie nicht mal ändern.

Sobald die Sonne verschwindet, wird es komischerweise frisch im Zug. Dass die Waggons nicht hundertprozentig luftdicht abgeschlossen sind, merkt man, wenn der Geruch eines überfahrenen Stinktiers zur alles beherrschenden Duftnote avanciert. Wider das Vergessen betätigt der Lokführer unermüdlich das Signalhorn, es hilft nichts: Draußen nimmt keiner von uns Notiz, da ist einfach niemand. Die Bahnbediensteten halten sich mit Minihörspielen über Sprechfunk wach. Ihren Humor haben sie sich bewahren können, und den benötigen sie auch. So sprechen sie z.B. von „unexpected delays“. Komischerweise ist der Zug am Ende pünktlich. Texaner haben ohnehin einen Hang zur Ironie: Den Flughafen von Lubbock, TX, haben sie nach Buddy Holly benannt.

Der Amtrak Travel Planner vermerkt für Gainesville: „Shuttle Service to shopping at Prime Outlets“. Oklahoma ist übrigens einer von drei Bundesstaaten, in dem Hahnenkämpfe erlaubt sind. Das ist recht fortschrittlich, anderswo werden Arbeitslose für sog. „Bum-Fights“ angeheuert, um sich gegen geringes Entgelt die Fresse polieren zu lassen. Die Kämpfe werden als Videos verkauft. Ardmore kriegt zwei Minuten, die Raucher müssen kurz raus. Rote Erde, rostrot. Das Pärchen in der Reihe vor mir beugt mittels leisem, heiseren Gelächter dem Erfrierungstod vor. In ihren umstandsähnlichen Shorts und dem Unterlippenpiercing sieht sie aus, als wäre sie einem Abschreckungsvideo zum Thema Teenager-Schwangerschaft entlaufen. Vielleicht haben sie sich bei einer Anti-Aggressionstherapie kennengelernt. Womöglich sind sie aber auch total nett. Eine Chemiefabrik versucht ambitioniert die Skyline von Manhattan nachzuäffen. Die Stadt Norman präsentiert ein hell erleuchtetes Stadion. Auf dem Bahnhof von Pauls Valley nimmt ein Mann die Einfahrt des Zuges mit einer Kamera auf, ich wüsste zu gerne, ob er da morgen wieder steht, als Trainspotter, die Bahn hat von jeher die wunderlichsten Typen angezogen. Radio KACO sendet nicht ganz unpassend „Do you believe in Magic“ von Lovin’ Spoonful.

 

Der Zug schleicht häufig, wer sich in Deutschland über die sog. „Langsamfahrstrecken“ der Bahn aufregt, braucht hier gar nicht erst anzutreten. Kaum ein Dutzend Fahrgäste steigt schließlich in Oklahoma City aus, in einem waschechten Ein-Zug-Bahnhof in schönstem Art-Déco. In dieser Stadt wurden 1997 sechs Videoläden und ein Privathaushalt von der Polizei gestürmt, die Kopien von Schlöndorffs „Blechtrommel“-Verfilmung beschlagnahmen wollte, wegen Obszönität. Vielleicht nennen Texaner diesen Staat nicht grundlos „Fucklahoma“. Immerhin, OKC gibt zu reden, seit Bürgermeister Cornett der Stadt ein Diätprogramm verordnet hat: In vier Jahren nahmen die Bürger über eine Million Pfund ab. Nicht nur durch die Veränderung der Ernährungsgewohnheiten, sondern durch eine Verbesserung der Infrastruktur: Bau von Bürgersteigen und Radwegen, damit die Menschen sich mehr bewegen.

Weiter geht es mit dem Greyhound, anderntags. Vor der Busstation, einem ausgesucht schäbigen Exemplar, ein Cherokee-Pärchen, er im Rollstuhl, sie majestätisch wachend. „Die Böden der Busstationen sind überall im Land gleich, immer mit Kippen und Spucke überdeckt und von einer Schwermut, die nur Busbahnhöfe ausstrahlen“, schreibt Kerouac in „On the road“. Der Verlorenen sind viele, wie die Mutter mit dem Jungen, dem ein Pfeil das Auge zermatscht hat, wie sie einer Mitreisenden erklärt. Wir sind im Wilden Westen. Die Mutter ist spindeldürr, dünner als die Bibel, in der sie eifrig blättert. Eine junge Farbige, mutmaßlich verhaltensgestört, bewegt sich unruhig vor dem Schalter, fahrige Bewegungen, kaum, dass sie die Augenlider oben halten kann. Da man laut Verordnung an Bord keine chemischen Substanzen zu sich nehmen darf, hat sie das wohl vorher erledigt, man muss es halbwegs überspielen können, dennoch ein Wunder, dass man sie an Bord lässt. Viele übergewichtige Leute, viele Getackerte, viele Tätowierungen der ersten Generation, bevor es hip wurde, Anker auf Unterarm oder Herz mit „Maria“, diese Abteilung. Oder Zigarettennarben. Foodstamp-America. Viele Typen, die man aus Gefängnisfilmen zu kennen glaubt.

Die leicht phlegmatische Chauffeurin fährt die Route zum ersten Mal, in Claremore umrundet sie ergebnislos den Block, weil sie den Eingang zur Busstation nicht findet, weit und breit keine Menschenseele, die ihr weiterhelfen könnte. Irgendwann wird sie fündig und probiert schließlich einige Schlüssel aus, bis einer klappt, hat sie alle anderen durchprobiert. In Vinita überrascht sie mit folgender Durchsage: „Weiß hier jemand, wo ich die Grant-Street finde?“ Diese Etappe endet in Springfield, Missouri, wo mich ein verfrühtes Geburtstagsgeschenk ereilt, bei dem ich nicht genau weiß, ob ich mich darüber freuen soll. Ich checke im Best Western ein, der junge Bursche hinter der Theke fragt, ob ich für irgendwelche Discounts in Frage käme. Ich sage, der nächste wäre wohl irgendwann der Seniorenrabatt. Er fixiert mich: Fünfzig? Kommenden Samstag, entgegne ich. Okay, das sei nah genug dran, sagt er fröhlich: „That’s close enough!“

Am nächsten Morgen ein Weckruf: „This is the wake-up call you asked for. I’m going back to sleep now.“ Ich bedanke mich ausführlich, bestelle ein Taxi und kriege eine große Limousine, einen halben Block lang. Das hat was, mit einem solchen Schiff bei einer beklagenswerten Busstation vorzufahren. Auch hier wieder die bewährte Mischung aus Faszination und Elend: Ein Vater mit zwei Söhnen, einer davon leicht zurückgeblieben, vier große U-Haul-Umzugskisten auf einem Rollwagen, womöglich ist da eine Familie auseinander gebrochen. Für viele ist der Greyhound Möbeltransporter, Beförderungsmittel und Startrampe in einem. Häufig sieht man aufgeplatzte Gepäckstücke, aus denen irgendwelche Dinge herausquellen oder -rieseln, man möchte lieber nicht genauer wissen was. Die Geschichten, die diese Bilder andeuten, sind keine lustigen. Dieser Bus ist eine rollende Müllkippe, obwohl der Fahrer, die Ausbildung muss er bei den Marines absolviert haben, kein Pardon kennt: „Ich sag’s nur einmal...“ bellt er ins Bordmikro, und gleich darauf schnarrt er irgendwas von einer „Zero Tolerance Policy“. Die ist in Amerika wahnsinnig beliebt.

Willkommen in einem Staat, in dem einmal ein Bundesrichter eine Hinrichtung ausgesetzt hat mit der Begründung, der Arzt, der die Giftmischung zusammenstellt, sei Legastheniker, was zur Verwirrung bei den Mengenangaben führen könne. Missouri ist ein Scharnierstaat – oben Norden, unten Süden, hauptsächlich aber Mittlerer Westen. Er kommt kaum minder verloren daher als Oklahoma. Joplin ist grausam, Carthage pittoresk verschlissen, jetzt kommen Lebanon, Rolla, wir klappern die kleinen Käffer ab entlang der Route 66, die so viele Touristengelder nicht zu erwirtschaften scheint. Bei vielen Geschäften lässt sich kaum sagen, ob sie noch in Betrieb sind oder von ihren Besitzern schon vor Jahren aufgegeben wurden oder beides. Dabei hat die legendäre Straße doch ein Marketingkonzept und entsprechend viele Fans. Bei der Asphaltverklärung hat der Amerikaner nicht nur neue Maßstäbe gesetzt, er hat sie schlichtweg erfunden.


Die Route 66 ist keine einheitliche Piste, geschweige denn durchgehend, manchmal wird sie von der Interstate verschluckt und wieder ausgespuckt, ein andermal siecht sie als Schotterweg dahin. Der legendäre Song von Bobby Troup wird nicht müde, erbarmungswürdige Ansiedlungen wie Amarillo, Gallup oder Barstow zu verklären. Meine Güte, in den meisten davon möchte man nicht einmal tot über dem Geländer hängen. Das triste Gallup mit seinen astronomischen Alkoholikerraten oder die glanzlose Militärbasis Barstow – das wäre ganz so, als würde man in Deutschland Städte wie Hanau, Hattersheim oder Fulda preisen, Städte, die übrigens zufällig alle an der A66 liegen – doch bei uns käme niemand im Traum darauf, über diesen Streckenabschnitt ein Lied zu schreiben, von Ralph Siegel abgesehen.

Die Drive-Thru-Landschaft präsentiert wacker die üblichen Ikonen wie halb verfallene Häuser und verlassene Tankstellen. Autowracks, die aussehen wie von einem übermotivierten Tourismusmanager drapiert, der alle Sehnsüchtigen mit Motiven versorgen soll, ein Rostporno. Dabei bleiben die Autos häufig schlicht liegen und werden nicht mehr abgeholt, weil die Transportkosten den Wert des Wagens übersteigen würden. Der Amerikaner betreibt das Mythenbusiness bekanntlich professionell. Entlang der 66 sieht man Bataillone verlassener Scheunen, abbruchreifer Saloons und halbzerfressener Zapfsäulen. Willkommen im Rostblock. Abgesehen davon, dass in den Staaten die Mittel für Müllbeseitigung fehlen und meist auch das Verständnis dafür und ohnehin überall genügend Platz vorhanden ist: Verfall ist gut fürs Geschäft, die Verkaufszahlen von Kalendern, Postern und Bildbänden zum Thema sind atemberaubend. „Americana“ nennt man diese Fanartikel. Highwayschilder gibt es als Teppichbodenmuster. Bei stillgelegten Tankstellen können Amerikaner feuchte Augen kriegen. Sie essen kategorisch bei Fast-Food-Ketten, damit die Diner bankrott gehen und sie dann den guten, alten Zeiten nachtrauern können.