In dunklen Gegenden

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Thomas Ballhausen

In dunklen
Gegenden


I. Sommerquartier

»Wer im begrenzten Bereich lebt, verlangt inbrünstig nach Besitz, nach Zugang zum Absoluten.«

E. M. Cioran

»Menschliche Angelegenheiten sind im Grunde tragikomisch, sie sind es stets gewesen.«

George Steiner

Natürlich erinnere ich mich an den letzten Sommer vor dem Ende des Kriegs mit den Eisenmännern. Es war ein Sommer der finalen großen Schlachten, der Sommer des letzten Jahres der alten Zeitrechnung, es war ein Sommer, der diese Bezeichnung nachträglich gesehen tatsächlich auch verdient hat. Es war also während dieses magischen, überdurchschnittlich heißen und hektischen Sommers vor etlichen Jahren, als wir das leer stehende Haus am Ende der Straße endlich für uns entdeckten. Es erscheint zum jetzigen Zeitpunkt etwas eigenartig, doch ich erinnere mich auf eine Art und Weise an diese Ereignisse, als hätte man sie mir bei einem Glas Bier oder einer Tasse Kaffee erzählt, als wären es Erlebnisse aus der Jugend anderer Leute, die ich gekapert, die ich mir angeeignet habe. Ich träume immer noch von diesen Ereignissen, die ich hier bloß kursorisch, nur in Form eines Überblicks wiedergeben kann. Würdest Du mit jemand anderem sprechen, der damals dabei war, würdest Du wahrscheinlich eine ganz andere Sicht der Dinge, eine gänzlich andere Geschichte erzählt bekommen. Vielleicht findet sich noch jemand aus unserer Bande, dann kannst Du die Darstellung der Ereignisse ja vergleichen. Ich sage ganz bewusst Bande, denn nichts anderes waren wir: eine Bande aus Kindern, die es nicht zur Band gebracht hatten, dafür waren wir einfach zu unmusikalisch gewesen. So entschieden wir uns eben für das Nächstliegende, für eine Bande und für eine Zeit der aufgeklebten Schnurrbärte, der falsch verstandenen Songtexte, während vor unser aller Augen die Wirklichkeit endgültig verloren ging. Eine Bande war damals gar keine große Sache, schließlich kümmerte sich im Durcheinander jener Tage niemand wirklich um uns. Alle hatten andere, vorgeblich ernsthaftere Probleme. Wir spürten, gefangen im Übergang zwischen Kindheit und Jugend, nur die Ewigkeit – nichts, so machte es den Anschein, würde jemals enden. Und trotzdem verhielt sich der Großteil der Stadtbewohner so, als wären ihre Tage bereits abgezählt worden.

Wie also betritt man eine Zeit, die man angeblich hinter sich gelassen hat? Die Erfahrungen dieses Sommers kann ich nur auf Umwegen wiederherstellen. Was kann ich also anderes tun, als einen Text zu schreiben, der den eigentlichen Ereignissen nicht nahekommt? Könnte ich eine Karte dieser Tage zeichnen? Erst vor Kurzem habe ich mit Notizen zu einer für mich notwendig gewordenen Erklärung begonnen, habe Skizzen angelegt, weil es kaum noch Material gibt, auf das ich zurückgreifen kann. Ich schreibe, sammle und sortiere, um zu verstehen, was ich vergessen habe. Der offiziellen Geschichtsschreibung vertraue ich nicht, ich will die Vergangenheit lieber in einer anderen, vielleicht verlässlicheren Form herstellen. Aus den geträumten Fragmenten und zusammengetragenen Trümmern werde ich nach und nach ein solides Fundament fertigen, auf dem ich stehen kann. Aber ich werde in dieser individuellen Historie darauf verzichten, über die Stadt und ihre Türme zu schreiben. Alle relevanten Dinge über sie sind schon gesagt worden, es erscheint mir deshalb sinnlos, diese ohnehin bekannten Umstände zu wiederholen oder ihnen unbestätigte Gerüchte hinzuzufügen. Ich belasse es bei dem Hinweis, dass wir beide doch ohnehin wissen, was passierte und warum ich, wie viele andere auch, danach lange Zeit nicht richtig schlafen konnte.

Ich versuche es also mit diesem Text, auch wenn schon jetzt, mit den ersten Zeilen, klar ist, dass ich hinter dieser eigenartigen, dieser schrecklichen und wunderbaren Zeit nur zurückbleiben kann, dass die Worte nur einen Abglanz von dem bieten können, was ich glaube damals empfunden zu haben. In diesen letzten, in diesen verletzten Kindertagen sind wir auf das Zwielicht eines neuen Alters zugestolpert, näherten wir uns unbekannten Fallstricken, dem ohnehin unvermeidlichen Verlust. Hinter manche Punkte kann man nicht zurückgehen, aber es gibt noch ein herrliches letztes Aufbäumen, bevor alles vergeht. Die erschreckende Endgültigkeit dieses Umstands ist uns schlicht nicht immer sofort bewusst. Ich war jünger damals, viel jünger, wirklich jung sogar, und ich hatte es geschafft, vom allgegenwärtigen Krieg möglichst unbeeindruckt zu bleiben. Die letzte Phase eines Konflikts, die, was wir nicht wissen konnten, nur wenige Wochen andauern sollte, brachte mit einer kaum zu verstehenden Geschwindigkeit Umwälzungen mit sich, die wir nicht erahnten. Es waren andere Tage, eine Zeit, in der ich ein gänzlich anderer Mensch war, niemand, in dem Du mich wiedererkennen würdest. Natürlich war ich vorbelastet, ich war in diesen Breitengraden des Pflichtbewusstseins und der Willfährigkeit geboren worden. Es waren Zustände, über die sich nicht mehr – wie es so schön verschleiernd heißt – vernünftig sprechen lässt.

Das alte Haus am Ende der Straße, das Van-Doren-Anwesen, war in meiner Erinnerung immer schon unbewohnt gewesen. Als wir in das Gebäude einbrachen, fanden wir es beinahe leer vor. Einbauschränke und eine stehen gebliebene Wanduhr waren noch da, in manchen Ecken standen vom Regen aufgeweichte Zeitungsstapel herum. Die Tapeten waren stellenweise aufgeplatzt, und man konnte die darunterliegenden alten Ziegel sehen. Umrisse an den Wänden zeigten an, wo die Bilder gehangen, hellere Flächen auf dem hölzernen Boden, wo die Möbel gestanden hatten. In den ersten Tagen unserer Besetzung, unserer Inbesitznahme, hatten wir uns kaum getraut, über diese deutlich sichtbaren Grenzen zu treten. Es war so, als wären die Gegenstände noch dort, als könnte man noch auf einem bequemen Sofa Platz nehmen, ein teures Gemälde betrachten, sich an einen reich gedeckten Tisch setzen oder sich in einem viel zu großen Bett wälzen. Das Gebäude erwies sich als Gehäuse für uns, das eben durch seine Begrenztheit eine unerwartete Sicherheit und Freiheit gewährte. In diesem rechtsfreien Raum abseits aller gesellschaftlichen Ordnungen konnten wir etwas verlangen, etwas bekommen. Die Gerüchte über die letzten Besitzer reichten uns als Erklärungen, das Minimum ungesicherter Informationen und getuschelter Geheimnisse war uns genug. Wir versteckten dort, was wir auf den Straßen fanden, was wir in den Läden stahlen oder aus den vergleichsweise ärmlichen Häusern unserer Eltern schmuggelten. In diesem Sommer des Übergangs bevölkerten wir das Haus und trugen in der durch die Hitze bedingten Langsamkeit die Objekte unserer gar nicht so unschuldigen Begierden zusammen. Dieses alte Haus wurde unser Projekt, unsere Aufgabe und Ablenkung. Ich bin mir nicht sicher, ob wir sie gesucht hatten, wichtiger war bestimmt, dass wir sie gefunden hatten. Mit diesen Räumen ging eine Spielfreude abseits aller Normen, aller Abzählreime und der Anzahl gewürfelter Augen einher. Alles was wir uns vorstellen konnten, wurde Bestandteil dieser neuen Welt. Wir tranken Feuer, als gäbe es kein Morgen, und waren so furchtlos gebieterisch wie möglich. Manche der zahlreichen Räume durften nur auf bestimmten Pfaden durchschritten werden. Es war eine morsche Welt. Wohin wir uns auch wandten, wir wurden ständig vom knarrenden Geräusch des nachgebenden Bodens begleitet. Ein neues Regime entstand innerhalb dieser Mauern, die leeren Zimmer wurden zu den Projektionsflächen unserer Wünsche. Die neue Wirklichkeit verstreuten wir wie Farbe auf den uns umgebenden Wänden, wir brachten die Spuren einer neuen Herrschaft, unserer Herrschaft, an. Wir verwandelten uns in die Helden der damals so populären TV-Serien, der als Schundhefte verschrienen Abenteuerromane und der billigen Comichefte, deren Druckerschwärze an unseren Händen klebte. Mit dem Betreten des Gebäudes schlüpften wir in unsere Rollen, in neue Verkleidungen und Verbindlichkeiten. Es war fast schon überraschend, wie gut alles funktionierte, wie wenig Worte notwendig waren, um neue Familien zu erschaffen. Besucher waren in der gemeinsamen Fiktion nicht willkommen, in unserem Verständnis war das Haus schon voll. Niemand sonst hätte sich, so unsere unausgesprochene Überzeugung, in unser System eingefügt, in all die gestohlenen Gegenstände, die entlehnten Erzählungen, die kleinen wesentlichen Regeln und die verbotenen Lektüren. Diese neue, uns eigene Beschäftigung erfüllte uns. Angesichts der täglichen Zumutungen hatten wir keine andere Wahl, als eine gänzlich andere Wahrheit und Wirklichkeit zu erschaffen. Was ist Geschichte, was ist Realität? In diesen Tagen lernten wir der Gesellschaft zu misstrauen, wir eigneten uns an, mit den grausamen Kräften in uns zu jonglieren, ohne wirklich kriminell zu werden. Auf das Ungestüme und das Unerwartete konnten wir immer setzen. Für die flirrenden Unschärfen unserer diffusen Umwelt, diesen Zustand andauernder Verwirrung, konnten wir einfach kein Interesse aufbringen. Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, dass das heute anders wäre. Ich spiele immer noch ernste Spiele, höre immer noch ähnliche Musik. Das Haus, so wurde uns klar, konnten wir niemals aufgeben. Bestenfalls hätten wir es wie eine Insel, auf der man Zuflucht gefunden hat, an andere Gestrandete weitergeben können. Aber erst, wenn der Zeitpunkt richtig war. Zu schön war es, nachts auf dem Dach zu sitzen, die Wärme, die auch in den Nachtstunden nicht vergehen wollte, zu genießen, Bier aus Dosen zu trinken und die Explosionen über der Stadt zu beobachten, die das Dunkel wie ein Feuerwerk erhellten. Wir machten uns angesichts der Ereignisse, die wir vom Rand beobachteten, alle möglichen Vorstellungen, aber eben keine, die man sich von uns erwartet hätte.

 

Die mechanische Bombe schlug in einer Nacht ein, die wir, ich kann nicht mehr sagen warum, nicht im Anwesen verbracht hatten. Der Einschlag war für die Allgemeinheit ein zu unbedeutendes Ereignis gewesen, als dass es sich in den historischen Zeitungsbeständen heute finden lassen würde, doch für uns änderte sich damals schlagartig alles. Die abgeschossene Maschine, ein Blindgänger, dessen Zweck auf den ersten Blick nicht zu erkennen war, erwartete uns bei der Rückkehr in unser abgestecktes Reich. Sie hatte das Dach und die Decke zwischen Dachgeschoss und dem darunterliegenden Stockwerk durchschlagen und war im Fußboden einer der großen Wohnräume im ersten Stock stecken geblieben. Wir besahen sie neugierig von allen Seiten, auch vom Erdgeschoss aus, vorsichtig nach oben blickend und das matte Grau der stählernen Konstruktion bestaunend. Wir hatten Maschinen wie diese bislang nur in den Nachrichten gesehen. Risse durchzogen die Decke um sie herum, doch offensichtlich bestand keine Gefahr, dass die Maschine der Eisenmänner, denn nichts anderes war sie, weiter nach unten fallen würde. Die Versuche, diesen stummen Gast in unsere bestehenden Spiele und Rituale zu integrieren, schlugen fehl. Nach nur wenigen unbefriedigenden Tagen der Ungeduld begannen wir neue Formen zu entwickeln und uns im Verlauf der Bewegungen im Haus immer weiter an die Maschine heranzuwagen. Es wurde zu einer unvermeidlichen Mutprobe, sie schließlich zu berühren, ihre Aktivierung zu riskieren. Wir wollten wissen, wie die Gefahr oder das, was wir dafür hielten, schmeckte. Wir wollten die Tauschgeschäfte der Jugend auskosten, den Einsatz höhertreiben. Im Kreis um die Maschine stehend reizten wir uns mit Worten, schubsten uns. Beleidigungen folgten, und eines der Mädchen in unserer Gruppe bot mir, kaum dass sie mich einen Feigling genannt hatte, großspurig einen Kuss an, wenn ich die metallene Oberfläche als erster berühren wollte. Schwerwiegende Entscheidungen fielen mir niemals wieder so leicht wie damals. Ich trug, als wir da standen, eine schwarze Maske und trotz der Temperaturen eine viel zu große Lederjacke über meiner verwaschenen Kleidung. Ich berührte die Maschine, nahm die Hand aber nicht gleich wieder weg, wie es sich vielleicht empfohlen hätte. Ich wartete zu, wunderte mich, was da unverständlicherweise in meinem Brustkorb pumpte und scheuerte. Die schlafende Drohne, dieses stählerne Insekt, entfaltete sich nicht unter meiner Berührung, kein Zauber stellte sich ein. Ich wartete. Dann zog ich die Hand zurück und verließ wortlos das Haus, in das ich nie mehr zurückkehrte. Doch der Bauschutt dieser Welt hat mich nie verlassen, in meiner Empfindung ist dieser Sommer, mit all seinen großen Fragen, nie zu Ende gegangen. Das Mädchen hat mich nie geküsst.

II. Fabelhafte Verhältnisse

»Aber eine Armee von Gespenstern beansprucht seine Schuhe.«

Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei

Die eigentlich lähmende Ruhe eines Feiertags und eine auf einem grellbunten Plakat beworbene Attraktion treibt Dich aus Deinem gemütlichen Zimmer, es zieht Dich förmlich auf die Straße, weg von Deiner verlotterten Polizeistation, die Du vor weniger als einem Monat in desolatem Zustand vorgefunden und nach Durchführung der notwendigsten Reparaturen übernommen hast. Du machst einen kurzen Halt beim städtischen Postamt und gibst eine der gefälschten Ansichtskarten auf, die eigentlich eine chiffrierte Nachricht an Deine Dir übergeordnete Dienststelle ist. Adressiert ist das kleine, nachlässig bedruckte Kartonrechteck an Leute, die Du kaum kennst, wie könnte es auch anders sein. In einer Ecke des Amts, unweit des Schalters, lungern ein paar Einheimische, die sich wohl schon vor ihrem Besuch des sich angekündigten Jahrmarkts, ein selten zu sehendes Spektakel in dieser Gegend, das, neben anderen Dingen, eben auch Deine Hoffnung auf billige Ablenkung in diesen tristen Tagen unerfreulicher Ermittlungen geweckt hat, ein wenig mit Fusel betrinken wollen, wohl auch, um Zeit und Geld bei den später erhofften Vergnügungen einzusparen. Einer von ihnen stößt eine Flasche um, und Du musst, ganz gegen Deinen eigentlich vorhandenen Vorsatz, Dich bei solchen Geräuschen nicht mehr ruckartig nach deren Quelle umzudrehen, aufschauen, Dir ein Bild machen, wie immer, wenn ein Glas, ein Teller zu Boden fällt oder ein morsch gewordener Stuhl unter dem Gewicht eines Gastes zu Bruch geht. Du betrachtest die sorglosen Gäste, ihre geröteten Nasen und suchst unter ihnen nach Gesichtern, die Dir zumindest entfernt vertraut erscheinen, horchst möglichst genau auf das Geraune ihrer leisen Stimmen. Du musst Dich sehr konzentrieren, um weder aufzufallen noch enttarnt zu werden. Auch das könntest Du alles verlernen, alles kann wieder verlernt werden. Die einzige natürliche Fertigkeit, die man für Deine eigentliche, vor allen verheimlichte Arbeit je mitbringen musste, war und ist das Lügen. Zivilisatorische Normen kann man ablegen, Regel für Regel, der eigentliche Akt des Tötens geht schneller als erwartet und wie von selbst von der sprichwörtlichen Hand. Du hast diese Gabe in Dir entdeckt, auch wenn Du es Dir vorerst kaum zugetraut hattest. Man gewöhnt sich im Laufe der Zeit daran, bis besagte Fähigkeit zum wesentlichsten Teil der eigenen Person geworden ist. Du hast zugesehen, wie es passiert ist. Du hast zugelassen, dass die anderen Teile Deiner Identität davon verdrängt oder gar aufgesaugt wurden. Die Dir immer noch innewohnende Unwilligkeit gegen Deine heimliche Tätigkeit, der sich immer seltener regende Widerstand gegen Dein tödliches Spezialistentum, verschwand unter einem Pflichtbewusstsein, das Du schon länger nicht mehr hinterfragt hast. Um ein Diener des Kombinats zu sein, insbesondere in Zeiten wie diesen, muss man kühl und bedacht sein. Es gilt, zwischen den notwendigen Taten und dem Einsatz der verfügbaren Mittel zu balancieren, dem zu erhaltenden System, den Werten, für die es angeblich einsteht, und dem erzwungenen Frieden, den es angeblich bedeutet, zuzuarbeiten. Dass dieses System immer mehr Risse bekommen hat, dass der vermeintliche Friede in offenen Krieg umgeschlagen war, hatte Dich erst zu interessieren begonnen, als es unvermeidlich geworden war. Doch auch dann hat Dein Engagement, hat es auch Dein Gewissen etwas erleichtert, Deine Situation nicht verbessert. Dein Aufenthalt in dieser elenden Kleinstadt in der östlichsten Provinz des Reichs hat nicht unwesentlich mit Deinen lange Zeit unwidersprochen durchgeführten Arbeiten und Deinem einzigen, kurzen Widerspruch zu einem besonders ungünstigen Moment zu tun. Davon wird an anderer Stelle mehr zu lesen sein, jetzt musst Du Dich auf den Jahrmarkt, diese von Dir eigentlich seit Kindertagen zutiefst verachtete und als minder eingestufte Unterhaltungsform, einstellen. Doch hier wird die Stadtbevölkerung versammelt sein, hier wirst Du etwas lernen können, schneller und effektiver. Hier wirst Du ihnen außerdem eine Lektion erteilen können, ganz nebenbei, und Du wirst, wenn Du Glück hast und Dich geschickt anstellst, ein paar der Wölfe enttarnen, die unter diesen von Dir verabscheuten Schafen noch immer unbehelligt leben. Sie und Du, das wird Dir hier in der Enge des Postamts wieder deutlich, ihr seid nicht von der gleichen Art.

Die Buden und kleinen Hütten des Jahrmarkts sind auf einem weitläufigen Platz und einem angrenzenden, unbetonierten Feld, das am nahen Waldrand entlang verläuft, aufgebaut worden, ganz einer kleinen Stadt gleichend, die sich inmitten einer größeren entfaltet und ihre ungewöhnliche Belagerung gleich inmitten der Mauern der einzunehmenden Siedlung begonnen hat. Die papierenen Ankündigungen, die billigen Plakate mit ihrer Unausgewogenheit in Typografie und Bild haben nichts versprochen, was hier nicht geboten wird. Die durch das Kombinatsgebiet wandernden Schausteller haben flink ihr Reich aufgeschlagen, das nur eine Nacht währen soll und nichts zurücklassen wird außer Müll, schweren Köpfen und leeren Börsen. Die Stadtbewohner drängen sich an Dir vorbei, während Du zwischen den Buden scheinbar planlos herumläufst, getragen von einer oberflächlichen Begeisterung, die fast darüber hinwegtäuscht, dass sie nur hier sind, weil es eben nichts anderes zu tun gibt. Du beobachtest, wie sie kleine Münzen für billigen Tand und schlecht zubereitete Speisen ausgeben, wie sie aus der bunten Vielzahl exotischer alkoholischer Getränke wählen. Du spürst ihre Enttäuschung, die sie sich gegenseitig nicht eingestehen wollen, Du erhaschst einen Blick auf ihre Neugier, auf ihren unleugbar vorhandenen Wunsch nach etwas Echtem in all diesen Fälschungen und Repliken. Wie wenig sie das Tatsächliche aber erkennen könnten, wird Dir mit jedem gemachten Schritt und mit jeder registrierten Geste bewusster. Nicht nur, dass ihnen offensichtlich die Fähigkeiten zur Unterscheidung fehlen, wollen sie trotz ihres ihnen vielleicht selbst nicht ganz klaren Verlangens nach etwas Echtem doch vor allem Neues oder Vertrautes in noch unvertrauter Gestalt sehen. So wie sie sonst zu den öffentlichen Hinrichtungen und Schauspielen der Macht des Kombinats strömen, vor allem, so musst Du annehmen, um sich selbst in ihren Rollen und Funktionen, in ihrer sich selbst zugeschriebenen Wichtigkeit bestätigt zu wissen, treiben sie sich nun auf dem Jahrmarktsgelände herum. Aus dem Gewirr ihrer Stimmen filterst Du die wichtigsten Sätze und Wörter heraus, hörst auf die hoffentlich wesentlichen Dinge. Du blendest den dumpfen Rest aus, schiebst ihn im Geiste wie bei einer Turnübung beiseite, versetzt große akustische Blöcke an den Rand Deiner Gedankengänge, bis nur noch die zentralen Elemente übrig bleiben. Zwischen diesen rot visualisierten Linien musst Du navigieren, Du musst Dich bewegen und so agieren, dass man Dir Dein Geschick möglichst noch nicht ansieht. Du kannst darauf vertrauen, dass Deine Oberfläche durch und durch grau ist, so unlesbar und langweilig wie nur möglich. Die Bewohner lärmen zwischen den Ständen, prosten einander zu, wippen und tanzen zur Musik und wagen einen Blick in die exotischen Tanzvorstellungen. Eher hilflos versuchen sie sich an den mobilen Spielautomaten und Schießbuden. Das blecherne Knallen der billigen Scheibengewehre lässt Dich innehalten. Hier, an einer der größeren Buden, steht eine Handvoll Väter, umringt von ihren schlecht gekleideten Kindern, hantieren hilflos und recht plump mit den luftdruckbetriebenen Waffen, die in ihren groben Händen erst recht wie Spielzeug wirken. Du näherst Dich langsam und möglichst lautlos weiter an, als müsstest Du Dich anpirschen, um Deine Beute nicht zu verschrecken. Die Erwachsenen erwerben, begleitet vom Gekreische der Kinder, die ihren Eltern kaum bis an die Hüfte reichen, Runde um Runde Munition und verfehlen, begleitet von den hämischen Blicken und Bemerkungen des Budenbesitzers, wieder und wieder die beweglichen Ziele. Die wenigen Glückstreffer, die sie landen, reichen einfach nicht aus, um einen der ausgestellten Preise, selbst noch den kleinsten unter ihnen, zu gewinnen. Überraschend wohlgeordnet stehen die Kunststoffeisenbahnen und schlecht vernähten Stofftiere neben billigen Puppen in glitzernden Gewändern. Sie verharren unbeeindruckt von den zahllosen Kleinstgeschossen, die in die hölzerne Rückwand der Schießbude einschlagen. Nun stehst Du neben den Vätern, gibst Dich möglichst unbeteiligt, während die Kinder ringsum immer ungeduldiger werden oder sich bereits gelangweilt und enttäuscht abwenden. Die Männer mit ihren Gewehren agieren immer verzweifelter und ordern unter den tadelnden Blicken sich nähernder Frauen – unter ihnen vermutetst Du richtigerweise auch einige der dazugehörigen Mütter – weitere Getränke und neue Munition. Dies scheint Dir eine gute Möglichkeit, etwas zu demonstrieren, Deine Überlegenheit deutlich und unübersehbar auszustellen. Du möchtest die Stadtbewohner, denen Du trotz Deiner Einschränkungen immer noch weit überlegen bist, vor den Kopf stoßen. Ganz entgegen Deiner sonstigen Vorsicht willst Du für wenige Momente etwas von Deiner wahren Natur und Bestimmung erkennen lassen. Du möchtest den Anwesenden Angst einflößen, sie weniger beeindrucken als vielmehr einschüchtern, Du möchtest eine wirksame Geschichte über Dich stiften. Du weißt, wie das funktioniert, auch dafür wurdest Du hervorragend ausgebildet und vorbereitet. Du nickst dem Besitzer zu und legst ein großes Goldstück auf die abgegriffene Holzauflage. Damit hättest Du die Preise auch einfach kaufen können, aber Du wählst einen anderen Weg. Das Gewehr ist für Deinen Geschmack viel zu leicht und Du verschießt die beiden ersten Kugeln, dann aber triffst Du alle weiteren sich bietenden Ziele. Du denkst nicht, während Du das tust, Du agierst einfach. Aus den Preisen wählst Du einige gleich aussehende Stoffbären und verteilst sie an die Kinder. Die umherstehenden Leute nicken Dir zu, aber keiner sagt ein Wort des Dankes. Du hast es Dir nicht anders erwartet, und dem Budenbesitzer ist die Szene offensichtlich vollkommen egal. Er ist mehr als nur gut bezahlt worden und wohl auch froh, einige der angestaubten Trophäen endlich losgeworden zu sein.

 
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