Buch lesen: «König und Meister», Seite 5

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8. Kapitel

Ada erwacht von einem Donnerschlag. Sie muss eingeschlafen sein, anders kann sie es sich nicht erklären. Der Donner hallt durch das Wohnzimmer, und das Licht scheint draußen wie ein eingefrorener Blitz in der Luft zu verweilen, ohne zu flackern oder zu vergehen. Er zieht Adas ganze Aufmerksamkeit auf sich. Wie das Flutlicht eines Fußballstadions erleuchtet der stehende Blitz den Garten. Durch die Fenster und die gläserne Terrassentür späht sie nach draußen in den nächtlichen Garten, wo der Wind an den Ästen und Blättern zerrt und die Schatten der Bäume tanzen lässt. Sie schlüpft in ihre Schuhe. Vorsichtig öffnet sie die Tür und tritt nach draußen, woraufhin sie eine plötzliche, vollkommene Stille umgibt. Irritiert hält sie inne und macht einen Schritt zurück ins Haus, von wo aus sie das Heulen des Sturms hören und seine Wogen fühlen kann, mit denen er sich auf das Dach wirft und die Balken zum Ächzen bringt. Wieder wagt sie sich vorsichtig hinaus und wieder ist die Ruhe, die sie umfängt, absolut. Fasziniert geht sie weiter, hin zum großen Walnussbaum, zum Meister, dessen Wipfel rhythmisch und völlig lautlos auf und ab wippt. Ada fühlt etwas Hartes unter ihrem Fuß und bückt sich, um es aufzuheben. Es ist eine Walnuss, die im eisigen Licht des Flutlichtblitzes silbern schimmert. Die Nuss ist so schwer, dass Ada die rechte Hand mit der Linken stützen muss, um die kleine Kugel halten zu können. Da bricht die silberne Schale auf, sodass das Fruchtfleisch – weich und zähflüssig wie aus einem aufgeschlagenen Ei – hervorquillt. Der Dotter ist grau und zerfurcht, mit aufgeworfenen Falten und Vertiefungen wie die Darmschlingen eines winzigen Tieres – oder wie ein Gehirn. Angewidert lässt Ada die Nuss zu Boden fallen, wo sie mit einem dumpfen Schlag im weichen Moos versinkt. Es ist der erste Laut, den sie in diesem seltsamen Garten wahrnimmt. Der Zweite ist ein Knistern wie von brennendem Reisig. Das Geräusch kommt vom Fuß des Nussbaums. Als sie sich dem Stamm nähert, biegen sich die Äste unter den überschweren Früchten herab wie die Zweige einer alten Weide und umschließen Ada wie ein natürlicher Pavillon. Da sieht sie einen Schatten an den Wurzeln. Ada wagt sich einige Schritte vor und starrt auf den aufgewühlten Boden, über dem weißer Rauch aufsteigt. Zwischen den Wurzeln liegt jemand begraben, nur wenige Zentimeter tief, sein Gesicht liegt frei. Es ist ein verbranntes Gesicht mit zwei goldenen Augen, die Ada anblitzen wie glühende Kohlen. Der lippenlose Mund öffnet sich und fragt knisternd: »Willst du immer noch leben?«


9. Kapitel

Feine Lichtfäden stachen durch das dichte Blätterdach und wurden von den stumpfen Fenstern zerstreut. Ächzend richtete Ada sich auf und rieb sich die Augen. Die Couch war wahrlich nicht der bequemste Ort, um darauf die Nacht zu verbringen. Sie erinnerte sich vage an den Traum. Der Garten, absolute Stille, der Nussbaum und dann irgendetwas, das ihr Übelkeit bereitete. Albträume eben. Ada schlug alles immer gleich auf den Magen.

Sie humpelte in die Küche und setzte Wasser für Tee auf. Ihr Vater hatte seine Flüssigkeitszufuhr nahezu ausschließlich über Kaffee und Orangenlimonade gedeckt, sodass Ada für die Ausstattung der Teeschublade selbst hatte sorgen müssen. Dafür war sie sich aber auch sicher, dass außer ihr niemand ihren Vorrat aufbrauchte. Juro tauchte auf und strich wieder um ihre Beine und die Krücken. Die Türme aus Katzenfutterdosen, die im Schrank neben der Spülmaschine aufgeschichtet waren, reichten bis zur nächsten Apokalypse. Die Brötchen im Brotkasten erwiesen sich hingegen als steinhart. Im Kühlschrank fand sie nichts, was sie auch nur ansatzweise hätte essen wollen. In seinem Innern roch es nach altem Fleisch und kaltem, abgestandenem Tauwasser. Ein paar Karotten verkümmerten im Gemüsefach. Zwei Becher Sahne schienen hingegen frisch gekauft worden zu sein, außerdem eine Dose Thunfisch, ein Glas saure Gurken sowie Senf, Ketchup und ein Sekundenkleber.

Auch in der Speisekammer gab es nichts, was unmittelbar zum Verzehr geeignet gewesen wäre, wenn sie von trockenen Nudeln und einem Päckchen Tuc-Keksen absah. Fertiggerichte, Dosensuppen, ein paar Schläuche Rotkohl, im Eisschrank Tiefkühlpizzas und Rehrücken. Nichts, was sich für ein schnelles Frühstück eignete. Auf der Fensterbank der Vorratskammer stand ein altes Backblech mit Walnüssen, die zum Trocknen dort ausgebreitet worden waren. Sie mussten schon eine ganze Weile dort liegen, denn auf der schwarz verfärbten Schale hatte sich eine dicke, klebrige Schicht aus Staub und Spinnweben gebildet. Ada streckte die Hand danach aus, doch bevor sie die erste Nuss berührte, zuckte sie zurück. Ein Bild aus ihrem Traum schoss ihr durch den Kopf: Ein winziges Gehirn, das in einer Nussschale lag. Ihr Blick glitt zum Küchenfenster, durch das sie nur den Stamm und die untersten Äste des Meisters sehen konnte. Er musste in den letzten Jahren besonders viele Nüsse gegeben haben. Ada war es zuvor nicht sonderlich aufgefallen, doch die Walnüsse lagen im ganzen Haus verstreut: Im Flur hinter dem Telefon und auf dem kleinen Tischchen neben dem Treppenaufgang, in der Bronzeschale mit dem Wildschwein, im Wohnzimmer auf der Couch, selbst im Badezimmer lagen welche auf dem kleinen Hocker mit den Zeitungen. Früher hatte Ada gerne ab und zu ein paar Nüsse gegessen, aber im Grunde machte sie sich nicht viel aus ihnen.

Erneut öffnete sie die Teeschublade und holte die Tüte Notfallhaferflocken heraus. Zumindest auf den Milchvorrat konnte sie sich verlassen. Kaffee ohne Milch hatte selbst ihr Vater für ungenießbar erklärt. Aber die Zubereitung der Haferflocken erwies sich als unerwartet schwierig, weil sie beinahe die Hälfte der Milch verschüttete. Ada vermutete, dass es an der Überlastung durch das Krückengehen lag, dass ihre Hände so sehr zitterten.

Nach dem Frühstück schleppte sie sich nach oben in den ersten Stock, wo sie in ihrem ehemaligen Kinderzimmer, neben ausgebleichten Postern und Aufklebern, Kleidung zum Wechseln aufbewahrte. Vom Schrank glotzten ihre Kuscheltiere aus stumpfen Glasaugen herab. Zwei Plüschkatzen sahen exakt gleich aus. Eine war ihre Lieblingskatze gewesen. Über Jahre hatte sie sie überall mit hingeschleppt, bis sie eines Tages spurlos verschwunden war. Tagelang hatte sie geweint, nächtelang kaum schlafen können, bis ihr Vater die Katze wiedergebracht hatte. Nie war Ada glücklicher und dankbarer gewesen. Erst als sie Wochen später eine zweite, sehr staubige Katze unter dem Bett gefunden hatte, war ihr bewusst geworden, dass ihr Vater ein identisches Stofftier gekauft und ein wenig abgewetzt hatte.

Sie setzte sich auf das Bett und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen, auf der Suche nach weiteren Erinnerungen. Und natürlich kamen sie. Dort auf den Boden neben dem Bett hatte ihr Vater manchmal gesessen und ihr Märchen erzählt, wenn sie nicht einschlafen konnte. Meist waren es Geschichten von einem heldenhaften König, der die Prinzessin aus den Klauen eines bösen Zauberers befreien musste. Nicht selten war er über diesen Geschichten selbst eingeschlafen und Karin hatte ihn nachts zugedeckt. Später hatte sie ihn nicht mehr mit einer Decke bedacht, sondern nur noch mit eisigen Blicken am nächsten Morgen.

Ada stand wieder auf. Sie hätte sich gerne geduscht, wusste aber nicht, wie sie ihren Knieverband vor Nässe schützen sollte, also musste eine Katzenwäsche reichen. Als sie das Schwesternoutfit in die Waschmaschine warf, sah sie vom Badezimmerfenster aus ihr eigenes Auto, das sie vor drei Tagen in der Einfahrt geparkt hatte, um mit ihrem Vater ins Restaurant zu fahren. Es wirkte wie ein Fremdkörper, als gehöre es nicht hierher und hätte längst schon wieder aufbrechen wollen. Denn das Haus und seine Einrichtung warteten ungeduldig auf ihren wahren Besitzer und mochten sich in der Zwischenzeit nicht mit Besuchern herumärgern.

»Ihr müsst euch keine Sorgen machen«, sagte Ada laut, als sie auf dem Weg nach unten an der Schale mit dem kleinen Wildschwein vorüberkam. »Der König ist nur kurz weg und kommt bald wieder. Ich werde ihm Grüße von euch ausrichten.«

Ächzend kletterte sie ins Auto und warf ihre Krücken auf den Rücksitz, froh darüber, dass der Wagen ein Automatikgetriebe besaß. Die Kupplung hätte sie mit ihrem schmerzenden Knie nicht treten können. Zeitgleich mit dem Motor sprang das Radio an, dessen Wetterbericht einen spätsommerlichen Prachttag versprach, bevor es aufputschende Elektrobässe durch die Lautsprecher wummern ließ. Ada fühlte vorsichtige Zuversicht in sich aufkeimen. Vielleicht würde ja schon bald alles besser. Vielleicht war alles gar nicht so schlimm. Warum nicht hoffen? Vielleicht wachte ihr Vater heute auf.

Sie nahm die Autobahn in Richtung München, jagte den roten Honda mit Höchstgeschwindigkeit über die linke Spur. Das Radioprogramm wurde jäh unterbrochen, weil der Moderator eine aktuelle Warnung für einen bestimmten Streckenabschnitt herausbrachte: Rehe auf der Fahrbahn. Der Gedanke schoss wie flüssiges Blei durch Adas Nervenbahnen. Mit einem Mal war alles wieder da: Die vorbeifliegende Landschaft, das Reh, der Ruck am Lenkrad, die Welt, die um sie herumwirbelte, Kräfte, die an ihr rissen, als wollten sie sie zerfetzen, der Wunsch zu leben, das Grauen des kochenden Bluts auf dem zerknüllten Airbag. Wie hatte sie so töricht sein können, einfach mir nichts dir nichts in ein Auto zu steigen? Langsam, unendlich langsam zwang sie den Fuß vom Gaspedal und wechselte auf die rechte Spur. Dabei krallte sie die Finger in das Lenkrad, damit sie nicht so sehr zitterten. Schweiß rann ihren Nacken hinunter. Sie musste raus, raus aus diesem bleiernen Sarg, denn alles konnte jeden Augenblick zu Ende sein. Doch sie wusste auch, dass sie auf der Autobahn nicht einfach anhalten durfte. In Gedanken sah sie schon schwer beladene Lastwagen, die ihr Auto auf dem Seitenstreifen erfassen und unter sich begraben würden, also zwang sie sich, weiterzufahren. Nur nicht die Kontrolle verlieren!, dachte sie. Alles wird gut. Alles ganz normal! Anstatt anzuhalten, öffnete sie die Fenster und ließ sich vom brausenden Fahrtwind betäuben, bis nach und nach Ruhe in ihr Herz kehrte und die Tränen von der kalten Luft getrocknet worden waren. Sie würde es schaffen, sie würde heil am Krankenhaus ankommen und ihren Vater dort wiedersehen. Wie es danach weiterging, daran wagte sie nicht zu denken.

In der Einsteinstraße, unweit des Krankenhauses Rechts der Isar, fand sie einen Parkplatz. Die letzten zweihundert Meter bis zum Haupteingang konnte sie mit den Krücken zu Fuß bewältigen. Sie kam sich vor wie ein übergroßer Käfer, dem zwei Beine ausgerissen worden waren und der trotzdem versuchte, mit seinen langen dünnen Gliedmaßen normal weiterzukrabbeln. Es war absurd, sich auf diese Weise fortzubewegen! Sie nahm sich vor, am Nachmittag Fahrradhandschuhe zu kaufen, damit die empfindlichen Stellen zwischen Daumen und Zeigefinger durch die ungewöhnliche Belastung nicht noch mehr aufgescheuert wurden. Kurz vor der Einfahrt, über die Patienten mit Taxi oder Krankenwagen direkt vor den Haupteingang gefahren werden konnten, erkannte sie den Bettler, den sie schon von ihrem Krankenzimmer aus gesehen hatte. Er kniete auf einer abgenutzten beige-braun karierten Wolldecke. Seine Kleidung war von einem einheitlichen dumpf schwarzen Farbton, der jeden Schmutz verschluckte. Auf dem Kopf trug er eine blaue Mütze, die Ada an Lukas den Lokomotivführer denken ließ, nur steckte in seinem Mund keine Pfeife, sondern eine schiefe selbst gedrehte Zigarette. Er lächelte Ada freundlich an und wies mit einem Nicken auf die Blechdose vor sich, in der bereits ein paar Kupfermünzen lagen. Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern und hob die Krücken, die ihr als Ausrede dienten, nichts in die Dose zu werfen. Dabei hörte sie die innere Stimme des Mitleids, die sagte: Eigentlich wäre es überhaupt kein Problem, diesem Mann ein paar Cent zu schenken. Was stellst du dich so an?

Ich muss ihm nichts geben!, meldete sich in barschem Tonfall die Vernunft: Es ist sein Job zu betteln. Er verkaufte damit ein gutes Gewissen. Aber wenn ich an seinem Produkt nicht interessiert bin, dann muss ich es auch nicht kaufen. Basta!


Im Krankenhaus wuselte die übliche Mischung aus Patienten, Besuchern und Personal, die stets gleich zu bleiben schien, egal, welcher Wochentag gerade war. Ada hatte das Gefühl, mehr mit der Masse zu verschmelzen als noch am Tag zuvor. Sicherlich lag es daran, dass sie jetzt Zivilkleidung und keine Schwesternuniform mehr trug. Außerdem meinte sie, die Krücken an diesem Tag besser bedienen zu können, sodass sie nicht mehr wie ein nasser Sack zwischen zwei Storchbeinen hing.

Im Wartebereich vor der Tür der Intensivstation saß ein alter Mann mit sorgenvollem Gesicht. Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu und nickte nur, als sie ihn anlächelte. Mama würde so etwas nie tun, dachte Ada. Sie hatte Ada oft genug erklärt, warum es für Frauen im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht notwendig war, immer nett zu sein und zu lächeln. »Das ist eine Unterwerfungsgeste, merk dir das!«, hatte sie gesagt. »Aber ich will doch nur freundlich sein!«, hatte Ada entgegnet, woraufhin ihre Mutter gemeint hatte: »Die Unterlegenen müssen freundlich sein, die Überlegenen können es, verstehst du?« Sie hatte es verstanden, aber nie mit der Härte und Konsequenz umgesetzt wie Karin König. Die hatte es weit gebracht und lächelte nur noch selten.

Ganz in Gedanken an ihre Mutter ließ sich Ada auf den Sitz plumpsen und hob gerade rechtzeitig den Blick, um zu sehen, wie aus dem Aufzug direkt gegenüber der verbrannte Mann trat. Er schlurfte mit gesenktem Kopf zu ihr herüber und setzte sich zwischen Ada und den Alten, woraufhin der Mann plötzlich zu husten begann, als habe er sich verschluckt. Er keuchte und röchelte und stützte sich auf seinen Knien ab.

»Alles in Ordnung?«, fragte Ada.

»Ja danke, geht schon. Das habe ich seit Tagen.« Er holte ein blau kariertes Stofftaschentuch hervor, presste es sich vor den Mund und wankte keuchend zum Aufzug. Eine Minute später war Ada mit dem verbrannten Mann allein.

»Wie geht’s? Hast du gut geschlafen?«, fragte er unvermittelt.

Ada war so überrumpelt, dass ihr nur die Standardantwort einfiel. »Danke, gut.«

»Früher habe ich die Vorhänge nachts auch immer offengelassen, weil man draußen sowieso nichts erkennen kann. Aber solange es drinnen hell ist, sieht man nicht, wer von außen hineinschaut.«

»Was …?« Adas Kehle wurde trocken. Ihr Herz pumpte mit einem Mal hart und wild in ihrer Brust.

»Der Meister weiß, dass du im Haus bist.«

Mit einem Satz war sie auf den Beinen und an der Glastür zur Intensivstation. Hastig fingerte sie nach dem kleinen weißen Knopf. Auf der gegenüberliegenden Seite der Tür schrillte die Glocke unablässig.

»Wer sind Sie? Was soll das?«, presste sie hervor, umklammerte die schweren Krücken.

»Wir haben einen Deal.«

Sie wollte antworten, doch es war, als sei ihr die Stimme abhandengekommen. Der verbrannte Mann fuhr fort: »Es ist ein einfaches Geschäft. Der eine gibt, der andere bezahlt. So ist das. Du hast doch nicht gedacht, dass man so einen Wunsch umsonst erfüllt bekommt.«

»Hören Sie auf! Lassen Sie mich in Ruhe«, krächzte Ada, woraufhin der Mann zischte:

»Willst du immer noch leben?«

Plötzlich verlor Ada das Gleichgewicht und kippte nach hinten. Nur der schnellen Reaktion des Krankenpflegers, der die Tür der Intensivstation geöffnet hatte, war es zu verdanken, dass sie nicht stürzte. Er stabilisierte sie, ließ sie sich an der Wand festhalten und reichte ihr die Krücken vom Boden. Indes klickte die Milchglastür ins Schloss. Ada atmete heftig, jede Faser ihres Körpers war in Alarmbereitschaft.

»Ist er noch da?«, fragte sie hektisch.

»Wer?«

»Der Mann. Der verbrannte Mann, der da mit mir gewartet hat.«

Der Pfleger öffnete die Tür und spähte nach draußen. Seinem Gesicht nach zu urteilen schien er nichts Besonderes zu entdecken.

»Hier ist niemand. Warten Sie auf jemanden?«

Ada wagte ebenfalls, durch den Türspalt zu blicken, doch die drei Sitzplätze waren verwaist. Ebenso der Flur und der Treppenaufgang. Das Display über dem Fahrstuhl zeigte an, dass er sich im dritten Stock befand. Der Pfleger ließ die Tür ins Schloss fallen.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.

»Der Mann …« Ada keuchte, doch im Blick des Pflegers sah sie nur Unverständnis.

Wie sollte sie ihm erklären, was gerade passiert war? War es überhaupt passiert? Es musste ein Traum gewesen sein. Wahrscheinlich war sie einfach eingenickt. Ja, so war es bestimmt gewesen! Alles andere war völlig undenkbar!

»Nein, danke … ich komm schon zurecht«, sagte sie schnell und wandte sich um, humpelte bis zum Ende des Ganges ins Zimmer Nummer fünf zu ihrem Vater.

Die Worte des verbrannten Mannes stachen in ihrem Nacken wie Nesselgift.


Als Ada mit klopfendem Herzen an das Bett ihres Vaters kam, hatte sich nichts verändert. Es war, als hätte sie das Krankenhaus nie verlassen. Vielleicht bin ich einfach hiergeblieben und habe mir den Rest nur eingebildet, dachte sie. Schnell blickte sie sich im Zimmer um, um zu überprüfen, ob das alles hier real wirkte, ob er Raum tatsächlich da war und nicht nur in ihrem Kopf. Nein, sie war wach.

Die Vorstellung, nicht fest mit der Realität verankert zu sein, war nicht neu für sie. Wenn sie spät abends oder mit Alkohol im Blut nach Hause kam, konnte sie oft nicht einschlafen und musste in Gedanken den Weg rekapitulieren, den sie von der Bar oder dem Restaurant bis zu ihrem Bett genommen hatte. Immer wieder überprüfte sie dabei wichtige oder gefährliche Wegpunkte, um sich zu vergewissern, dass sie diese auch wirklich überwunden und nicht etwa einen Unfall erlitten und nur als Geist den Weg zurück nach Hause gefunden hatte.

Einmal hatte Ada ihrem Vater diese Gedankengänge anvertraut und danach nie wieder. Denn nachdem er zwanzig Sekunden Verständnis gezeigt hatte, war er über die Idee, einen Therapeuten zu konsultieren, darauf gekommen, dass Psychologen die größten Scharlatane des Planeten wären, die allesamt nur studiert hätten, um ihre eigene Verrücktheit zu verbergen. Der Monolog hatte fast zwei Stunden gedauert und sie war froh gewesen, als der Anruf eines Nachbarn ihn unterbrochen hatte.

Ada presste die Hände auf ihr Gesicht und versuchte die Wut und den Kummer wegzuatmen. Er war so schwierig! Wieso war er so schwierig? Warum konnten sie kaum noch einen geraden Satz sprechen, ohne sich zu zanken, zu beschimpfen oder – noch schlimmer – zu verachten? Früher war alles anders gewesen. Da waren sie ein großartiges Team gewesen. Vater und Tochter. Natürlich hatten sie sich auch damals gestritten, sich wilde Diskussionen geliefert und Kämpfe geführt, die jeder Mensch nur zweimal in seinem Leben ficht: einmal als Kind und einmal als Elternteil. Doch danach hatten sie sich stets wieder vertragen, hatten reinen Tisch gemacht. No Hard Feelings. Doch irgendwann hatte es sich geändert. Sie hatten sich Wunden zugefügt, die nie ganz verheilt waren, hatten Worte gesagt, die man zwar verzeihen, aber nie vergessen konnte. Wie Schwermetall, das sich im Körper langsam und unaufhaltsam anreichert und ihn schlussendlich vergiftet, so sammelten sich auch die Rückstände ihrer Auseinandersetzungen immer weiter an. Bis Ada es irgendwann vorgezogen hatte, gar nichts mehr zu sagen und ihn reden zu lassen, was ihn wiederum ermutigt hatte, immer mehr zu monologisieren und das Zuhören zu verlernen. So hatten sie sich seit Jahren eingerichtet.

An mir hat es nicht gelegen, versuchte Ada sich zu trösten. Ich habe mich nicht verändert. Aber das war natürlich eine Lüge. Sie war sechzehn gewesen, als ihre Mutter die Familie endgültig verlassen hatte. Gegangen war sie schon Jahre vorher. Ada hatte es kommen sehen. Sie erinnerte sich noch genau an den Abend.

Sie mochte zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein, als sie zusammen beim Essen gesessen hatten. Ihre Mutter hatte aufgekratzt gewirkt, war aber erst nach und nach auf den Punkt gekommen. Ihr war eine Stelle in Hamburg angeboten worden. Dieser Posten war alles, was sie sich jemals gewünscht, alles, worauf sie hingearbeitet hatte. Ada wusste sofort, dass ihre Mutter diese Chance nie im Leben verstreichen lassen würde, doch ihr Vater blieb unbeeindruckt. Er wollte weder wegziehen – schließlich war er jetzt Konrektor der Grundschule! – noch eine Wochenendbeziehung führen. Dass sie mehr als doppelt so viel verdiente wie er, hielt er für unerheblich. Immerhin war er der König und er konnte doch nicht einfach Haus und Hof verlassen, nur weil seine Frau hunderte Kilometer entfernt einen neuen Job angeboten bekommen hatte. Er riet ihr davon ab, die Stelle anzunehmen, und verwies auf das gemütliche und mehr als abgesicherte Leben, das sie in Peining führten. Doch als Karin immer weiter von Hamburg schwärmte, knallte Adas Vater plötzlich die flache Hand auf den Tisch und polterte: »Du weißt, dass ich hier nicht wegkann.« Daraufhin sagte sie nichts mehr und Ada wusste: Eines Tages werden sie sich scheiden lassen und er wird noch nicht einmal wissen, warum!

Die Mutter nahm die neue Stelle an und pendelte. Unter der Woche lebte und arbeitete sie in Hamburg, am Wochenende kehrte sie zu ihrer Familie nach Peining zurück. Erst schien es ein guter Plan zu sein, denn Karin König freute sich endlich wieder, nach Hause zu kommen, und sie und ihr Mann hatten sich nach langer Zeit des Anschweigens Neues zu erzählen. Doch der Job forderte Zeit und Kraft und als die ersten Familien-Wochenenden ausfielen, war keiner der beiden traurig. Umso erstaunlicher, dass es danach noch drei Jahre dauerte, bis Adas Mutter die Scheidung einreichte. Womöglich hatte sie ihren Mann wirklich geliebt, aber die Zeit löste die Liebe auf, und irgendwann hatte Adas Vater keine Kraft mehr, die perfekte Familie, die nur in seiner Fantasie existierte, für alle drei aufrechtzuerhalten. Karin beauftragte einen Anwalt und handelte einen Deal aus, der offenbar für beide akzeptabel war. Ada hatte nie nach den Details gefragt, und – wie ihr schien – der König auch nicht. Als er die Trennung seiner Frau verinnerlicht hatte, wollte er sie nur noch so schnell wie möglich loswerden. Über seine Gefühle dazu redete er mit Ada nie. Tatsächlich sprach er seit diesem Tag überhaupt nicht mehr über Karin – außer wenn es um organisatorische Fragen ging, beispielsweise welchen Flug Ada nehmen, wo sie Weihnachten verbringen oder wer wo bei der Abiturfeier sitzen würde.

Karin hatte Ada damals gefragt, ob sie mitgehen wolle. Mit nach Hamburg in das perfekte Karriereleben, wo Ada ein Störfaktor, eine weitere Herausforderung gewesen wäre, der sich die furchtlose Mutter gestellt hätte. Es war schon bemerkenswert, dass Karin sie überhaupt gefragt hatte und kurz hatte Ada überlegt zuzustimmen – wenn auch nur, um ihre Mutter zu erschrecken. Aber am Ende war sie in Peining geblieben: Bei ihrem Vater, bei den Klassenkameraden und der Schule, auf der sie zwei Jahre später Abitur gemacht hatte; im Haus, das der Vater mit seiner Frau einst selbst gebaut und so geliebt hatte, dass er es vorgezogen hatte, ihm der Vergangenheit wegen treu zu bleiben, anstatt mit ihr eine neue Zukunft zu wagen. Von diesem Tag an war Ada das Haus fremd geworden. Ohne ihre Mutter, ohne ihre Sachen, ihre Möbel, ihre Präsenz, fühlte es sich nicht mehr an wie ihr Zuhause, sondern wie das Schloss des Königs.

Jetzt saß Ada hier, vor diesem Krankenbett, das massiv war wie ein Floß und diesen Menschen am Leben erhielt, der ihr etwas Wichtiges hatte sagen wollen und bis zum Schluss nur geredet hatte.

Was war es gewesen? »Ada, du musst unbedingt vorbeikommen. Ich muss dir etwas Wichtiges sagen!«, hatte er ihr vor drei Tagen am Telefon mitgeteilt. Ada hatte keine große Lust gehabt. Sie hatte ausruhen wollen und abends eine vielversprechende Tinder-Verabredung gehabt, doch der Tonfall ihres Vaters hatte sie zur Eile gemahnt. Also war sie in ihren Honda gestiegen und zu ihm gefahren.

In Gedanken wiederholte sie, was danach geschehen war. Das gemeinsame Essen, die Autofahrt, das Reh auf der Straße, Äste, die wie Speere auf sie zurasen, ein baum, dessen zweige sich um sie schließen wie eine alte Weide, eine knisternde Stimme … Der dunkle Strudel in ihrem Bauch dröhnte unhörbar: Ich habe nur um mein Leben gefleht!

»Haben Sie schon mit den Ärzten gesprochen?« Eine bekannte Stimme schreckte sie aus ihren Gedanken.

Ada hob den Kopf und erkannte Frau Mirovic, die am Fußende des Bettes stand und etwas in die Patientenakte eintrug.

»Nein, gibt es Neuigkeiten?«

Frau Mirovic blätterte ein paar Mal hin und her, dann schüttelte sie den Kopf. »Soll ich trotzdem einen Arzt holen?«

»Nein, danke. Sagen Sie … wissen Sie, wen der Mann mit den Brandwunden besucht?«

»Was für ein Mann?«

»Da gibt es so einen Mann, mit dem ich schon zweimal hier vor der Station gewartet habe. Er ist leicht wiederzuerkennen. Er hat lauter Narben im Gesicht, sieht so aus, als wäre er verbrannt worden oder so.«

Frau Mirovic schüttelte erneut den Kopf. »So jemanden habe ich hier noch nie gesehen. Aber ich habe ja auch nicht immer Dienst. Was ist ihm? Hat er Sie belästigt?«

»Nein, ich hatte mich nur gefragt, wen er besucht.«

»Tut mir leid, über die anderen Patienten darf ich Ihnen leider keine Auskunft geben.«

»Schon klar … ich bin mir nur nicht sicher, ob …«

»Es ist gut, dass Sie hier sind«, sagte Frau Mirovic mit fester Stimme.

»Wie meinen Sie das?«

Die Krankenschwester sah zum König und dann zu ihr und lächelte. »Ihr Papa kann sich glücklich schätzen, so eine Tochter zu haben. Man merkt, dass er Ihnen viel bedeutet.«


Lange hielt sie es nicht auf dem Platz aus. Das stetige Blinken und Dröhnen der Apparate, das Pumpgeräusch der Beatmungsmaschine, die Alarme, die alle paar Minuten an der Schwesternstation ertönten, zerrten an ihren Nerven. Irgendwann hatte Ada genug und verabschiedete sich leise von ihrem Vater.

Vor der Milchglastür zögerte sie kurz, weil sie fürchtete, dem verbrannten Mann zu begegnen, doch zwei Ärzte, die geschäftig dem Ausgang zustrebten, ließen ihr keine Wahl. Zu ihrer Erleichterung war der Wartebereich leer. Sie humpelte zum Aufzug und überlegte während des Wartens, in welchem Laden sie Fahrradhandschuhe kaufen konnte. Als sich die Türen zur Seite schoben, stand der verbrannte Mann direkt vor ihr.

Kalter Rauch, der Geruch von Ammoniak und heißem Papier drangen ihr entgegen. »Steig ein«, sagte er mit einer Stimme, als würde trockenes Laub rascheln.

Adas Herz schlug stechend bis unter ihr Schlüsselbein. Sie wollte fliehen, wegrennen, doch stattdessen bewegten sich ihre Arme und Beine mechanisch in den Lift. Als sich die Türen schlossen, wurde plötzlich alles um sie herum still.

Wie in meinem Traum, schoss es ihr durch den Kopf, doch zu mehr war sie nicht fähig, denn die lodernden Blicke des Mannes bohrten sich in ihre Seele und ließen keinen weiteren Gedanken zu.

»Du stehst in meiner Schuld«, sagte er in einem leisen, über jeden Zweifel erhabenen Tonfall.

»Warum?«, krächzte Ada.

»Du glaubst doch nicht, dass so ein Pakt über Leben und Tod ohne Gegenleistung geschlossen wird. Jeder weiß das. Jeder muss bereit sein, den Preis zu zahlen.«

»Welchen Preis?«

»Drei Dinge. Du musst drei Dinge tun. Dann ist die Schuld beglichen.«

»Aber …«, flüsterte sie halb von Sinnen vor Angst.

Der Mann öffnete den lippenlosen Mund und aus dem schwarzen Loch tönte Adas Stimme: »Ich will noch nicht sterben. Lass mich leben. Nur mich, nur mich, nur mich.«

Adas Mahlstrom schien ihren Herzschlag zum Erliegen zu bringen. Eisige Kälte zog zwischen ihren Schulterblättern hindurch und legte sich wie eine unsichtbare Schlinge um ihren Hals. Das Atmen wurde schwer, ihre Kehle enger. Die Welt um sie herum geriet aus der Form, begann zu verschwimmen. Die Wände des Aufzugs wurden zu Wagenfenstern, durch die Ada eine Böschung auf sich zuwirbeln sah. Sie fühlte den Sicherheitsgurt fest um Brust und Hals, hörte das Quietschen der Reifen, das Kreischen von Gummi und Stahl, sah den Baumstamm, dessen abgebrochene Äste sich jeden Moment durch ihr Fenster bohren würden.

»Nein, nein, ich mach es, ich mach es! Was muss ich tun?«, schrie sie verzweifelt, die Hände schützend gegen die hölzernen Speere erhoben. Augenblicklich wurden die Wände des Fahrstuhls wieder opak.

»Drei Dinge. Ein jedes für ein Leben, ein jedes für ein mich

»G … gut …«, stotterte Ada, ihre Stimme ein einziges Hecheln. »Was genau soll ich machen?«

Die goldenen Augen des verbrannten Mannes leuchteten wie glühender Kienspan. Sein vernabter Mund verzog sich zu einem Grinsen.

»Die erste Aufgabe ist einfach. Du darfst dir ein gutes Gewissen kaufen.«

»Wie?«

»Du hast den Bettler vor der Tür gesehen.«

»Ja.«

»Gib ihm fünfhundert Euro.«

»Was?«

»Du hast mich schon verstanden. Lass dir nicht allzu viel Zeit.«

Ada fühlte noch einmal den Schwindel in sich aufkommen, atmete gegen einen unsichtbaren Widerstand an, dann klärte sich plötzlich ihr Blick, frische Luft strömte in ihre Lungen und mit einem leisen »Pling« kam sie im Erdgeschoss an.

Der verbrannte Mann war verschwunden.

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Veröffentlichungsdatum auf Litres:
25 Mai 2021
Umfang:
320 S. 17 Illustrationen
ISBN:
9783964260628
Rechteinhaber:
Автор
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