Demenz

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Prof. Dr. med. Dr. phil. Theo R. Payk war u. a. Ordinarius für Psychiatrie und Psychotherapie an der Ruhr-Universität Bochum. Er ist jetzt als Supervisor, Gutachter und Ausbilder tätig.

Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

eISBN 978-3-8463-3371-6

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Inhaltsverzeichnis

Titel Impressum Einführung 1. - Krankheitszeichen 2 - Untersuchungen 3 - Ursachen 4 - Behandlung und Betreuung 5 - Rechtsfragen Anhang - Hilfreiche Adressen Medikamente (Antidementiva) Glossar Literatur Sachregister

Einführung

Nicht nur die überfüllten Wartezimmer der Arztpraxen und die langen Wartezeiten auf einen psychiatrischen oder psychologischen Untersuchungstermin signalisieren eine stete Zunahme geistig-seelischer Probleme während der letzten Jahrzehnte. Auch die Aufschlüsselungen der Krankenkassen und Sozialversicherungen lassen ein kontinuierliches Anwachsen psychischer Störungen in den Industrieländern erkennen; von sämtlichen Erkrankungen sind sie neben Infektionen und orthopädischen Beschwerden im Laufe der letzten zehn Jahre nach und nach auf die obersten Ränge aller Krankheiten gerückt. Während der letzten 20 Jahre war ein Zuwachs von rund 30 % dieserart Behandlungsfälle zu verzeichnen, einhergehend mit einer Verdoppelung der Gesamtkosten innerhalb der letzten fünf Jahre, die derzeit in Deutschland um 1.6 Milliarden Euro jährlich liegen. Die meisten vorzeitigen Berentungen erfolgen wegen psychischer Leiden, in Deutschland jährlich rund 50.000 Mal.

Während Psychosen und verwandte Störungen auf einem konstanten Häufigkeitsniveau verblieben sind, haben – neben Depressionen und Angstkrankheiten – alle möglichen Formen geistiger Beeinträchtigungen unter dem Oberbegriff „Demenz“ deutlich zugenommen. Abgesehen von den damit verbundenen volkswirtschaftlichen Belastungen, geht jede Demenzerkrankung nicht nur für den Betroffenen, sondern meist auch für die Angehörigen und nächsten Bezugspersonen mit erheblichen Belastungen und Einschränkungen einher.

Ausreichende Kenntnisse über die Art und den Verlauf einer Demenz helfen, den Kranken besser zu verstehen und angemessen mit ihm umzugehen. Dem damit verbundenen Lern- und Aufklärungsbedarf von direkt und indirekt Betroffenen soll im Folgenden Rechnung getragen werden, indem über die verschiedenen Arten und Formen demenzieller Krankheitsbilder informiert wird.

Dargestellt werden die typischen Erkrankungsbilder unter Einbeziehung von drei exemplarischen Krankheitsfällen. Genauer beschrieben werden Auffälligkeiten im Verhalten und Erleben sowie Beeinträchtigungen der Leistungsfähigkeit, die als Symptome einer beginnenden Demenz in Frage kommen, außerdem die gängigen Untersuchungsmethoden, die zur Diagnose führen. In diesem Zusammenhang werden die aktuellen Hypothesen zu den Entstehungsrisiken und -ursachen 8skizziert bzw. die mehrdimensionalen Krankheitsmodelle reflektiert. Schließlich wird das Repertoire der modernen, allgemein-medizinischen, psychiatrisch-psychologischen und psychosozial-pflegerischen Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen erläutert und begründet. Abschließend wird auf rechtliche Fragen eingegangen.

Alles in allem sollen diese Informationen dabei helfen, den Krankheitsprozess differenziert wahrzunehmen, sinnvoll einzuordnen und realistisch zu bewerten. Mögen sie Mut machen, nicht vor den hohen körperlichen und seelischen Anforderungen zu kapitulieren, die eine Demenz an alle Beteiligten stellt, sondern die veränderte Lebenssituation so erträglich wie möglich zu gestalten. Fachlich Interessierte und beruflich engagierte Angehörige pflegender, helfender und heilender Professionen werden eher Zugang zu den wissenschaftlichen Grundlagen der verschiedenen Demenzkrankheiten finden.

Vorkommen

An einer Demenz gleich welcher Art erkrankt sind in Deutschland – bei einem Gefälle von Ost nach West – etwa 1.2 Millionen Menschen mit weiter steigender Tendenz, was jährliche Neuerkrankungen von ca. 280.000 bzw. ein Nettozuwachs von ca. 35.000 Personen pro Jahr bedeutet. Dass deutlich mehr als die Häfte der Betroffenen Frauen sind, wird in erster Linie mit deren höherer Lebenserwartung erklärt. Zwei bis drei Prozent der Demenzen entfallen auf Personen unter 65 Jahren.

Wegen ihres meist unmerklichen Beginns wird die Krankheit anfangs oft nicht erkannt bzw. ihre Symptome werden als Ausdruck seniler Verschrobenheiten gedeutet und bestenfalls als altersbedingte Marotten belächelt. Im Gegensatz zu vielen anderen psychischen Störungen bilden sich die meisten Demenzerkrankungen jedoch nicht zurück, sondern führen zu einer fortschreitenden Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit, begleitet von einer Veränderung der gesamten Persönlichkeit – für jeden Einzelnen eine menschliche Tragödie. Trotz intensiver Forschungen zur Entstehung und Behandlung demenzieller Krankheitsprozesse gibt es bislang für die Betroffenen keine Heilung, allerdings etliche Hilfsmittel zu deren Linderung und zu einem Management des Leidens.

Anders als der Großteil schwererer geistig-seelischer Erkrankungen tritt eine Demenz überwiegend im fortgeschrittenen Lebensalter auf, dann allerdings mit zunehmender, steil ansteigender Häufigkeit. Liegt 9die Erkrankungswahrscheinlichkeit in den Industriestaaten mit 65 Jahren um etwa 1.5 %, steigt sie ab dann kontinuierlich an: Zehn Jahre später sind etwa 6–8 % der Menschen betroffen, mit 85 Jahren etwa ein Viertel der Bevölkerung, ab dem neunten Lebensjahrzehnt zeigt jeder Zweite Symptome einer Demenz.

Merksatz

Die Wahrscheinlichkeit, an einer fortschreitenden Demenz zu erkranken, steigt mit dem Älterwerden rapide an. Derzeit gibt es in Deutschland ca. 1.2 Millionen Demenzkranke verschiedener Ursachen mit jährlichen Nettozuwachsraten um ca. 35.000.

 

Bestandsaufnahme

Die Bezeichnung „Demenz“, für die auch volkstümliche Ausdrücke wie „Altersschwachsinn“, „Senilität“, „Hirnverkalkung“ oder „Zerebralsklerose“ gebräuchlich sind, entstammt dem lateinischen Begriff „de mente“, was soviel bedeutet wie „von Sinnen“. Mit ihm wurden ursprünglich allgemein psychische Ausnahmezustände wie „Wahnsinn“ oder „Tollheit“ bezeichnet. Erst mit der Renaissance änderte sich die Bedeutung von „Dementia“. So hob der Baseler Stadtarzt und Medizinprofessor Felix Platter (1536–1614) als Hauptmerkmal der demenziellen „Verblödung“ die Vergesslichkeit („Oblivio“) hervor. Er beschrieb in diesem Zusammenhang Greise, die nicht nur ihre frühere geistige Beweglichkeit verloren hatten, sondern auch die Fähigkeit, Neues aufzunehmen. Als Ursachen vermutete Platter erbliche Gründe, Hirnschädigungen oder „Alterseinwirkungen“.

Der berühmte Pariser Psychiater Jean Etienne Dominique Esquirol (1772–1840) zählte als besondere Demenz-Merkmale Einschränkungen des Gedankenreichtums, der Wahrnehmungsfähigkeit und der Gedächtnisleistungen auf. Sein Lehrer Philippe Pinel (1745–1826), der große Reformer des Irrenwesens am Pariser Hôpital Salpêtrière, nannte den Demenzkranken einen „arm gewordenen Reichen … geschwächt an Empfindung, Intellekt und Willen“. In der Folgezeit wurde erstmals ein Zusammenhang zwischen einer Demenz und einer progressiven Paralyse als Spätfolge einer Syphilis-Erkrankung vermutet, deren Verursachung durch Bakterien vom Typ der Spirochäte erst zu Beginn des

20. Jahrhunderts nachgewiesen werden konnte. Diese Demenzform, 10gekennzeichnet durch eine hochgradige geistige Zerrüttung und ein jahrelanges körperliches Siechtum, war neben der alkoholbedingten Demenz gefürchtet, weil sie meist schon während der ersten Lebenshälfte auftritt und damals nicht zu heilen war.

Schon von den altgriechischen Ärzten im 5. Jahrhundert v. Chr., sodann vor allem vom „Vater der Medizin“, Hippokrates (um 460–370 v. Chr.), wurde das Gehirn als Sitz der Seele angesehen. Aus dieser Tradition heraus brachten die byzantinischen und arabischen Ärzte der ersten Jahrhunderte n. Chr. geistigen Abbau und Persönlichkeitsveränderungen mit einem altersbedingten Hirnschwund in Zusammenhang. Jedoch gelang erst dem Münchener Psychiater Alois Alzheimer (1864–1915) im Jahr 1906 die genauere hirnpathologische Aufklärung der später nach ihm benannten Krankheit.

Die heute weitaus häufigeren Formen der Alzheimerdemenz und der durch mangelhafte Hirndurchblutung bedingten Demenz als Erkrankungen der zweiten Lebenshälfte wurden damals nur selten beobachtet, da die durchschnittliche Lebenserwartung in Europa im Vergleich zu heute etwa ein Drittel niedriger war. Das 60. Lebensjahr erreichten noch im 19. Jahrhundert allenfalls 10 % der Bevölkerung – bei einer voraussichtlichen Lebensdauer von 35 bis höchstens 40(!) Jahren. Heute liegt die Quote etwa vier Mal so hoch; in Deutschland beträgt die statistische Lebenserwartung inzwischen 82.4 Jahre für Frauen und 77.2 Jahre für Männer. Pflegebedürftig sind ca. 2.4 Millionen Personen.

Seit 1936 in England erstmals die Altersgrenze von 100 Jahren überschritten wurde, hat die Anzahl Hundertjähriger dank verbesserter sozioökonomischer Lebensbedingungen und enormer medizinischer Fortschritte kontinuierlich zugenommen. In Deutschland gibt es derzeit rund 22 Millionen Menschen, die über 65 Jahre alt sind. Ab diesem Alter wächst die Quote der Demenzkranken, von denen die meisten zur Gruppe der Alzheimerpatienten gehören, drastisch an.

In der Grundsatzerklärung der Vereinten Nationen (der sog. Wiener Deklaration) von 1982 wurden folgende Lebensziele für alte Menschen formuliert:

• Unabhängigkeit,

• Mitbestimmung,

• Pflege,

• Selbstverwirklichung und

• Würde.

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Die 2008 paraphierte, europäische Charta der Grundrechte im sog. Vertrag von Lissabon hebt in Artikel 25 Würde, Gleichstellung und Unabhängigkeit alter Menschen mit Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben besonders hervor. Vor dem Hintergrund dieser Leitlinien wird angesichts der stetig steigenden Lebenserwartung in den westlichen Industrieländern der Pflegeaufwand für Demenzkranke in Zukunft zu den wichtigsten gesundheitspolitischen und volkswirtschaftlichen Problemen gehören. Die statistischen Daten sind alarmierend: Schon jetzt sind sieben von zehn Heimbewohner demenzkrank. In Deutschland werden die direkten und indirekten Kosten zur Behandlung und Betreuung der Demenzkranken – davon fast zwei Drittel Alzheimer-Patienten – derzeit mit rund 5,7 Milliarden Euro jährlich beziffert.

Europaweit ist vorerst mit einer Nettozunahme um jährlich 150.000 bis 200.000 Patienten zu rechnen. Auf Drängen des Europäischen Parlaments soll der Kampf gegen Alzheimer-Demenz, an der in Europa etwa sieben Millionen Personen leiden, in der europäischen Gesundheitspolitik in Zukunft Vorrang bekommen.

Die Zahl wird wahrscheinlich weiterhin ansteigen, falls im Frühstadium durch medizinische Einwirkungen keine nachhaltige Unterbrechung des Krankheitsprozesses oder gar dessen Umkehr erreicht wird. Bis zum Jahr 2050 werden in Deutschland bzw. Europa schätzungsweise doppelt so viele Menschen wie heute an Demenz erkrankt sein. Pessimistische Schätzungen gehen sogar von noch größeren Zuwächsen für den Fall aus, dass durch präventive, d. h. krankheitsvorbeugende Maßnahmen, wie z. B. eine gesunde Lebensweise, keine Trendwende gelingt.

Die Forschung läuft auf Hochtouren. Und ähnlich wie bei der AIDS-Forschung drängt die Zeit. Auch wenn fast monatlich von Fortschritten (aber auch enttäuschten Hoffnungen) berichtet wird, bedeutet das nicht, dass in absehbarer Zeit ein Heilmittel verfügbar sein wird.

Eine Demenz ist in erster Linie durch einschneidende, erst irritierende und ärgerliche, bald frustrierende, dann schmerzliche kognitive Einbußen gekennzeichnet, d. h. durch Beeinträchtigungen im Bereich von Wahrnehmen und Erkennen, Erfassen und Begreifen, Verstehen und Denken, Behalten und Erinnern, Vorstellen und Planen. Schon der irische Schriftsteller Jonathan Swift (1667–1745) schildert in dem bekannten Roman „Gullivers Reisen“ solche Symptome: So hört der Protagonist Lemuel Gulliver während seines Besuches der Insel Luggnagg von den unsterblichen „Struldbrugs“, die ab dem 80. Lebensjahr als Tote betrachtet werden. Sie vergessen im hohen Alter alle möglichen Bezeichnungen und Namen und können kein Gespräch mehr führen.

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Nach heutigem Stand der Wissenschaft gibt es für den typischen Demenzkranken keinen Weg mehr zurück in die Normalität, in den Alltag von routinierten Gepflogenheiten und vertrauten Gewohnheiten, erst recht keine Weiterentwicklung in kreativ-schöpferisches Neuland. Schritt für Schritt und unaufhaltsam vermindern sich die wichtigsten Potenziale des Verstandes: Konzentration, Aufmerksamkeit, Interesse, Neugier, Anteilnahme, Verständnis, Gedächtnis und Orientierung.

Während von anderen psychischen Krankheiten Betroffene sich meist nur eine Zeit lang in eine verfremdete, vielleicht beängstigende oder bedrückende Erfahrungswelt verirren, ehe sie wieder in ihren normalen Lebensrhythmus zurückfinden, gerät der Demente in eine sich immer stärker verengende geistige Sackgasse. Anders als bei anderen psychischen Erkrankungen ist er mit dem verhängnisvollen Fortschreiten der Demenz auch immer weniger in der Lage zu begreifen, welch schweres Schicksal ihm zuteil wurde. Ohne Aussicht auf eine Umkehr verarmt und verkümmert das reiche Kapital, das eine Persönlichkeit in all ihren Facetten ausmacht. Der einst womöglich intellektuell brillante, tatkräftige und erfolgreiche Mensch entwickelt sich quasi zurück zum hilflosen Säugling, der am Ende rundum gepflegt werden muss.

Demenzpatienten verlieren unwiderruflich die Welt, ehe sie ihr selbst verloren gehen. Diesen schrittweisen Abschied menschenwürdig zu begleiten, ist eine hochrangige Aufgabe einer humanen Zivilgesellschaft – wie überhaupt der Umgang mit den Schwächsten ihrer Mitglieder, den Kindern, Alten, Kranken und Leidenden.

Merksatz

Die Zunahme demenzieller Störungen während der letzten Jahrzehnte ist unverkennbar. Bis zum Jahr 2050 wird sich deren Anzahl voraussichtlich nochmals verdoppeln, was enorme gesundheitspolitische Anstrengungen und einschneidende gesellschaftliche Anpassungen erforderlich machen wird. In Europa werden dann ca. 15 Millionen Demenzkranke leben.

Literatur

Füsgen, I. (2001): Demenz. 4. Aufl. Urban & Vogel, München

Kastner, U., Löbach, R. (2007): Handbuch Demenz. Urban & Fischer, München

Mahlberg, R., Gutzmann, H. (2009): Demenzerkrankungen. Deutscher Ärzte-

verlag, Berlin

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1.

Krankheitszeichen

Je nach Ursachen und Entstehungsbedingungen gibt es unterschied-liche Arten, Formen und Verläufe von Demenzerkrankungen. Sie werden bisweilen als Depressionen verkannt, weil zu Beginn gleichermaßen Vergesslichkeit, Antriebsmangel und Niedergeschlagenheit auftreten können, ehe die typischen mentalen Defizite – Vergesslichkeit, Orientierungsstörungen und Verwirrtheit – immer mehr in den Vordergrund rücken und die geistige Leistungsfähigkeit schrittweise einschränken.

Fallbeispiele

Herr A., 55 Jahre: An der festen Hand seiner energischen Frau, gewissermaßen in deren Schlepptau, kommt Herr A., ein 55-jähriger, körperlich fit und rüstig wirkender Mann, in die Sprechstunde. Er setzt sich erst nach mehrmaliger Aufforderung, wobei seine Frau ihm umsichtig den Stuhl zurechtrückt und ihn sanft zum Niedersitzen nötigt. Auf die Frage nach seinem Beschwerden äußert er, ohne dabei innerlich sonderlich beteiligt zu wirken, lediglich: „Gut“. Auch bei Nachhaken wiederholt er „Ja, so ganz gut …“, wobei er fragend den Blick auf seine Frau richtet, dann unvermittelt hinzufügt: „Ich habe doch meiner Frau geholfen, wir sind doch nicht zu spät? Meistens bin ich ja zu Hause, da ist immer was zu tun … erst heute morgen …“ Wo er sich befindet, kann Herr A. nicht präzise angeben; er sieht sich ratlos im Raum um und antwortet auf Befragung nach einer Weile: „ Im Büro, ja … “. Auch das genaue Datum kann er nicht nennen, zum Fenster zeigend fragt er: „Winter, vielleicht, oder …?“

Von Frau A. erfahre ich, dass ihr Mann, vorzeitig pensionierter Richter, enorm vergesslich geworden sei. Seit ein paar Monaten sei er 14manchmal auch nicht mehr richtig orientiert, verlaufe sich draußen, finde nicht mehr nach Hause zurück, so dass sie ihn bei Spaziergängen jetzt stets begleiten müsse. In der Wohnung komme er hingegen ganz gut zurecht, helfe auch im Haushalt mit, decke korrekt den Tisch, stelle das Geschirr oder Haushaltsgeräte aber manchmal an den falschen Platz zurück, wenn er die Spülmaschine ausräume.

Vor ungefähr einem Jahr sei ihr erstmals richtig aufgefallen, dass ihr Mann mehrfach nach seinem Schlüsselbund, seiner Geldbörse oder der Brieftasche gesucht, dass er überhaupt häufiger Sachen verlegt habe. Im Dienst habe er sogar bisweilen wichtige Akten falsch einsortiert, Schriftsätze vertauscht oder Fristen überschritten, so dass es Probleme bei Gericht gegeben habe und der Amtsarzt eingeschaltet worden sei. Dieser habe ihn nach gründlichen Untersuchungen und unter Einbeziehung eines neurologischen Gutachtens für dienstunfähig erklärt, und seit knapp einem dreiviertel Jahr sei ihr Mann vorzeitig pensioniert.

Sie habe sich sein Verhalten zunächst überhaupt nicht erklären können, weil er immer ein lebhafter, interessierter und wissbegieriger, vor allem ein „bestens sortierter“ Mensch gewesen sei, der viel gelesen und sich stets beruflich fortgebildet habe. Er sei Richter aus Leidenschaft gewesen, erst lange Jahre beim Familiengericht, zuletzt als Jugendrichter. Sie seien gemeinsam sehr aktiv gewesen, seien wandern oder skifahren gegangen und hätten Radtouren unternommen, auch größere Reisen, nachdem die beiden Kinder aus dem Haus waren. Ihm sei viel an seiner Gesundheit gelegen gewesen, er habe nicht geraucht, nur wenig Alkohol getrunken, Sport getrieben, im Schachclub gespielt, Kontakte gepflegt. Sie kenne ihren Mann jetzt seit fast 30 Jahren, außer ein paar Bagatellen – Erkältungen, Prellungen oder Muskelzerrungen – habe er keine besonderen Krankheiten gehabt; im Krankenhaus sei er zuletzt vor ungefähr zehn Jahren wegen einer Leistenbruchoperation ein paar Tage gewesen. Zum Hausarzt sei er selten gegangen, mal zu einem routinemäßigen Bluttest, mal im Herbst wegen der Grippeschutzimpfung.

Anfangs sei ihr auch aufgefallen, dass er nervös, ängstlich und unsicher geworden sei, was sie früher nie an ihm bemerkt habe. Er habe viel gefragt, sich oft nicht entscheiden können, stundenlang über Papieren und Schriftstücken gebrütet, die er vom Gericht mit nach Hause genommen habe, Besuche gescheut und Bekannte gemieden. Inzwischen sei er wohl zufriedener und friedlicher geworden, vor allem seit dem Beginn seines Ruhestands. Wenn er in der Zeitung blättere oder fernsehe, wisse sie nicht, wieviel er tatsächlich davon verstehe oder behalte, 15manchmal antworte er „total daneben“, manchmal gebe er wie gewohnt passende, sogar witzige Kommentare ab.

 

Der Hausarzt habe ihn voriges Jahr zur Abklärung und Mitbehandlung zum Neurologen überwiesen, der ihn untersucht und eine Röntgenuntersuchung des Kopfes veranlasst habe. Schließlich sei eine Demenz vermutet worden, für die jedoch keine Ursache gefunden wurde; möglicherweise handele es sich um Vorboten einer Alzheimer-Krankheit. Sich – wie empfohlen – in eine Klinik zu begeben, habe ihr Mann jedoch kategorisch abgelehnt und daher Medikamente verschrieben bekommen, die er aber nicht vertragen habe. Er sei unruhig und reizbar geworden, auch in den Bewegungen und beim Gehen unbeholfener, und habe nicht mehr so gut geschlafen. So hätten sie sich entschlossen, sich noch einmal anderweitig beraten zu lassen und sich nach anderen Behandlungsmöglichkeiten zu erkundigen.

Ansonsten waren keine besonderen Erkrankungen festgestellt worden, Fette und Zucker im Blut waren in Ordnung, Blutbild und Leberwerte ebenfalls, Blutdruck und EKG normal. Der Radiologe hatte das Ehepaar allerdings auf deutliche Veränderungen des Gehirns hingewiesen, einen Schwund von Hirngewebe sowie eine Vergrößerung der Hirnkammern und des Spaltes zwischen Schädelknochen und Gehirnmasse. Die Bilder hatte das Ehepaar A. mitgebracht.

Herr A. blickt derweil mit gerunzelter Stirn ratlos im Raum umher, greift ein paar Mal nach Papierbögen, die vor ihm auf dem Tisch liegen, zupft an einer Grünpflanze neben seinem Stuhl, nestelt an seiner Krawatte. Manchmal erhebt er sich, wird jedoch von seiner Frau, die neben ihm sitzt, behutsam daran gehindert, aufzustehen. Dem Gespräch scheint er nicht zu folgen. Ein einfacher Gedächtnistest lässt deutliche Defizite im Auffassen und Begreifen, auch bezüglich der Merkfähigkeit und des Reproduzierens erkennen; die meisten Ergebnisse sind nicht verwertbar. Der eigene Name wird – kaum entzifferbar – mit ein paar krakeligen Druckbuchstaben niedergeschrieben.

An der bereits gestellten Diagnose einer Demenz besteht leider keinerlei Zweifel. Nach dem Röntgenbefund – die Hirnrinde ist deutlich verschmälert, die seitlichen Hirnkammern sind vergrößert – handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine solche vom Alzheimer-Typ bei verhältnismäßig frühem Beginn und vermutlich zu befürchtendem, rascheren Verlauf.

Die hieraus üblicherweise zu erwartenden, weiteren Konsequenzen werden mit der Ehefrau erörtert und zusammengefasst folgende Maßnahmen besprochen:

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Neben einer Medikation mit einem sog. Antidementivum, einem Mittel zur Verbesserung des Hirnstoffwechsels, von dem noch weiter unten die Rede sein wird, sollten regelmäßig, soweit möglich, einfachere geistige Beschäftigungen und körperliche Aktivitäten in den Tagesablauf einbezogen werden. Eine Unterstützung durch eine ambulante, häusliche Pflege sollte zeitig in die Wege geleitet werden, eingeschlossen die Klärung finanzieller Hilfen aus der Pflegeversicherung und der Beihilfestelle. Nahegelegt wurde auch eine Kontaktaufnahme zur örtlichen Alzheimer-Selbsthilfegruppe, die einige Jahre zuvor ins Leben gerufen worden war.

In der Folgezeit erschien das Ehepaar A. anfangs 14-tägig, dann monatlich in der Sprechstunde. Der Zustand Herrn A.s hatte sich über ein halbes Jahr offensichtlich nicht wesentlich verändert, zumindest nicht spürbar verschlechtert. Er war gut lenkbar und wirkte zufrieden, was den häuslichen Umgang mit ihm, laut Angaben seiner Frau, sehr erleichterte. Eine AWO-Pflegehilfe kam zwei Mal wöchentlich ins Haus, um Frau A., die Mitglied einer Angehörigengruppe geworden war, die Erledigung persönlicher Angelegenheiten bzw. längere Einkäufe oder Besuche zu ermöglichen. Sie hatte mit Einverständnis ihres Mannes die Regelung der familiären behördlichen und finanziellen Angelegenheiten übernommen.

Frau B., 83 Jahre: Im Fall von Frau B. war der Verlauf weniger glücklich: Weil sie im Altenheim nicht mehr ausreichend betreut und versorgt werden konnte, wird die 83-Jährige per Krankenwagen zur Aufnahme ins Nervenkrankenhaus gebracht. Frau B. hatte während der letzten Wochen zunehmend Verhaltensauffälligkeiten gezeigt; so hatte sie unvermittelt Mitbewohner beschimpft und sogar tätlich angegriffen. Nach Angaben des Heimes musste mehrfach das Pflegepersonal einschreiten, um die laut schreiende, erregte Frau zu beruhigen, was immer weniger gelang, zumal sie auch den Pflegerinnen gegenüber handgreiflich geworden sei. Mehrfach habe der betreuende Hausarzt herbeigerufen werden müssen, um ihr eine Beruhigungsspritze zu geben, woraufhin Frau B. allerdings den ganzen Tag nicht mehr ansprechbar im Bett gelegen habe.

Schon seit Monaten sei aufgefallen, dass Frau B. zeitweilig durcheinander gewesen sei, die Türen verwechselt habe, Teller mit Essensresten in ihren Kleiderschrank gestellt und altbekannte Mitbewohner für fremde Eindringlinge gehalten habe. Draußen hätte sie sich zuletzt ein paar Mal verlaufen, so dass sie ohne Begleitung nur noch in den umzäunten 17Garten des Heimes habe gehen dürfen. Sonst immer sehr auf ihr Äußeres bedacht, habe sie ihre Frisur und Kleidung vernachlässigt, beim Essen nicht mehr richtig gekaut und sich dadurch mehrfach verschluckt.

Nach einigem Überreden gelingt es, die ziemlich aufgebrachte, laut schimpfende Frau B. auf die Station zu geleiten. In dem ihr zugewiesenen Zimmer ist sie nicht zu halten, sondern läuft unruhig und sichtlich verstört im Flur auf und ab. Bisweilen spricht sie mit imaginären Personen oder schlägt nach ihnen, als wolle sie sich zur Wehr setzen. Die begleitende Stationsleiterin aus dem Heim berichtet auch von ängstlichen Reaktionen in ganz normalen, alltäglichen Situationen, sodass wiederholt der Eindruck entstanden sei, Frau B. fühle sich grundlos belästigt oder bedroht.

Ein geordnetes Gespräch ist mit ihr nicht möglich. Die Patientin ist sichtlich durcheinander; sie kann weder den richtigen Wochentag, nicht einmal Monat und Jahr korrekt benennen. Nach ihrem Namen gefragt, gibt sie lediglich ihren Vornamen an, an ihr Geburtsdatum und ihren Geburtsort kann sie sich nicht erinnern. Meistens antwortet sie auf Fragen mit „Lass’ mich in Ruhe“, oder „Geh weg“.

Frau B. befindet sich seit zweieinhalb Jahren im Heim und ist dort – abgesehen vom vergangenen Monat – durchgehend als verträgliche, angenehme und liebenswürdige Bewohnerin bekannt. Zu Hause war sie den Anforderungen des Alltags zuletzt wohl nicht mehr gewachsen gewesen, hatte ihre kleine Wohnung in einem Vierfamilienhaus verkommen lassen und sich selbst nicht mehr ausreichend versorgt. Die Nachbarn, die bisweilen für sie mit eingekauft hatten, waren über Tag außer Haus. Verwandte oder andere nahestehende Personen, die sich um sie hätten kümmern können, gab es in der näheren Umgebung nicht. Ihr Mann war bereits vor vielen Jahren verstorben, Kinder hatte sie nicht. Eine Betreuung durch einen häuslichen Pflege dienst hatte sie abgelehnt und sich stattdessen nach Einschaltung des städtischen Sozialdienstes durch den Hausarzt für den ohnehin schon länger geplanten Wechsel in das Heim entschieden. Sie bewohnt dort ein Einzelzimmer mit eigenem Bad, das sie mit ein paar persönlichen Gegenständen ausgestattet hatte.

Erst nach Verabreichung eines mittelstarken Beruhigungsmittels wird Frau B. etwas friedlicher und bleibt in einem Sessel des Krankenzimmers sitzen. Eine sinnvolle Unterhaltung ist aber weiterhin nicht möglich, allenfalls eine oberflächliche, kurzatmige Kontaktaufnahme. Ihre etwa zehn Jahre jüngere Mitpatientin ist glücklicherweise eine verständige

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Frau, die Frau B. hilft, sich im Zimmer zurechtzufinden und ihre Sachen zu ordnen.

Unter weiterer, regelmäßiger Verabreichung von Medikamenten gelingt es, eine allgemeine Beruhigung zu erzielen und aufrechtzuerhalten, ohne dass Frau B. müde oder gar körperlich hinfällig wird. So können auch weitere Untersuchungen durchgeführt werden, vor allem eine röntgenologische Computertomografie des Kopfes, die einen für eine Alzheimersche Krankheit typischen, schon deutlich ausgeprägten Hirnschwund zeigt. Weitere organische Auffälligkeiten finden sich nicht; abgesehen von ihrer hager-schmächtigen Statur präsentiert sich die Patientin im Gegenteil in einer für ihr Alter eher überdurchschnittlich rüstigen körperlichen Verfassung. Sie erhält wie der oben beschriebene Herr A. ein Mittel zur Verbesserung des Hirnstoffwechsels bzw. der Hirnleistung.

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