Frauen, Fetische, Filzläuse

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Frauen, Fetische, Filzläuse
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Thea Koss

Frauen, Fetische, Filzläuse

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Epilog

Impressum

Kapitel 1

Prolog

Vom ersten Stock dröhnt Ellénas Gelächter herüber. Es ist ein weiterer bezaubernder Morgen in ihrem Garten. Ich sitze mit meiner Kaffeetasse im Pavillon, schaue den Kolibris in den fetten, dunkelroten Blumen zu und scheuche den frechen Karibikspatz weg, der es auf meinen Obstsalat abgesehen hat. Der Morne Larcher erhebt sich sattgrün vor mir, der Nachbarsköter kläfft wie nicht ganz dicht. Ab und zu fährt unten an der Straße ein Auto vorbei. Direkt hinter der Kurve liegt das Meer. Wo denn mein ami sei, fragte Elléna mit einem Grinsen. Dass er noch schlafe, antwortete ich, ebenfalls grinsend. „Hat es euch gefallen in St. Joseph?“ Ja, nicke ich, oh ja. Es ist Januar, und das Koffein bringt den restlichen Alkohol vom Ti-Punsch zu einer letzten Blüte. Ich gehe meinen Stapel Postkarten an. „Liebe Liese“, schreibe ich, „es hat an die dreißig Grad, und das Leben ist zuckerrohrsüß.

Wer hätte das vor einem Jahr gedacht?“

**

Das Telefon klingelt und meine Freundin, Fräulein Liese, versucht mich zum abendlichen Treff auf einer Fete des Instituts zu animieren, wo wir uns jahrelang vordergründig die Herren Adorno und Bourdieu und den Simmel Georg zu Hirne führten, hintergründig aber nach den süßen Männerhintern Ausschau hielten und hinterhältig den feministischen Umsturz predigten. Herr K., der sich selbst als Fräulein Lieses „Bekannter“ ausgibt, würde ebenfalls durch Anwesenheit glänzen. Auch gelte es, unseren Prof zum fünfzigsten Geburtstag zu beehren und eine Hip-Hop-Runde zu drehen.

Es ist Mitte Januar, ich bin vom Leben schwer gebeutelt, weil der Über-alles-Geliebte, von der Midlife-Krise überrollt oder in beginnender alzheimerischer Verwirrung, sich eine acht Jahre jüngere Freundin zugelegt hat, dabei wollte ich eigentlich wenigstens die nächsten zwei Monate mit ihm verbringen. Er heißt Alfons, das ist ein ziemlich blöder Name, finde ich. Nicht unpassend. Alfons neue Freundin heißt Karin; weil Karin blond, blauäugig und laut eigenem Bekunden „Beamter“ ist, nenne ich Karin aber Beamtengretel. Das ist bösartig, das weiß ich wohl! Ich beteuere aber nur noch in Ausnahmesituationen, ein nettes, liebes Mädchen zu sein. Ich bin, um es gleich vorneweg zu gestehen, noch bösartiger, denn sie hat einen Nachnamen, den ich zu gerne leicht fonetisch zu einem aparten „Wix“ verfremde. Ich bin aber so fair, ihr im Gegenzug auch jederzeit eine Abänderung meines Namens in ein „Kotz!“ zuzugestehen.

Diese Nebenschauplatzerklärung kann ich leider niemandem ersparen, weil sowohl Alfons Über-alles-Geliebter als auch Karin Wix eine mich entnervende Randgruppe in diesem Firlefanz spielen.

Jedenfalls ist es Mitte Januar, die Straße sieht aus wie das Tiefkühlfach meines Kühlschrankes, Eis bis an die Kniekehlen, und ich bin desolat. Schließlich ist das keine Kleinigkeit, plötzlich allein dazuhocken, wenn eine gleich ums Eck zweiunddreißig wird. Nein, das ist überhaupt nicht lustig, und nicht nur, weil alle netten, hübschen Männer längst vergeben sind und der Rest an unglaublichen Neurosen leidet. Wie stehe ich jetzt da? Über dreißig, kein Typ, kein Haus, keine Kinder, keine Karriere. In die Kirche gehe ich auch nicht mehr. Gut, ich habe eine Küche, aber die ist meist in einem völlig verfickten Zustand. So sieht´s aus!

**

Dennoch tobt draußen das Leben, an diesem Abend im Januar also in unserem alten Institut, das wir mit Einser-Auszeichnung verlassen haben, Fräulein Liese, Herr K. und ich. Das war im frühen Sommer. Seither will kein Schwein mehr etwas von unseren überwältigenden intellektuellen Leistungen wissen. Noch so lange können wir von „Divergenz“ und „Diskrepanz“ faseln, es interessiert einfach niemanden. Wir verrichten stattdessen unterschiedlich erniedrigende Tätigkeiten. Herr K. verdingt sich in einer dieser gemeinnützigen Institutionen als eine Art intelligenter Laufbursche. Fräulein Liese arbeitet sich in einem Knebel-Werkvertrag für kein Geld auch durch jedes Wochenende. Und an meine Lebenserwerbstätigkeit mag ich gar nicht denken. Jetzt ist auch gar nicht die Zeit für so trübes Sinnieren. Jetzt geht es auf eine Fete, wo die Connections zum Traumjob lauern! Natürlich kann ich mich nicht sexy anziehen, weil mir die Feinstrumpfhose von Hudson sofort ans Bein gefrieren würde; außerdem hab ich sie sowieso gleich beim Anprobieren zerrissen und die hat zwölf Mark gekostet! Aber ich ziehe den Kolstift raus und die Wimperntusche, ich red mir ein, heute ausnahmsweise begrenzt hübsch zu sein, und sei’s nur für Profs Geburtstag. Oder irgendeinen netten Männerpopo, könnte ja sein ...

Ich treffe Herrn K. nach allen Reden und Lobgesängen neben der Garderobe zur Bibliothek und er gibt mir ein Bier aus. Wir betrachten das Volk und ich frage ihn: „Wie findste den da drüben?“

„Ach, Therese, der ist doch viel zu jung!“, sagt er.

Herr K. tut sich zurzeit als mein Lebensberater hervor, damit ich nicht wieder auf irgendeinen Idioten hereinfalle. Also muss ich ihm wohl Glauben schenken. Trotzdem werfe ich dem jungen Mann aus reinem Erkenntnisinteresse eines meiner charmanten Lächeln zu. Der junge Mann lächelt zurück. Herr K., beschließe ich, hat doch keine Ahnung! Leider werde ich gleich darauf in eine wissenschaftliche Diskussion verwickelt. Mein Beitrag besteht in einem klugen Nicken und mehreren „Mhm, mhm“, ab und zu lasse ich ein Wort wie „Divergenz“ fallen und gebe mich intellektuell. Leider verliere ich darüber den jungen Mann aus den Augen und irgendwie auch aus dem Sinn. Fräulein Liese gibt das nächste Bier aus und ich das Dritte. Auf dem Weg zum Klo liefere ich fünf Smalltalks über meine nicht stattfindende Karriere und beiße von einer Brezel ab.

Dann wird’s Zeit für körperliche Ertüchtigung. Mit einigen Wiegeschritten teste ich meinen Gleichgewichtssinn, dann drehe ich jugendlich eine langsame Pirouette, lege kleine Hopser ein und schlenkere die Ärmchen. Nach einer halben Stunde bin ich schon ganz flott zugange, kreise die Schultern und schwinge kess den Hüftspeck. Herr K. taucht auf, fegt wie ein kleiner Derwisch übers Linoleum und lacht mich aus. Beleidigt hole ich mir ein Bier und steige erst zu einem langsamen Walzer wieder ins Geschehen. Herr K. ist verschwunden, Fräulein Liese ist nicht zu sehen, also werde ich wieder waghalsiger und beinah extasisch, oder ex-statisch, weil ich den rapiden Mineralverlust durch die Zuführung von noch mehr Hopfen ausgleichen muss. Ein Sirtaki wird in spontaner Formation getanzt, die Choreografie ist avantgardistisch anarchisch, ja, so torkelt der Deutsche griechisch! Ich bekomme eins vors Schienbein gedonnert und geb den Schlag an meinen Nebenmann weiter, der dafür aus Versehen an den Haaren seiner Nachbarin rupft. Die gerät aus dem vermuteten Takt und tritt einem Altlinken auf den Fuß. Weiter kann ich das Geschehen nicht nachvollziehen, aber es ist auf jeden Fall wunderbar und wir amüsieren uns alle großartig. Dann besinnt sich der Musicman auf seine tieferen Emotionen (tatsächlich las ich heute statt „Zartgeflügel“ „Zartgefühl“, ich kann solche Anfälle also durchaus nachvollziehen) und drängelt die Formation in den paarigen Stehblues. Da steh ich nun, von Herrn K., Fräulein Liese und dem Über-alles-Geliebten verlassen, schlagartig packt mich die große Einsamkeit im schweißnassen Genick. Dem darf keinesfalls nachgegeben werden! Ich seh mich kurz um und da steht einer, der sang vorher doch auf der Bühne und vermittelte mir einen hundertprozentig homosexuellen Eindruck. Den schnappe ich mir, schlinge meine Ärmchen um ihn und lege mein rosiges Apfelbäckchen an seines. Er ist gut rasiert und riecht sehr angenehm und ich klappe die Äuglein zu, wie es sich für einen Kuschelrock 362 gehört. Postwendend versinken wir in eine Innigkeit und streicheln unsere Schulterblätter. Carpe diem, aber volle Lotte! Meine weibliche Intuition flüstert mir, dass hier zwei Loser aufeinander getroffen sind und in etwas Tröstliches gleiten. Der Musicman, der in seinem jugendlichen Leichtsinn nichts ahnt, findet nach diesem Song, wir hätten nun genug Intimitäten ausgetauscht und sollten das Standbein lockern. Ich küsse meinen sanften Tänzer flüchtig aufs Glattrasierte und wir streben wortlos diagonal auseinander, mitgenommen vom Erlebnis.

Aus der Ferne, im Blick zurück, vermittelt er einen hundertprozentig heterosexuellen Eindruck. Diese Diskrepanz der Impressionen gilt es beim Bier zu überdenken. Ich zermartere mein Kleinhirn, wie einer innerhalb von fünf Minuten seine sexuelle Orientierung über den Haufen schmeißen kann und komme einfach nicht drauf. Also zirkle ich in konzentrischen Kreisen um das Subjekt meiner Verwirrung und stürze mich nach einer Viertelstunde, c.t., wie sich’s für eine Akademikerin gehört, unter Zusammenraffung meines Restmutes auf ihn. Gegen den Forscherinnendrang soll eine nicht ankämpfen, und wie sollen wir wachsen, wenn wir uns nicht um das Wesen der Dinge bemühen? Die Lösung ist so simpel wie das Ei des Kolumbus oder so, oder, um nicht gleich ins assoziierend Zotige abzurutschen, doch besser wie der gordische Knoten, aus eins mach zwei, er hat nämlich gar nicht da oben gesungen, meint er. Eine Verwechslung!

 

„Lechts und rinks, das kann ich nicht verwexlern!“, gebe ich recht geistreich von mir. Da wir nun schon ins Gesprächige gefunden haben, setzen wir uns wie zwei alte Rentner ab vom lauten Treiben auf die Treppe zur Bibliothek, um dem ruhigen Dasein zu huldigen. Er gewinnt meine sofortige Sympathie, als er sich um weitere Biere für uns bemüht. Dieser Mann weiß um die Prioritäten im Leben! Im Gegensatz zu der dieses Happening veranstaltenden Fachschaft, die nicht mit Herrn K., Fräulein Liese und mir gerechnet hat und nunmehr bierlos zum Vierteleschlotzen entmutigen will. Mit allen Wassern und Ortskenntnis gewaschen, stürze ich zum Getränkeautomat und ein Heer Biersüchtiger zieht im Pulk hinter mir her!

Nachdem die Grundversorgung nun gewährleistet ist, können wir uns hemmungslos kennen lernen. Der verwechselte Mann gibt sich als ein gewisser „Jack“ aus und nennt mich flexibel mal Bea, mal Pia, mal Frieda oder Charlotte. Ich schließe aus diesem Habitus in menschenfreundlicher Manier auf Fantasie, Spontaneität und spielerischen Umgang mit der Realität. Weil Jack sogar noch älter ist als ich, können wir uns die üblichen Ouvertüren sparen. Wir analysieren unseren Stehblues als Regression ins Pubertäre und das Pubertäre als Bestandteil unserer gegenwärtigen Befindlichkeit. Dann wird’s schon Zeit, über den Über-alles-Geliebten und seinen schmählichen Abfall von mir zu berichten; im gegenseitigen Vertrauen berichtet Jack von seinem jähen, ungewünschten Singledasein. Nach so viel Ernsthaftigkeit verfallen wir in ein Kichern und Giggeln, wieso, weiß kein Mensch mehr, ich zumindest nicht. Dazwischen halten wir ein bisschen Händchen und bestärken uns im Wissen, dass so viel Rauchen aber auch gar nicht gut sei; dass es aber andererseits irgendwie doch auch wieder egal sei; dass wir Durst haben und jetzt dringend etwas trinken sollten. Der Pulk hat aber tatsächlich alle Flaschen aus‘m Automat gezogen, diese Trunkenbolde! So ersteht Jack eine Flasche Sekt, Marke Kennichnich. Das blubbert wie süßer Sprudel und ich versichere glaubhaft, dass ich mich davon übergeben müsse, wenn ich die schwesterliche Hälfte zu mir nehmen solle. Damit stellt sich die Sinnfrage, und es ist Jack, der sie stellt: „Also gehen wir jetzt zu dir oder zu mir?“

„Zu mir“, sag ich, weil ich nämlich noch Bier zu Hause hab und Jack in einer WG in der Humboldtstraße wohnt, und eine meiner Psychosen besteht darin, morgens an einem Küchentisch von mir wildfremden Menschen missbilligend begutachtet zu werden wie ein altbackenes Sesambrötchen.

Draußen dämmert’s schon am Horizont, zumindest bilde ich mir das ein. Es geht auf vier Uhr zu oder halb fünf, Jack singt Lieder und schwingt die Sektflasche, ab und zu legen wir eine Pause ein und nehmen einen Schluck. Im Treppenflur ermahne ich ihn zur Ruhe und er hält folgsam die Klappe. Er kichert nur über all diese Treppen und Treppen, auf die ich ihn panisch ziehe, weil der Nachbar wohl zur Frühschicht grade im Aufzug herunterfährt. Meine Wohnung sieht natürlich aus wie eine Müllhalde. Das ist nicht immer so, aber ab und zu, und natürlich jedes Mal, wenn mich jemand unvermutet zum ersten Mal besucht. Jack verliert darüber kein Wort. Das unterscheidet ihn wohltuend vom Über-alles-Geliebten, der im stundenlangen Sermon seine Pingeligkeit zelebriert. Es gibt Bier und Geplänkel. Jack sagt: „Du bist so ein süßes Teil!“ Ich hab Lust, das zu glauben. Ab und zu küssen wir keusch unsere Bäckchen und werden immer müder. Es ist fast sechs Uhr und Jack meint: „Wir gehen jetzt da rüber in dein Schlafzimmer und tun nix als schlafen!“

„Jawoll!“, sag ich.

Er zieht sich aus und ich konstatiere trotz Trunkenheit, dass da was sehr Hübsches, Muskulöses, Gutaussehendes zum Vorschein kommt. Ich muss noch aufs Klo und schmeiße meine Jeans und Socken hin, und im Schlafzimmer den Rest. Jack sieht mir zu und lächelt und ich hoffe in weiblicher Blödigkeit, dass er was Ähnliches über mich denkt. Dann schlüpfe ich zu ihm unter die Decke und stelle den Wecker, weil Jack morgens irgendeinen Zug kriegen muss und wir machen das Licht aus und Jack küsst mich und sagt: „Träum süß!“ Er dreht mir den Rücken zu und legt eine Hand auf meine Hüfte und ich halte seinen Zipfel, weil ich es gewohnt war, so zu schlafen. Jack murmelt: „Ich bin wirklich zu müde. Wir haben noch so viel Zeit!“ Mir dämmert, dass das nicht der Über-Alles-Geliebte ist und von meinen Gepflogenheiten ja nichts weiß, aber ich bin zu müde für Erklärungen und sag nur: „Weiß ich doch!“ und dann entschlummern wir auf der Stelle.

Den Wecker überhören wir natürlich, ich wach um neun auf und stupse ihn an: „He, Jack!“

Ich finde, damit hab ich genug geredet.

„Mhm“, sagt Jack. Und beginnt mich zu streicheln. Das fühlt sich ziemlich gut an, aber es ist so früh und ich bin so todmüde und sag: „Ich bin wirklich zu müde. Wir haben noch so viel Zeit!“

Jack sieht auf den Wecker und erschrickt: „Was, schon neun?“ Und lacht: „Der Zug ist weg!“

Ich küsse ihn auf den Bauch und blinzle und sehe eine Tätowierung, mir fallen die Augen wieder zu und ich frag: „Was is’n das auf deinen Rippen?“ Er antwortet irgendwas, was ich sofort vergesse, weil ich vermutlich wieder einschlafe. Er steht auf und zieht sich an, da schau ich doch nochmal und denke: Meine Fresse, der sieht aber gut aus!

„Sehen wir uns wieder?“, frag ich.

„Glaub schon“, meint Jack. Ich rufe ihm meine Telefonnummer nach, aber weder bin ich sicher, ob ich sie in diesem Zustand richtig aufsage, noch glaube ich, dass Jack sie sich in seinem Zustand wird merken können.

**

Abends treffe ich den Über-alles-Geliebten und wir gehen zum Inder. Diese Verabredungen tun mir überhaupt nicht gut, trotzdem bin ich die glücklichste Idiotin der Republik, wenn er mich anruft. Es ist, wie es immer ist, seit er mit der blöden Kuh zusammen ist. Er schlägt das Menü vor, lächelt mich an und mein Höschen wird feucht. Und dann entblödet er sich schon wieder nicht, mir von Karin Wix vorzuschwärmen. Eigentlich sollte ich ihm die Dals und Tandooris über diesen beknackten Skilehrerpulli schütten, in den er sich neuerdings dresst. Ich habe aber keine Lust, mich aufzuregen und lasse ihn halt daherschwätzen von ihrem deutsch blauenden Auge und ihrer neuen Frisur. Aus purer Höflichkeit tue ich so, als nähme ich am Gefasel Anteil und frage: „Ist das eine Dauerwelle?“

„Nee“, schwärmt der Über-alles-Geliebte, „das ist echt!“

„Ach Gott, die Arme“, murmle ich, „so blöde Naturlocken kriegt man ja kaum mehr raus!“

Darauf verfällt er in ein Murren und Grummeln und ich beschließe, nicht mehr zuzuhören. Ich grüble stattdessen über eine Tätowierung, die ich nur anblinzelte. Irgendein Viech, beschließe ich, es war irgendein komisches Tier. Oder vielleicht eine Nixe? Auf jeden Fall nichts Christliches. Das hätte ich gemerkt. Gegen alles Christliche bin ich seit meiner erzkatholischen Jugend allergisch. So groß kann mein Rausch gar nicht sein, dass ich ein Kruzifix unterm Bauchnabel nicht registrieren würde. Nein, es war irgendein Federvieh, glaube ich.

Der Über-alles-Geliebte reißt mich unwirsch aus meinen Gedanken: „Was ist denn heute Abend los mit dir? Du hörst mir ja gar nicht zu!“

Nur aus alter Gewohnheit, weil ich Alfons immer fast alles erzählte, erzähle ich auch von Jack. Das ist ein Fehler, denn mit feuriger Begeisterung will er mich verliebt und geliebt sehen und schimpft mich, weil ich den geschlechtlichen Teil nicht vollzog, bemängelt meine Morgenmuffligkeit. Ich bedaure meine Offenheit auf der Stelle, weil der Über-alles-Geliebte einen Dreck daherredet und hofft, meiner immerwährenden Liebe zu entkommen. Das hätte er wohl gerne, dass er seine Ruhe hat. Aber so ist das nicht. So ist das überhaupt nicht. Nach dem Essen ist es - oh Gott - schon neun und er muss sofort zurück zur Beamtengretel, die vor Eifersucht tausend Tode stirbt. Wie rücksichtsvoll von ihm. Ich kann mich bissiger Kommentare nicht enthalten, auch ein Nöhlen kann ich ihm nicht ersparen und frage, wann er denn zum Pantoffelhelden mutiert sei. Das findet Alfons unverschämt und wir beginnen zu streiten und ich sag: „Ich zumindest hab dir nie vorgeschrieben, wie lange du ausgehen darfst! Findest du das nicht reichlich albern, mit 35 um neun zu Hause sein zu müssen?“ Und dann lache ich ihn aus. Grad zum Trotz sag ich zum Abschied: „Ich liebe dich trotzdem, auch, wenn du jeden Tag dümmer wirst!“ Und dass er mich doch nur noch besuchen soll, wenn er etwas anderes als Kindergartentermine zu bieten hätte. Sofern er sich das bei Karin Wix durchzusetzen traue.

**

Daheim beginne ich natürlich gleich zu heulen, weil ich ihm nicht das Essen über diese neuartige Popperfrisur gekippt habe, mit der er wie ein Pudel aussieht. Göttin, wie grausam diese jungen Mädchen vom Land einen bis dato recht stilsicheren und attraktiven Mann in einen angegrauten, krähenfüßigen Ich-tu-so-als-sei-ich-23-Bubi verwandeln. Die rapide Veränderung verfolge ich mit Erstaunen. Noch keine zwei Monate hat die Beamtengretel ihn in ihrem Würgegriff, und ich erkenne meinen schönen Geliebten nicht wieder: keine langen Locken mehr, keine coolen Klamotten. Stattdessen hegt er nun ein Interesse für das deutsche Beamtentum, Fachbereich Stadtkasse. Seine durchgestylte Wohnung hat sie gleich am zweiten Tag mit dem abartigsten Gerümpel aufgepeppt. Ich weiß es, weil ich nach dem jähen Liebesabfall in seine Wohnung kam. Und da lag eine Grausen erregende geblümte Steppdecke von Karin Wix auf seinem Bett. Er war auf der Stelle bereit zuzugeben, dass das eine Ausgeburt von Geschmacklosigkeit sei. Er berichtete mir gar aus freien Stücken von weiteren Wixschen Wirrungen wie etwa einem Eichen-Kleiderschrank mit Bronzespiegel. Drei Wochen später machte er mir ein eindeutiges Angebot, in seiner Wohnung zu nächtigen. Ich lehnte dieses Ansinnen ab mit der Begründung, dass ich als ersten Akt dieses Scheusal von Decke auf dem Balkon abfackeln müsse, was eventuell selbst einem Beamten auffallen würde. Da lachte er auch noch. Fünf Wochen später fand er diese Decke „gar nicht so hässlich“! Inzwischen würde er sie wahrscheinlich mit Dolch und Degen verteidigen! Aus guten Gründen betrete ich diese Wohnung seither nicht mehr, denn es nimmt mich zu sehr mit, das Abdriften meines Liebsten ins Lächerliche zu bezeugen.

**

Der nächste Morgen ist ein Samstagmorgen und ich kehrwoche mein schwäbisches Treppenhaus, sprenkle den Kellerflur und lese die Kaugummipapiere dieser widerlichen Nachbarsgören zusammen. Dabei summe ich fragend zum Herrgott, wann er mir denn nun den Mercedes Benz und das Pay-TV zu kaufen gedenke. Er schweigt beleidigt vor sich hin, weil ich ihn anlüge und frech behaupte, dass my friends alle Porsche fahren. Aber das ist doch nicht meine Schuld, dass Fräulein Liese mit einem Wartburg-Verschnitt alle Tempo-30-Zonen missachtet und Herr K. über sein altes Moped nicht hinauskommt! Ich versuche, es wieder gutzumachen, indem ich meine Freundschaft zu Frau Schmid heranziehe, die zwar auch nur einen altersschwachen Polo fährt, aber ihre Fahrten zu den Alten und Schwachen dieser Gesellschaft unternimmt, die sie hingebungsvoll mit Brei vollstopft. Zwar gibt es mir schon seit langem zu denken, dass sie ihr nach einiger Zeit alle unter den pflegenden Händen wegsterben, aber, müpfe ich zum Heiland auf, das ist ja deine Schuld! Nein, auf Frau Schmid lasse ich nichts kommen! Wie diese Frau alleine ihre drei Kinder erzieht und dazu jeden Tag ein Rudel seniler, bösartiger oder sexsüchtiger Senioren erträgt, nötigt mir alle Achtung ab. Seit einer Ewigkeit sind wir Nachbarinnen und Freundinnen.

Weil ich es nicht nötig habe, jemanden stundenlang anzusummen, der nicht mit mir reden will, studiere ich die drei Werbeprospekte, die sich in meinem Briefkasten eingefunden haben. Das Handelshof-Horoskop prophezeit mir aufregende Ereignisse in der Liebe und mahnt zur Vorsicht in Gelddingen. Für eine Kaufhauswerbung finde ich solche Ermahnungen betriebswirtschaftlich bedenklich. Wäre ich die Astrologin, würde ich dem Widder empfehlen: Achten Sie mehr auf Ihre angekratzte Speiseröhre und kaufen Sie eine vierwöchige Vorratspackung Pfanni Kartoffelbrei zum Vorzugspreis von 2,29!

Oder: Jungfrau: Mit dem Sixpack Rexona Duftschweiß blühen Ihnen dufte Schäferstündchen!

 

Ich verstehe einfach nicht, warum ich keinen höchstdotierten Job habe! Weil ich ihn nicht habe, begebe ich mich in mein Büro, wie ich diesen Verschlag euphemistisch nenne. Ich transkribiere Interviews für wahnsinnig interessante Forschungsprojekte der Regierung. Früher teilte ich ein hübsches Zimmer mit meinem Lieblingschef, der mich zu Weihnachten mit Plätzchen bedachte, mir Kaffee kochte und seine Interpretationen mit mir diskutierte. Über den Zweitchef Schrunz machten wir uns gemeinsam lustig. Der residierte schon damals in einem anderen Gebäude und ich bemühte mich, ihn völlig zu ignorieren. Dann verliebte mein Lieblingschef sich ins Ausland und zog hinfort. Und Schröber zog ein und verbannte mich als erste Amtshandlung ins Kabuff nebenan. Seither sitze ich jeden Tag vier Stunden am Katzentischchen und verschriftliche Schrunzens Verunsicherungen und Schröbers Überheblichkeiten. Im Moment erzählt grade eine Arbeitslose von ihrem Schicksal und fängt an zu heulen. Schrunz lacht dazu und sagt: „Hä, hä, das ist sicher nicht einfach für Sie!“ Ich stöpsle die Kopfhörer aus meinen zarten Ohrmuscheln. Für heute habe ich genug von diesem Vollidiot gehört! Ich spaziere ich nach Hause und lege mich in die Badewanne. Dabei resümiere ich im Geiste die Eckdaten, die eine mir einfach nicht mehr visuell vorstellbare Tätowierung umgrenzen: Jack. Kein Mensch in unseren Breitengraden heißt Jack. Seinen Nachnamen weiß ich auch nicht. Nur seine Straße und die Hausnummer hat er mir gesagt. Was weiß ich noch? Er ist ein diplomierter Bauer, der nun noch Philosophie und Kunstgeschichte studiert. Er sieht aus wie Hannes Strohkopf. Er ist weizenblond, er ist ein bisschen kleiner als ich, er ist sehr sexy. Drahtig, sehnig. Seine Haut schimmert goldig. Seine Augen liegen eng beieinander, so sieht er ein wenig aus wie ein Löwe. Er ist zu attraktiv, um schön zu sein. Er ist klug. Ich habe ein Faible für kluge Männer. Dumme Männer finde ich langweilig. Ich weiß nie, was ich mit dummen Männern reden soll. Jack lacht viel und gerne, und wenn er lacht, machen die Fältchen einen Wasserfall aus seinem Gesicht. Er hat eine Tätowierung, und ich weiß nicht, welche.

Ich glaub, ich hab mich verliebt!

**

Es ist Abend, es ist Wochenende, also muss ich jetzt ausgehen. Ich lenke meine Füßchen zur alten, seit der Abschaffung des Tuborg-Bieres vernachlässigten Stammkneipe hin, die sich zufällig in der Nähe der Humboldtstraße befindet. Da ich nun schon mal in der Gegend bin, marschiert es mit mir strikt vor die Hausnummer, die mir mein keuscher Mitschläfer ausplauderte. Es gibt keinen Jack auf dem Klingelschild, wohl aber einen auf dem Briefkasten und in detektivischer Kleinarbeit eruiere ich den passenden Klingelknopf. Nun bedarf es einer inneren Sammlung, ich konzentriere mich auf meinen Zeigefinger und spreche ihm Mut zu. Schließlich ist es nicht meine Art, Männer bis in ihr Schlafzimmer zu verfolgen. Schließlich sind wir in Deutschland und der deutsche Mensch mag keine Überraschungsbesuche. Aber ich weiß ja schließlich keinen Nachnamen und kann mich beim besten Willen nicht telefonisch abwimmeln lassen. Da drückt schon jemand auf den Türöffner und ich steige Treppen, ich weiß nicht, wohin. Über meinem Kopf brüllt endlich jemand: „Ja?“ Ja. Ich bin‘s, aber ich glaub, ich geh jetzt wieder. Nein, ich geh nicht! Jack sei in seinem Zimmer, murrt der junge Mann und lässt mich stehen. Ah ja! Immerhin hat er mir noch missmutig halbherzig die Richtung gewiesen und ich tappse unbeholfen durch einen Korridor und klopfe verzagt aufs Geratewohl an eine Tür. Es kommt keine Antwort. Ich stehe eine Weile blöd rum, dann klopfe ich noch einmal. Wieder Schweigen. Zaghaft packe ich den Türgriff. Was, wenn ich ihn, sagen wir mal, beim Onanieren erwische? Vielleicht hört er aber auch nur Musik über Kopfhörer. Vorsichtig luge ich durch den Türspalt. Aha. Das ist also das Klo. Vor lauter Aufregung bin ich schon dem Herzkasper nahe. Ich muss hart mit mir ringen, um die nächste Tür anzusteuern.

„Ja?“, tönt es von drinnen und ich erkenne seine Stimme wieder.

Ja, ich bin’s, aber ich glaub, ich geh jetzt wieder. Nein, ich geh nicht! Ein Handelshof-Horoskop darf nicht lügen! Ich öffne die Tür, er liegt hingegossen auf dem Bett mit einem Buch. Ja, das ist er! Genau, so sah der aus!

Er macht große Augen, diese Überraschung ist gelungen! Er macht so große und immer größere Augen, dass ich auf der Stelle ins Nichts katapultiert werden will! Ja, mein Herrgott, niemand meiner Bekannten fährt Porsche, aber ist das ein Grund, so nachtragend zu sein und mich in ein wildfremdes Zimmer vor einen beinah wildfremden Mann zu bugsieren? War das wirklich nötig?

Nach den ersten vierzig Schrecksekunden springt er auf, ringt sich ein Lächeln ab, küsst mich links und rechts und sagt: „Hallo, Friederike!“

„Hi, Jack!“, sag ich.

Dann muss er wirr fragen, woher ich seine Adresse kenne. Ich kann aber doch nichts dafür, dass er sie mir volltrunken kundtat. Ich halte ihm einen Vortrag, doch in Zukunft vorsichtiger zu sein, denn hier sehe mann ja, wo das wen hinführe, nämlich wildfremde Mädels vor’s eigene Bett; dass er schuld sei, sage ich, und außerdem vermute ich trotzig ein Jacksches Unbewusstes, das mich gegen jegliches „Es“ und „Über-Ich“ zu ihm leiten wollte. Jack sieht ein, dass ich bei solchem Sachverhalt wohl zurecht hier sei und gibt eine Freude vor. Ich freu mich vorsichtig auch und ziehe meine Schuhe und meinen Mantel aus. Wir sitzen auf dem Bett und freuen uns gemeinsam. Jack, der von auserwählter Höflichkeit ist, besinnt sich in diesem allgemeinen Freudentaumel auf seine Gastgeberpflichten und wir können eine Fassung erringen, während er Tee kocht.

„Ich muss gestehen“, sagt er, „dass ich deinen Namen vergessen habe!“

Ich bin überrascht, auf diese Weise zu erfahren, dass er ihn einmal wusste.

„Therese!“

„Tatsächlich?“, meint er. „Hübsch!“

„Ja, wahnsinnig!“

Dann will er wissen, ob mein Besuch einen besonderen Anlass hätte.

„Äh“, stammle ich in höchster Erklärungsnot, „ich saß in meiner Wohnung und dachte, wenn ich schon um die Ecke hocke, könnte ich ja mal vorbeischauen!“

Jack findet das logisch und ich füge hinzu: „Und außerdem kann ich mich einfach nicht an diese Tätowierung erinnern“, und dann ringe ich mich zum verbalen Stunt durch und frage gradraus: „Darf ich sie mal sehen?“

Überrumpelungsmanöver gehören mit zum Besten, das das Leben zu bieten hat und Jack zieht in reflexartiger Verblüffung folgsam sein T-Shirt hoch.

„Oh, ein Archäopteryx!“, rufe ich im höchsten Entzücken und: „Darf ich mal anfassen?“

„Was?“, stammelt Jack, aber da lege ich schon mein Händchen auf’s Gevogelte, als wär’s in Braille gemeißelt.

„Ist der schön“, sag ich, „und wie der sich streicheln lässt! So zutraulich! Man weiß ja viel zu wenig über Archäopterixe, nicht wahr?“

„Das ist ein Kronkranich, Therese“, korrigiert Jack vorsichtig, als hätte ich keine Augen im Kopf und würde einen Archäopteryx nicht erkennen, wenn ich ihn vor mir habe. Ich weiß nicht genau, warum dieser Mann solch potenzierten Unsinn daherredet. Wahrscheinlich ist er auch verunsichert. Ich lasse mir nichts anmerken und mich nicht beirren und frage nach der Entstehungsgeschichte.

„Neuseeland!“, sagt Jack so lässig, als drehte sich´s um den Tattoo-Schuppen in der Altstadt, und erzählt vom Meeresstrand: Nacht war’s, die Wellen plätscherten ans Gestade, hintergrunds brieten Aborigines ein Beuteltier, zwei Nacktnasenwombats bauten eifrig einen neuen Graben! Nein, halt!, fällt ihm ein, das war ja in Australien; also Austausch des malerischen Hintergrundes: Jetzt Meer mit Walen drin und Maoris und Schafe und sanft ansteigende Weinberge hintergrunds, und der Künstler war stoned. Ich wäre in Neuseeland wohl eher auf einen Kiwi verfallen, meine ich, und dass ein Archäopteryx wirklich innovativ sei.