Lehrbuch Heterogenität in der Schule

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soziale Felder

In differenzierten Gesellschaften gibt es innerhalb des gesamtgesellschaftlichen Raums zahlreiche Felder, wie z. B. die Schule als Bildungsorganisation, die über relative Freiheiten bzw. Autonomien verfügen und zugleich in relationaler Weise mit den anderen Feldern verbunden sowie in das gesellschaftliche Feld der Macht eingebunden sind (Bourdieu 1998). Das Schul- und Bildungssystem kann als ein solches Feld verstanden werden. Bourdieu (1993) vergleicht Felder mit Spielfeldern, in denen Spielende entlang je feldspezifischer Regeln um einen oder mehrere Gegenstände, Werte oder Güter sowie um deren Definitionsmacht kämpfen. Die Spielenden verfügen über unterschiedliche Ressourcen – Kapitalien – die sie im Spiel zum Einsatz bringen (können), um ihre jeweilige Position im Feld gegenüber den anderen Spieler / -innen zu erhalten bzw. zu verbessern.

Positionen im Feld

Bourdieu (1993) verbindet die Möglichkeit, sich an dem Spiel zu beteiligen mit dem jeweiligen Kapitalbesitz.

Soziales Feld als Spielfeld

Innerhalb der Spielmetapher bleibend, lassen sich die Kapitalsorten mit Jetons in einem Roulettespiel vergleichen: Für die Beteiligung am Spiel, das die Vermehrung von Kapital – und damit verbundene Annehmlichkeiten im Leben – verfolgt, ist das Ziel, möglichst viele und unterschiedliche Jetons zu erhalten (Bourdieu 1993, 110 ff). Je weniger Kapital ein Mensch im Vergleich zu anderen besitzt, umso weniger kann er an dem Spiel teilnehmen bzw. für ihn ist dann das Risiko des Spieleinsatzes erheblich höher als für jemanden, der über viele Kapitalien verfügt. Menschen, denen viel Kapital zur Verfügung steht, sind es beispielsweise gewohnt, auswählen zu können. So können sich reiche Menschen (also jene, die über viel Kapital verfügen) überlegen, was sie gerne essen oder wie sie sich gerne kleiden möchten. Der Preis stellt für sie kein Auswahlkriterium dar. Verfügen Menschen hingegen über wenig ökonomisches Kapital, so schränkt der Preis von Lebensmitteln und Kleidung auch deren Auswahl ein.

Kinder und Jugendliche, die in ein Milieu einsozialisiert werden, in dem allein der Geschmack und nicht der Preis entscheidend sind, lernen, quasi nebenbei und unter der Bedingung ihrer Lebenssituation, Entscheidungen zu treffen. Menschen, die nicht über vergleichbares Kapital verfügen, müssen z. B. jene Lebensmittel kaufen, die am preisgünstigsten sind, das Gleiche gilt für die Kleidung. Diese Menschen handeln aus der Notwendigkeit heraus. Neben den unterschiedlichen Stilen im Auftreten, die sich so herausbilden, ist das Milieu jener Personen, die über viel ökonomisches Kapital verfügen, von der Erfahrung geprägt, auswählen zu können, ohne durch das Kapitalvolumen (einer oder mehrerer Kapitalien) eingeschränkt zu werden. Diese Erfahrung wird – wie es häufig im offenen Unterricht zu beobachten ist – von der Schule bzw. den Lehrpersonen erwartet.

Charakteristisch für Felder sind mindestens zwei unterschiedliche und miteinander konkurrierende Positionen um die Herrschaft bzw. Definitionsmacht im Feld. Diese werden als „orthodox“ und „häretisch“ oder als „konservativ“ und „subversiv“ bezeichnet (Bourdieu 1993, 110 f). Gemeinsam ist den unterschiedlichen Positionen die Anerkennung des Spielgegenstandes, d. h. die Anerkennung der Wichtigkeit einer Sache, für die es sich zu kämpfen lohnt. Bourdieu nennt dies auch die „illusio“, also eine zentrale materielle oder soziale Bedeutung eines Feldes, die von allen anerkannt wird (Bourdieu 1998, 142).

Im Fall der Schule ist dies zunächst die Tatsache, dass Bildung, Erziehung und Lernen fundamentale Prozesse der Gesellschaft sind, die an die nächste Generation weitergegeben werden sollen. Wie dies in der Schule geschehen soll, welche Aspekte zu Bildung zu zählen sind, wie die pädagogische Organisation prinzipiell zu verstehen ist, kommt in unterschiedlichen Positionen des Feldes zum Ausdruck; dies kann im Feld der Erziehungswissenschaft und / oder dem der Bildungspolitik erfolgen wie auch in der Schule selbst. Die Differenz zwischen ihnen ist relational.

Felder haben eine Handlungsgeschichte; sie „lebt“ in den Strukturen und Objekten fort, die das Feld hervorgebracht hat und die Ausdruck von Auseinandersetzungen seiner Genese (Entstehung) sind. Diese Geschichte enthält die Bedeutungen vorangegangener Auseinandersetzungen (Bourdieu 1998, 56 f; 141 f).

Feld der Macht

Das gesamtgesellschaftliche Feld ist zugleich als ein Machtfeld konstituiert. Es unterscheidet sich von anderen Feldern dadurch, dass diese in ihm angesiedelt sind und es sich durch unterschiedliche Machtpositionen auszeichnet. Die symbolische Bedeutung und Macht von Kapitalsorten stellen den Gegenstand der Auseinandersetzungen dar. Der relative Wert sowie der Tauschwert von Kapitalsorten steht hier auf dem Spiel. Einfluss und Macht werden in diesem Feld durch das Verfügen über bürokratische Instanzen erlangt und ausgeweitet. Ein Beispiel hierfür ist die Häufigkeit der Vergabe von Bildungstiteln: Je seltener ein Bildungstitel vergeben wird, desto höher ist sein Wert. Wird der Bildungstitel häufiger vergeben, sinkt dieser Wert, da er nicht mehr in vergleichbarem Maße gesellschaftliche Privilegien absichert.

Das Hervorbringen und Bearbeiten sozialer Differenzen in der Schule ist ebenfalls eingebunden in Konkurrenz um Macht und Vorteile innerhalb der Gesellschaft. Für die in diesem Lehrbuch bearbeitete Thematik bedeutet dies, dass Unterscheidungen und Differenzen im Kontext hierarchischer Beziehungen konstruiert und mit Bewertungen verbunden werden (Diehm / Radtke 1999, 63).

2.3 Schule als Organisation

Milieu und Organisation: Sozialisations-, Bildungs- und Lernprozesse finden nicht allein in sozialen Milieus statt, sondern zu einem nicht unerheblichen Teil in gesellschaftlichen Organisationen wie der Schule. Die Definition von „Organisation“ erfolgt hier als Unterscheidung zum bereits bekannten Verständnis von „Milieu“. Organisationen und Milieus ist zunächst gemeinsam, dass sich in ihnen und durch sie überindividuelle Handlungsweisen entwickelt und herausgebildet haben. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Art und Weise, wie diese Regelmäßigkeiten moderiert sind bzw. zur Verfügung stehen und, damit im Zusammenhang stehend, wie die Teilhabe an ihnen funktioniert.

Modi der Teilhabe

Im vorangegangenen Abschnitt wurden Milieus als kollektive Formen der Lebenspraxis vorgestellt, denen konjunktive, homologe Erfahrungen ihrer Angehörigen zugrunde liegen. Die Angehörigen eines Milieus folgen impliziten Regeln, ohne dass ihnen diese reflexiv zugänglich sind oder sein müssen. Organisationen zeichnen sich hingegen durch explizite Regeln aus. Diese sind formal festgehalten und umfassen Verhaltenserwartungen sowie Rechte und Ressourcen, die an die Mitglieder – nicht als Einzelpersonen, sondern im Modus sozialer Rollen – formuliert werden. Mitglieder, die sich nicht an die formalen Regeln der Organisation halten, riskieren ihre Mitgliedschaft (Nohl 2007, 66 f).


In der Schule besteht eine formale Regel, wann der Unterricht beginnt. Zu dieser Zeit haben die Schüler / -innen anwesend zu sein. Missachten die Schüler / -innen diese Regel mehrfach, riskieren sie, über einen Weg von Verwarnungen und Mahnungen ihre Mitgliedschaft in der konkreten Schule. Aufgrund der Schulpflicht gilt dies zwar nicht für den Schulbesuch insgesamt, wohl aber in Bezug auf die konkrete Lerngruppe und die besuchte Schule.

Im Gegensatz zu einem Milieu, das vielschichtig und mehrdimensional aufgebaut ist, ist die Mitgliedschaft in einer Organisation distinktiv geregelt; sie liegt vor oder sie liegt nicht vor. Der Beitritt zu einer Organisation erfolgt üblicherweise durch die eigene Zustimmung und die der Organisation. In der Organisation Schule gilt dies für die Schüler / -innen im Vergleich zu den Lehrkräften insofern eingeschränkt, als dass die Schulpflicht in Deutschland ihren Besuch rechtlich regelt. Die Lehrpersonen hingegen sind sich ihrer Mitgliedschaftsrolle und einer relativen Freiwilligkeit bewusst; sie ist insofern relativ zu sehen, da die Tätigkeit (auch) zur Sicherung des Lebensunterhaltes ausgeführt wird.

Lehrkräfte sind sich ihrer organisationalen Mitgliedschaften v. a. in Situationen bewusst, in denen sich ihre (pädagogischen) Überzeugungen gegen die Organisationen richten. Dies kann dann der Fall sein, wenn sie Schüler / -innen Zensuren geben müssen. Widersprechen sie dieser Praxis, welche die Organisation qua formaler Regelungen einfordert, droht ihnen ein Disziplinarverfahren, das die Androhung eines Ausschlusses darstellt. Mitgliedschaft liegt hier, im Vergleich zum Milieu, reflexiv vor. Eine Tatsache, die es ermöglicht, die Organisation zu steuern, zu stabilisieren und Veränderungen zu initiieren (Nohl 2010, 195 ff). Für die Zugehörigkeit zu einem Milieu gilt dies nicht; sie ist weder durch einen Willensakt zu erzeugen noch auf diesem Wege veränderbar. Auch kann sie, anders als eine Mitgliedschaftsrolle, nicht „gekündigt“ werden. Zugespitzt verweist dies auf Zugehörigkeit zu einem Milieu einerseits und Mitgliedschaft in einer Organisation andererseits. Mitgliedschaft und Zugehörigkeit lassen sich zwar analytisch trennen, beziehen sich aber in den Praktiken innerhalb einer Organisation wechselseitig aufeinander (Nohl 2007, 66 f).

 

formale Regeln

Eine Besonderheit von Organisationen stellen ihre formalen Regeln dar. Diese sind eine Art Rahmen, in dem sich die konkreten Regeln entwickeln, ohne als direkte und unmittelbare Handlungsanweisung zu fungieren, wie etwas ganz genau zu tun ist. Eine formale Regel kann von den Organisationsmitgliedern durch drei unterschiedliche Formen bearbeitet werden:

toleriertes Unterleben

milieugeprägte Umgangsweisen mit formalen Regeln

informelle Regeln des Organisationsmilieus

Unterleben

Die formalen Regeln können unterlaufen werden, indem sie nicht beachtet werden, ihnen also zuwider gehandelt wird. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Schüler / -innen im Unterricht untereinander Gespräche führen, während die Lehrperson der gesamten Lerngruppe etwas erklärt. Die formale Regel, dass die Schüler / -innen der Lehrperson zuhören, wird hier unterlaufen, es entsteht ein Unterleben. Dieses Unterleben kann akzeptiert und damit erlaubt werden, oder es kann vonseiten der Lehrperson sanktioniert werden (Nohl 2010, 199 ff).

milieugeprägter Umgang mit den Regeln

Die Mitglieder einer Organisation gehören sozialen Milieus an. Wenn habituelle Handlungsweisen und Praktiken, ihre milieugeprägte Alltagsgestaltung, das Handeln der Mitglieder auch im organisatorischen Kontext der Schule kennzeichnen, liegen milieugeprägte Umgangsweisen mit formalen Regeln vor. Dies erfolgt dann problemlos, wenn die formalen Regeln der Schule mittels des konjunktiven Erfahrungswissens verstanden und die damit verbundenen Erwartungen in den Praktiken realisiert werden.


Hannah ist in einer Familie sozialisiert, in der sie in ihrem Alltag herausgefordert ist, Entscheidungen zu treffen, z. B., ob sie lieber einen Apfel oder eine Banane essen möchte. Wird sie von ihren Eltern oder ihren älteren Geschwistern dazu aufgefordert, kann Hannah ihre Auswahl für das eine oder das andere auch begründen. Wenn Hannah im Unterricht aufgefordert wird zu begründen, warum sie sich im Rahmen der Wochenplanarbeit für Aufgaben aus dem Fach Mathematik entschieden hat, kann sie dies. Sie wendet die von zu Hause gewohnte Praktik an, Entscheidungen zu treffen und sie zu begründen. Hannah kann die formale Regel, ihre Arbeitsschritte zu begründen, aus ihrem Milieu heraus verstehen und bearbeiten.

informelle Regeln

Die dritte Variante der Bearbeitung formaler Regeln besteht in ihrer Konkretisierung durch informelle Regeln im Sinne eines Organisationsmilieus. Dieses Prinzip findet sich dort, wo mittels konjunktivem Verständnis der Organisationsmitglieder eine formale Regel in die Praxis übersetzt wird. Praktiken, die sich dabei als erfolgreich erweisen und sich derart durchsetzen, dass sie überindividuellen Charakter annehmen, werden als „Organisationsmilieu“ bezeichnet. Sie stellen eine Konkretisierung der formalen Regel dar, die sich von einer direkten Handlungsbeschreibung unterscheidet. Sie bedürfen, wie für Milieus typisch, keiner Explikation, sondern beruhen auf Verstehen (Nohl 2007, 69 f).


Sezen ist mit ihrer Familie in eine andere Stadt gezogen und besucht eine neue Schule. Die Art und Weise wie ihre neue Lehrerin, Frau Stein, Schüler / -innen auswählt, die im Morgenkreis etwas berichten dürfen, unterscheidet sich von der, die sie aus ihrer alten Schule kennt. Sezen kann sich an den anderen Schüler / -innen orientieren, sie kann diese und ihre Praktiken, die informellen Regeln folgen, beobachten. Dies kann mimetisch und vorreflexiv erfolgen und ist nicht auf explizite Kommunikation angewiesen.

Organisationsmilieus

Die Entwicklung von Organisationsmilieus kann – langfristig – in die Formulierung formaler, neuer Regelungen münden. Hier manifestiert sich neues habituelles Handeln in der Organisation. Es ist dem eines Milieus vergleichbar, da es durch die Beobachtung anderer und mimetischer Lernprozesse angeeignet wird und den Akteuren und Akteurinnen in der Regel ausschließlich vorreflexiv zur Verfügung steht (Nohl 2010, 203 f).

Die kollektiv geteilten Regeln der Interpretation formaler Regeln beinhalten die impliziten Wissensbestände, die in der Organisation neu entstanden sind. Das so entstandene Organisationsmilieu wird folglich erst durch die Mitgliedschaft zur Organisation möglich. Die Mitgliedschaftsrolle ist also notwendige Voraussetzung für die Entwicklung einer organisationalen Milieuzugehörigkeit. Wie soziale Milieus auch, sind Organisationsmilieus vielschichtig und mehrdimensional. Innerhalb einer Schule lässt sich z. B. das Organisationsmilieu der Lehrkräfte von dem der Schüler / -innen unterscheiden, das wiederum in sich vielschichtig ist bzw. sein kann. Dass Schulen sich stark voneinander unterscheiden, ist Ausdruck unterschiedlicher Organisationsmilieus (Nohl 2007, 70).

Milieus in Organisationen

Die Handlungspraktiken innerhalb einer Organisation sind entsprechend durch zwei unterschiedliche Milieutypen bedingt: jene sozialen Milieus, denen die Organisationsmitglieder angehören und die sie in die Organisation einbringen und jene, die sich in der Organisation selbst entwickeln. Diese sind nicht identisch, stehen jedoch in Relation zueinander respektive sind aufeinander bezogen (Nohl 2010, 206).

Diskriminierung

Schule als Ort milieuübergreifender Verständigung und systematischer Benachteiligungen sozialer Gruppen: Sowohl die Strukturen, d. h. die formale Ebene, als auch die Praktiken in Organisationen bergen Risiken systematischer Benachteiligungen und Schlechterstellungen spezifischer Schülergruppen. Innerhalb von Organisationen kann dies als „Diskriminierung“ bezeichnet werden. Nohl (2010) hat unter Bezugnahme auf die soziologischen Arbeiten Luhmanns, Goffmans, Ortmanns und Bohnsacks ein Verständnis von „Organisation“ und „Diskriminierung“ entwickelt, das dies zu fassen ermöglicht (Nohl 2010, 195 ff). Die Ausführungen Bourdieus (1998) erweitern die Überlegungen Nohls (2010) um den expliziten Verweis auf die historische Entstehung formaler Regeln, in denen vorangegangene Auseinandersetzungen und Machtpositionen enthalten sind. Dies spiegelt sich zum einen in den Strukturen der Organisation der Schule wider, zum anderen in den kulturellen Praktiken, die im und durch das Organisationsmilieu tradiert werden.

Die Organisation der Schule eröffnet mithin Potenziale, um Lernen, Bildung und Sozialisation über die Grenzen von Milieus hinweg zu gestalten, und birgt zugleich Risiken systematischer Benachteiligung, also der Diskriminierung von Schüler / -innen bzw. von Schülergruppen. Eindimensionale Betrachtungen, die nur eine Milieudimension in den Blick nehmen, werden als „totale Identifizierung“ bezeichnet. Wird diese Reduktion auf eine Erfahrungsdimension herangezogen, um die Handlungen und Praktiken einzelner Personen infrage zu stellen – und entlang dieser Zuschreibungen auch den Zugang oder die Mitgliedschaft innerhalb einer Organisation –, so ist dies diskriminierend. Im Rahmen von Organisationen finden diese Diskriminierungen im interaktiven Austausch der Beteiligten statt und können zugleich durch den organisatorischen Prozess hervorgebracht werden; als solche sind sie hochkomplex, da sich mehrere potenzielle Dimensionen miteinander verbinden und auch konfligieren können. Jenseits totaler Identifizierungen finden sich jene Identifizierungen, die nicht im Vorwege, sondern im Nachhinein mit Diskriminierung verknüpft werden, z. B. wenn festgestellt wird, dass eine soziale Gruppe schlechter gestellt ist als eine andere (Nohl 2010, 216 f).

Reifizierungsproblem

Es gibt soziale Gruppen oder Milieus, die innerhalb von Schule kontinuierlich gegenüber anderen schlechter gestellt sind (Nohl 2010, 213). Der Begriff „soziale Gruppe“ bezieht sich hier nicht auf real vorhandene, sondern auf konstruierte Gruppen, wie beispielsweise „die Mädchen“. In der Beschreibung selbst wird das Reifizierungsproblem deutlich: Dass derartige Gruppen einerseits umschrieben werden müssen, um Diskriminierungspraktiken identifizieren zu können (z. B. in der statistischen Betrachtung von Benachteiligungen der Gruppe von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem); durch die Beschreibung der Gruppe wird diese andererseits als solche aber auch konstruiert und – in einer eindimensionalen Perspektive – betrachtet. Derartige Identifizierungen schließen andere Milieudimensionen aus, denen die Schüler / -innen ebenfalls angehören.

habitualisierte Zuschreibungen

Die Mitgliedschaft zu Organisationen unterscheidet zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern. Bezogen auf die Schule als Organisation insgesamt sind fast alle Kinder und Jugendlichen, die in Deutschland leben, Mitglieder in ihr, wenn auch in unterschiedlichen Suborganisationen, den verschiedenen Bildungsgängen bzw. Schulformen (in einigen Bundesländern sind Schüler / -innen ohne legalen Aufenthaltsstatus vom Schulbesuch ausgeschlossen (Gogolin 2011, 55)). Derartige Zuschreibungen können habitualisiert erfolgen, also unreflektiert und sich im Sprachgebrauch niederschlagen.

Die Gründe für diskriminierende Praktiken können auf den unterschiedlichen Ebenen der Organisation Schule greifen: formale Regeln, informelle Regeln der Organisationsmilieus, die milieugeprägten Umgangsweisen mit formalen Regeln und / oder das in ihr tolerierte milieubedingte Unterleben. Diese vier Formen können jeweils durch den Modus totaler Identifizierung einer sozialen Gruppe entstehen oder jenseits dieser (Nohl 2010, 224). Im Kontext der Organisation Schule sind folglich acht Typen systematischer Schlechterstellung zu unterscheiden:

total identifizierte Diskriminierung: durch formale Regeln, durch informelle Regeln des Organisationsmilieus, durch milieugeprägte Umgangsweisen mit formalen Regeln und durch toleriertes milieubedingtes Unterleben

Diskriminierung jenseits totaler Identifizierung: durch formale Regeln, informelle Regeln des Organisationsmilieus, milieugeprägte Umgangsweisen mit formalen Regeln und toleriertes milieubedingtes Unterleben (Nohl 2010, 224 ff)

Exklusion und Marginalisierung

Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie als Formen systematischer Benachteiligung zu Exklusionen, d. h. dem Ausschluss aus Bildungsgängen und / oder Lerngruppen, und / oder zu Marginalisierungen innerhalb dieser führen können. Letztere beziehen sich auf Schlechterstellung bzw. der Einnahme von Randpositionen innerhalb von Bildungsgängen und Lerngruppen.

Die aktuelle Konstitution der Schule als gesellschaftliche Organisation und ihre instituierten formalen Regeln sind Ausdruck historischer Auseinandersetzung, aus denen sie hervorgegangen sind und legitimiert wurden. Sie finden ihren Ausdruck in den heutigen formalen Regeln der Schule sowie den dort gängigen Handlungspraktiken, die sich in Organisationsmilieus niederschlagen. Im nachfolgenden Kapitel werden dieses formale Verständnis von Schule und ihre Aufgaben in der Gesellschaft vorgestellt. Als Teil des Bildungssystems sind der Organisation Schule Vorstellungen inhärent, wie Differenzen zu bearbeiten und herzustellen sind. Im vierten Kapitel liegt dann der Fokus auf den Praktiken, mit denen in der Schule systematische Formen der Benachteiligung hervorgebracht werden.

 

Zusammenfassung

Heterogenität und Homogenität beruhen auf unterschiedlichen bzw. auf gemeinsamen Erfahrungen, die Menschen in ihrem Alltag machen, und sind gleichzeitig Grundlage der Gestaltung ihrer Praktiken. Dieses praktische Wissen, über das Menschen – über explizites Wissen hinaus – verfügen, ist ihnen in der Regel nicht reflexiv zugänglich. Unterschiedliche Milieus kennzeichnen plurale Gesellschaften und stehen (auch) im Zusammenhang mit je verschiedenen Möglichkeiten des Zugangs zu gesellschaftlichen Gütern und der Teilhabe daran.

Werden Differenzen beschrieben, erfolgt dies durch Abstraktion von der Vielschichtigkeit von Milieus und ihren Praktiken. Insbesondere eindimensionale Zuschreibungen von Milieuzugehörigkeit bergen, aufgrund ihrer eingeschränkten Sicht, das Risiko diskriminierender Zuschreibungen. In Organisationen, wie der Schule, können Milieus, soziale Gruppen aufgrund ihrer Milieuzugehörigkeit und oder -zuschreibung systematisch benachteiligt werden.


2.4 Übungsaufgaben

Aufgabe 1

Wie hängen Heterogenität und Homogenität in einer sozial-konstruktivistischen Perspektive zusammen?

Aufgabe 2

Worauf kann sich die Aussage „die Klasse ist sehr heterogen“ aus sozial-konstruktivistischer Sicht beziehen?

Aufgabe 3

Erläutern Sie, was innerhalb der praxeologischen Wissenssoziologie mit „Milieu“ gemeint ist.

Aufgabe 4

Erstellen Sie eine Abbildung, die den Zusammenhang bzw. die Tauschoptionen der unterschiedlichen Kapitalsorten, die Bourdieu nennt, veranschaulicht.

Aufgabe 5

Nennen Sie Kriterien, anhand derer sich Milieus von Organisationen unterscheiden.


2.5 Literaturempfehlungen

Bohnsack, R. (2010): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 8. Aufl. Verlag Barbara Budrich, Opladen / Farmington Hills

Bourdieu, P. (1998): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Suhrkamp, Frankfurt a. M.

Bourdieu, P. (1992): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik und Kultur 1. Herausgegeben von Margareta Steinrücke. VSA-Verlag, Hamburg

Bourdieu, P. (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt a. M.

Emmerich, M., Hormel, U. (2013): Heterogenität – Diversity – Intersektionalität. Zur Logik sozialer Unterscheidungen in pädagogischen Semantiken der Differenz. Springer VS, Wiesbaden

Gomolla, M. (2009): Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion. In: Fürstenau S., Gomolla, M. (Hrsg.): Migration und schulischer Wandel: Unterricht. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 21–43.

Koller, H. C., Casale, R., Ricken, N. (Hrsg.) (2014): Heterogenität. Zur Konjunktur eines pädagogischen Konzepts. Ferdinand Schöningh, Paderborn

Krais, B., Gebauer, G. (2002): Habitus. transcript, Bielefeld

Lorenz, A., Lépine, R. (2014): Pierre Bourdieu. Philosophie für Einsteiger. Wilhelm Fink, Paderborn

Mannheim, K. (1980): Strukturen des Denkens. Suhrkamp, Frankfurt a. M.

Nohl, A.-M. (2010): Konzepte interkultureller Pädagogik. Eine systematische Einführung. 2. Aufl. Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn

Trautmann, M., Wischer, B. (2011): Heterogenität in der Schule. Eine kritische Einführung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

Wenning, N. (1999): Vereinheitlichung und Differenzierung. Zu den „wirklichen“ gesellschaftlichen Funktionen des Bildungswesens im Umgang mit Gleichheit und Verschiedenheit. Leske + Budrich, Opladen

Hier gelangen Sie in der Lern-App zum Buch zu weiteren Fragen zu Kapitel 2:


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