Lehrbuch Heterogenität in der Schule

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Die sozialen Prozesse der Produktion und Reproduktion von Differenzen sind nicht abgeschlossen, sondern fester Bestandteil jeder menschlichen Interaktion (West / Fenstermaker 1995, 9).

Heterogenität ist partial

Heterogenität, die als sozial konstruiert verstanden wird, ist immer auf einzelne Aspekte bezogen, auf konkrete Differenzen. Im schulisch-unterrichtlichen Kontext wird der Terminus „heterogen“ häufig auf eine Lerngruppe bezogen; gemeint sind jedoch einzelne Aspekte, anhand derer eine konkrete Gruppe als different beschrieben wird (Klafki / Stöcker 1976, 497). Identifizierte Heterogenität oder auch Homogenität besteht für einen konkreten Zeitpunkt, da die Unterschiede zwischen den Vergleichsobjekten jederzeit veränderbar sind. So führt Lernen dazu, dass die Diskrepanz zwischen etwas nicht Gekonntem zugunsten von Können überwunden werden kann. Die Feststellung, ob etwas heterogen und homogen ist, ist die zeitlich begrenzte Beschreibung eines Zustandes, dessen Ergebnis sich durch Entwicklung verändern kann (Wenning 2007, 23). Differenzen in schulischen Leistungen stellen folglich keine stabilen Merkmale dar. Sie sind veränderbar, wie das Beispiel über die Englischkompetenzen des Schülers Paul oben zeigt. So kann sich durch Lernen die Relation zwischen Verglichenem verändern.

2.2 Heterogenität von Milieus

Im Anschluss an diese allgemeine und begriffliche Definition von Heterogenität soll sie, anknüpfend an die Ausführungen der „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten“ von Arnd-Michael Nohl (2010) konkretisiert und durch Ausführungen zum sozialen Raum der Gesellschaft von Bourdieu (1987, 2009) erweitert werden. Arnd-Michael Nohl hat seine Ausführungen an die Überlegungen zur praxeologischen Wissenssoziologie von Karl Mannheim (1980) und Ralf Bohnsack (2010) aufgebaut.

Heterogenität und Homogenität werden in dieser theoretischen Position mithilfe des Milieubegriffs erklärt. Zunächst soll jedoch der Grundbegriff der Perspektivität von Milieus (siehe Kapitel 2.2.1) besprochen werden. Dann werden Bourdieus (1992) Überlegungen zum relationalen Zusammenhang von Milieu und sozialem Feld im sozialen Raum der Gesellschaft beschrieben (siehe Kapitel 2.2.2) und anschließend die besondere Situation von Milieus in Organisationen vorgestellt.

2.2.1 Zugehörigkeit zu Milieus

zwei Wissensformen

Um Differenzen aus der Perspektive der praxeologischen Wissenssoziologie heraus zu betrachten, ist es notwendig, zwischen zwei unterschiedlichen Wissensformen zu unterscheiden: der kommunikativ-generalisierten und der konjunktiven bzw. handlungspraktischen. Kommunikativ-generalisiertes Wissen steht v. a. sprachlich auf wörtlich-begrifflicher Ebene zur Verfügung und ist milieuübergreifend zugänglich (Nohl 2010, 149 f). Seine Verwendung setzt eine Distanz gegenüber den umschriebenen Gegenständen und Sachverhalten sowie Abstraktheit voraus. So wissen andere, wenn wir den Begriff „Buch“ verwenden, dass wir uns auf ein Bündel gebundener Blätter beziehen, die mit Schrift und / oder Bildern bedruckt sind.

Das handlungspraktische Wissen beschreibt hingegen Erfahrungswissen, das einzelne durch die Beziehung zu anderen Personen und / oder zu Gegenständen gemacht haben; so beispielsweise die Kindheitserfahrung, aus Büchern vorgelesen zu bekommen. In der je konkreten Situation wird die Erfahrung der Beziehung, gemeinsam eine Geschichte zu verfolgen, einer „Kontagion“ (Mannheim 1980, 208), gemacht – einer existenziellen Bezogenheit auf den Gegenstand „Buch“, der diese bereithält. Derartige Erfahrungen, die Mannheim als „konjunktive“ Erfahrungen (Mannheim 1980, 215) bezeichnet (einander existenziell verbindende Erfahrungen), stehen nicht notwendigerweise begrifflich reflexiv zur Verfügung. Sie machen jedoch einen wesentlichen Teil menschlichen Wissens aus und sind zugleich orientierende Grundlage für Praktiken und Handlungen, in die sie einfließen.

Definition:

Das handlungspraktische Erfahrungswissen ist jenes, das in der Auseinandersetzung mit der sozialen und materialen Welt gesammelt wird. Aus dieser Erfahrung ergibt sich ein praktisches Verhältnis der Menschen zur Welt, das vorbegrifflich zur Verfügung steht. Dieses Praxiswissen steht nicht unmittelbar reflexiv zur Verfügung (Mannheim 1980, 205 ff). Das in eigener Handlungspraxis erworbene Erfahrungswissen wird in Handlungssituationen reaktualisiert.

Folglich fungiert es als „Praxissinn“ (Bourdieu 1998, 41, Herv. im Original), also aus selbst erfahrener Handlungspraxis heraus wird die Praxis generiert.

Praxis

Dass Menschen über unterschiedliche Erfahrungen verfügen, zeigt sich in ihren je verschiedenen alltäglichen Praktiken. Die Gestaltung des Alltags umfasst jegliche Bereiche menschlichen Lebens, u. a. sich ernähren, sich kleiden, einer Arbeit nachgehen, die Freizeit gestalten. Für und in den unterschiedlichen Bereichen haben Menschen Praktiken entwickelt, die sie zwar nicht notwendigerweise explizit beschreiben können, die jedoch handlungsleitend sind. Diese Orientierung erfolgt auf der Erfahrungsgrundlage entlang des inkorporierten Wissens, das den Praktiken zugrunde liegt und in konkreten Erlebniszusammenhängen generiert wurde (Bohnsack 2010, 43). Innerhalb pluraler Gesellschaften finden sich unterschiedliche Formen der Lebenspraxis, die als „Milieus“ (Nohl 2010, 148) bezeichnet werden.

Definition:

Milieus stellen Kulturen der praktischen Lebensführung und der Alltagsgestaltung dar, die auf der Grundlage kollektiver Erfahrungen basieren (Nohl 2010, 145).

Verstehen

Milieus stellen gelebte Praxis innerhalb kollektiver Zugehörigkeiten dar, welche die Angehörigen durch Einbindung in vergleichbare, homologe, soziale Lebenszusammenhänge erwerben. Diese strukturidentischen Erfahrungen fungieren als eine Art Brille, durch die der Alltag betrachtet und Partizipation daran eröffnet wird. Die milieubezogenen Erfahrungen, die „kollektiven Erlebnisschichtungen“ (Bohnsack 2010, 63), müssen nicht in konkreten, gemeinsamen Erlebnissen gemacht werden, sondern lediglich gleichartig sein. Die Erfahrungen verbinden die Angehörigen eines Milieus miteinander, sie stellen die „Konjunktion“, eine Verbindung, zwischen ihnen her und dar. Das geteilte Erfahrungs- und Orientierungswissen wird auch als „konjunktives“, also verbindendes Erfahrungswissen bezeichnet. Es ermöglicht den Angehörigen eines Milieus, sich untereinander unmittelbar zu verstehen (Mannheim 1980, 217 ff).


Erfahrungen zwischen den Angehörigen unterschiedlicher generationeller Milieus, beispielsweise in Bezug auf die Nutzung von und den selbstverständlichen Zugang zu digitalen Medien, können sich unterscheiden. Die generationelle Differenz kann sprachlich zum Ausdruck kommen, in der Nutzung von Fachtermini und/oder handlungspraktisch, wie die Medien im Alltag genutzt und herangezogen werden.

Die Erfahrungen erlauben es den Angehörigen eines Milieus, in vergleichbarer Weise materiale und soziale Gegenstände bzw. Zusammenhänge zu betrachten und so auf sie in ihrem Alltag Bezug zu nehmen, da sie in gemeinsamen oder vergleichbaren Erlebnissen gewonnen wurden. Die Zusammenhänge müssen nicht weiter expliziert werden, sie werden verstanden, da sie in ihrer Existenz verstanden werden, die innerhalb des konjunktiven Erfahrungsraums besteht. Die Zugehörigkeit zu Milieus kann zwar reflexiv zugänglich sein, ist es jedoch im Alltag üblicherweise nicht (Bohnsack 2010, 63).

In diese Praxen werden Menschen hineingeboren und einsozialisiert. Milieus sind entsprechend der Individualität der / des Einzelnen vorgeordnet, da sich Individualität nur innerhalb von Milieus entfalten kann. Das konjunktive Wissen, über das ein Milieu zur Bearbeitung des Lebensalltags verfügt, wird v. a. in mimetischer Hinsicht sowie durch Beobachten und Aushandeln erlernt und zur Bearbeitung der eigenen Lebenspraxis herangezogen. Dabei determiniert ein Milieu die Handlungen und Praxen einzelner Personen nicht derart, dass konkrete Handlungen vorgegeben sind. Vielmehr eröffnen Milieus Optionen und Variationen. Die individuellen Spielräume ergeben sich auch durch und für die Zugehörigkeit von Menschen zu mehreren Milieus, die sich in je spezifischer Art überlagern (Nohl 2010, 149). Nohl (2013, 55) nennt die „gesellschaftlich etablierten Dimensionen von Heterogenität“ (Nohl 2013, 55), zu denen beispielsweise Geschlecht und die sozial-ökonomische Situation zählen. Dass entsprechende Milieuerfahrungen mit unterschiedlichen Handlungspraktiken einhergehen, konnte empirisch-rekonstruktiv nachgewiesen werden (z. B. Bohnsack et al. 1995; Schittenhelm 2005). Von diesen zu unterscheiden sind Milieus, die noch im Entstehen sind und/oder die noch nicht rekonstruiert wurden (Nohl 2013, 60).

 

Mehrdimensionalität von Milieus

Die Mehrdimensionalität von Milieus ergibt sich aus der Überlappung unterschiedlicher Erfahrungsdimensionen, wie beispielsweise der geschlechtlichen Erfahrungsdimension mit der des sozio-kulturellen Milieus.

Folglich ist nicht von einem eindimensionalen – und totalen – Verständnis von Milieu auszugehen, vielmehr überlagern sich Milieudimensionen. Die unterschiedlichen Erfahrungen, aus denen sich das handlungsleitende Wissen einzelner speist, können in Konflikt oder Widerspruch miteinander stehen. In diesen Konflikten liegt das Potenzial für bildende Entwicklung und Neugestaltung von Milieus. Die Überlappung der Milieus in einer konkreten Person führen ebenso zur Individualität respektive zu einem individuellen oder persönlichen Habitus wie die unterschiedlichen Lösungs- und Bearbeitungsformen des Alltags, die Milieus aufgrund ihrer Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität inhärent sind (Nohl 2010, 166).


Milieus sind weder einheitlich noch statisch, sondern vielfältig, dynamisch und damit wandelbar. Unterschiedliche Erfahrungen überlagern sich, sodass verschiedene Erfahrungsdimensionen zusammenkommen. Einen Menschen auf die Zugehörigkeit zu nur einem Milieu zu reduzieren, wäre eine Verkürzung seiner Realität (Nohl 2010, 174). Derartige Reduktionen auf eine Milieuzugehörigkeit werden häufig praktiziert. Auch Forschung und Wissenschaft sind hiervon nicht frei.

Die Mehrdimensionalität von Milieus eröffnet eine Perspektive der Betrachtung von Differenzen, die über eindimensionale Zuschreibungen hinausgeht. Dennoch finden in der Gesellschaft häufig eindimensionale Betrachtungen und Zuschreibungen statt, bis hin zu einer kategorialen Verfestigung, wie sie z. B. in „die Männer“ zum Ausdruck kommt. Dass dieser einseitige Blick auf Heterogenitätsdimensionen häufig eingenommen wird, lässt sich mithilfe der „Übersetzung“ konjunktiven Erfahrungswissens in kommunikativ generalisiertes Wissen erklären (Nohl 2010, 168 f), die häufig dann und dort erfolgt, wenn die Angehörigen unterschiedlicher Milieus sich einander erklären.

Konjunktion und Distinktion

Es bestehen Differenzen zwischen unterschiedlichen und innerhalb erfahrungsbezogener Milieus. Sie fußen auf den verschiedenartigen Erfahrungen, die Menschen machen, und bieten Zugehörigkeit zu einer Lebenspraxis, also zu Konjunktionen, die es erlauben, den komplexen Alltag zu bewältigen. In den Konjunktionen sind zugleich Distinktionen enthalten, da Zugehörigkeit zu einem Milieu immer auf Abgrenzung gegenüber anderen Milieus verweist (Nohl 2010, 147).

überkonjunktiver Zusammenhang

Der wissenssoziologischen Perspektive folgend, besteht neben dem Praxiswissen, den konjunktiven Erfahrungen und ihren Gehalten, die nur innerhalb des Milieus verständlich sind, also in der existenziellen Gemeinschaft, in der sie generiert wurden (Nohl 2010, 149), wörtlich-begriffliches und nonverbales, symbolisches Wissen über die soziale wie materiale Welt und somit auch über die Milieus selbst. Anders als konjunktives Erfahrungswissen, das auf unmittelbarem Verstehen (Bohnsack 2010, 55 ff) basiert, ist das kommunikativ-generalisierte auf Interpretationen angewiesen. Dort, wo über die Grenzen von Milieus und geteilten konjunktiven Erfahrungen hinweg kommuniziert wird, wird kommunikatives Verstehen notwendig. Die Verständigung ist darauf angewiesen, dass milieugebundene Selbstverständlichkeiten überkonjunktiv expliziert werden. Um die Bedeutung von etwas zu erklären, ist es erforderlich, konkrete Erfahrungen in abstrakte Sprachlichkeit zu übersetzen. Hierfür bedarf es der Kommunikation auf explizit-begrifflicher Ebene, die auf Abstraktionen von der milieugebundenen Perspektive angewiesen ist (Nohl 2010, 150).

kulturelle Repräsentationen

Neben verbalen Formen liegt dieses auf der Ebene kultureller Repräsentationen vor (Nohl 2010, 145 ff). Sie korrespondieren mit kommunikativ-generalisierten Bedeutungen, sind in sprachlicher und in symbolischer sowie nonverbaler Hinsicht vorhanden. Wörter und Begriffe der sprachlichen Ebene finden als explizite Äußerungen ihr Äquivalent auf nonverbaler symbolischer Ebene in materialer und sozialer Hinsicht. Sie bestehen aus Selbst- und Fremdzuschreibungen der Zugehörigkeit zu kulturellen Gruppen. Die Kleidung stellt eine solche kulturelle Repräsentation dar, die uns Hinweise z. B. auf das Geschlecht einer Person gibt.

Zuschreibungsprozesse finden überwiegend auf der Grundlage kultureller Repräsentationen statt, die aufgrund der Eindeutigkeit, mit der sie von allen erkannt werden können und sollen zugleich von der Vielfalt abstrahieren, die in Milieus anzutreffen ist (Nohl 2010, 147 f). Dabei wird die Vielfalt der milieuspezifischen Repräsentation häufig verdichtet und es werden eindimensionale Reduktionen vorgenommen, die sich in stereotypisierenden Zuschreibungen zuspitzen können. Durch die Reaktualisierung der eigenen kollektiven Zugehörigkeit, durch Abgrenzungen und Distinktionen in der Beschreibung verstärkten sich diese (Nohl 2010, 168 f).

Sozialisation

Zugehörigkeit zu Milieus: Milieus bestehen durch die und in den Lebenspraxen ihrer Angehörigen. Die Aktualisierung und Weitergabe milieuspezifischen Wissens an die nächste Generation, mittels Sozialisation, erfolgt durch die Reaktualisierung in Alltagspraktiken. Sozialisation verläuft dabei nicht linear; Milieus sind weder statisch noch eindimensional, sondern dynamisch und mehrdimensional, da mehrere Differenzdimensionen in ihnen aufgehen (Nohl 2010, 177). Folglich sind keine homogenen Milieus denkbar, in die Kinder und Jugendliche einsozialisiert werden. Die frühe familiäre und außerfamiliäre Sozialisation beschreibt jenen Prozess, in dem implizites Wissen eines Milieus an die jüngere Generation weitergegeben wird; ohne dass Sozialisation je als abgeschlossener Prozess verstanden werden kann, da eine kontinuierliche, erfahrungsbezogene Differenzierung im Laufe des Lebens stattfindet. Im Vergleich zu Erziehung ist Sozialisation, die in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen wie Familie, Kita und Schule vollzogen wird, nicht bzw. nur selten intentional (Marotzki et al. 2006, 138 ff).

schwach heterogene Milieus

Mehrdimensionalität findet sich auch in sogenannten „schwach heterogenen Milieus“ ebenso wie in „stark heterogenen“. Zu schwach heterogenen Milieus gehören in der aktuellen Gesellschaft jene, die lediglich in Bezug auf die Generation und – je nachdem – das Geschlecht verschiedenartig sind (Nohl 2010, 180). Für die Bewältigung einer generationsbezogenen Weitergabe handlungspraktischen Wissens, wie in der Adoleszenz, stellen die schwach heterogenen Milieus Vorbilder und Modelle bereit, an denen sich die Kinder bzw. Jugendlichen orientieren können. Milieus, die auf diese Weise tradiert werden, zeichnen sich durch biografische Dauerhaftigkeit und Kontinuität aus, auf die sich ihre Mitglieder beziehen können (Nohl 2010, 158; 179).

stark heterogene Milieus

Liegen keine derartigen Orientierungsmodelle und Vorbilder handlungspraktischen Wissens vor bzw. sind diese nicht mit den gesellschaftlichen Erwartungen zu vereinbaren, vor die die nachwachsende Generation gestellt ist, spricht man von „stark heterogenen Milieus“. Diese verweisen darauf, dass zwischen Erwachsenen und Kindern mehr als geschlechts- und ggf. generationsspezifische Unterschiede bestehen. Dies kann beispielsweise durch die Erfahrung von Migration oder durch gesamtgesellschaftliche Umbrüche, wie dem „Fall der Berliner Mauer“ bedingt sein. Solche Ereignisse, die biografische Brüche oder Diskontinuitäten für die Betroffenen darstellen, können (so sie von mehreren Personen erfahren werden) die Entwicklung neuer Milieus eröffnen. Deren Genese findet dort statt, wo die ältere Generation praktisch anwendbare Vorbilder der Lebensbewältigung nicht an ihre Kinder weitergeben kann und die nachwachsende Generation individuelle Handlungsweisen hervorbringt (Nohl 2010, 180 ff).

Aus der Erfahrung heraus, keine Rollenvorbilder oder Modelle zu haben, werden neue Orientierungen entwickelt, um den Alltag zu bewältigen. In diesen neuen Formen werden die differenten Erfahrungen, die unterschiedlichen Sphären (wie beispielsweise die der Familie und die der Schule), aufeinander bezogen und so ihre Bewältigung vorgenommen. Dies gelingt zunächst durch eine Trennung der Sphären und den in ihnen enthaltenen Erwartungen an die Akteurinnen und Akteure. Die Abgrenzung eröffnet zum einen Handlungsfähigkeit und ermöglicht zum anderen die Entwicklung eigener neuer Bearbeitungsformen (Nohl 2010, 158). Neben den durchaus schwierigen Herausforderungen, welche die Gestaltung und Etablierung neuer Milieus für die davon betroffenen Menschen mit sich bringen, eröffnen sich zugleich Räume und Möglichkeiten für Kreativität und Entwicklung (Nohl 2010, 180 ff).


Der Fall der Berliner Mauer stellt ein Beispiel hierfür dar: Die ehemaligen DDR-Bürger / -innen sind in einem politischen und gesellschaftlichen System sozialisiert worden, vor dessen Hintergrund sie Praktiken zur Bewältigung des Alltags entwickelt haben. Zu DDR-Zeiten bestehende Selbstverständlichkeiten, entlang derer der Alltag organisiert wurde, unterschieden sich jedoch von denen der BRD. Die damalige Kinder- und heutige Erwachsenengeneration erhielt nicht in vergleichbarem Maße Modelle und Vorbilder, wie der Alltag praktisch bewältigt werden kann, wie ihre Peers aus der ehemaligen Bundesrepublik.

Die Gesellschaft ist an sich heterogen und besteht aus mehrdimensionalen Milieus (Nohl 2010, 160). Die Differenzierung der Gesellschaft in Milieus steht auch in Relation zu den unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlichen Gütern.

2.2.2 Milieus im sozialen Raum

Milieus und Habitus

Die ausgeführten Überlegungen der praxeologischen Wissenssoziologie zum Milieu werden mit den theoretischen Ausführungen Bourdieus (1982; 1998) zum Habitus verknüpft. Bourdieus empirische Annäherung an diesen (1982; 1998) erfolgt wesentlich über Kapitalien und ihre Zusammensetzung, die Akteurinnen und Akteuren zur Bewältigung ihres Lebensalltags zur Verfügung stehen. Kapitalkonfigurationen unterschiedlicher Milieus betrachtet er in Relation zueinander und anhand der Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die darin enthalten sind.

Gemeinsam ist den theoretischen Positionen, dass sie davon ausgehen, dass die soziale Situation oder Lage von Menschen sich in ihren Handlungen und Orientierungen niederschlägt. Dies zeigt sich, davon wird ebenfalls in beiden Ansätzen ausgegangen, auch in der praktischen Seite des Handelns. Vor diesem Hintergrund ist es möglich, mit Hilfe der Ansätze die Dichotomie zwischen Mikro- und Makroebene zu überwinden. Ergebnisse und Resultate, die makroanalytisch betrachtet werden, wie z. B. die unterschiedliche Teilhabe von Schüler / -innen mit / ohne Migrationshintergrund an schulischen Bildungsgängen, finden sich in unterrichtlichen Interaktionen, also Praktiken und Diskursen der Mikroebene wieder.

 

Die Verknüpfung beider theoretischer Perspektiven soll es ermöglichen, die Bedeutung der sozio-ökonomisch unterschiedlichen Lebensbedingungen, die Bourdieu fokussiert und denen innerhalb der erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Forschung eine entscheidende Bedeutung im Zusammenhang mit (schulischem) Bildungserfolg zugeschrieben wird, in die bisherigen Überlegungen zu integrieren.

Die Bedingungen für die Gestaltung von Lebenspraxen unterscheiden sich und entwickeln zugleich eigene Dynamiken. Das, was Nohl (2007, 66) als „konjunktives Erfahrungswissen“ eines Milieus definiert, zeigt Parallelen zu Bourdieus Habituskonzept, insbesondere dem Praxissinn, der zwischen Feld und Habitus vermittelt. Dieser praktische Sinn, der Habitus, erlaubt es Menschen, in ihrem Alltag auf spezifische Art und Weise handlungsfähig zu sein (Bourdieu 2009, 139 ff).

Die entwickelte Praxis eines Milieus sieht Bourdieu (1982) in engem Zusammenhang mit den Kapitalien, die den Menschen – zur Bewältigung ihres Alltags – zur Verfügung stehen. Mithin eröffnet und verschließt (immer in Relation zu anderen Gesellschaftsmitgliedern respektive Milieus gedacht) die Verfügung über Kapitalien Möglichkeiten der Lebensführung und Gestaltung.

Der Habitus fungiert somit als Muster, mit dem die Welt betrachtet wird und in dem gleichzeitig Praktiken begründet werden, ohne jedoch konkrete Handlungsschritte vorzuschreiben. Vielmehr werden Handlungsmöglichkeiten und -optionen eröffnet (Bourdieu 1987, 100 ff). Die Ausprägung des Habitus ist eng an die Lebensbedingungen gebunden, die Bourdieu anhand des Kapitals, das zur Verfügung steht, beschreibt.

Definition:

Kapital meint akkumulierte Arbeit, die in materieller oder immaterieller – also in verinnerlichter (oder inkorporierter) – Hinsicht vorliegt (Bourdieu 1992, 49).

Kapital

Menschen investieren Arbeit und Zeit, um Kapitalien zu erwerben, dies gilt gleichermaßen für objektivierte wie für inkorporierte Formen. Der Besitz von viel Kapital eröffnet mehr Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlich begehrten Positionen und Lebensstilen, als dies bei wenig Kapital der Fall ist. Unterschiedliche Kapitalien, also Ressourcen (ökonomischer, kultureller, sozialer und symbolischer Art), die sich durch ein spezifisches Verhältnis zueinander auszeichnen, sind gesamtgesellschaftlich vorhanden. Sie können gegeneinander getauscht werden, dadurch stehen sie in Relation und Abhängigkeit zu- und voneinander. Die je zur Verfügung stehenden Kapitalien und ihre Zusammensetzung eröffnen und / oder begrenzen den Erwerb spezifischer Werte, Vorstellungen und Lebenspraxen. Diese Optionen führen zu Erfahrungen, die ihrerseits ein Milieu ausmachen (Bourdieu 1992, 49 ff).

inkorporiertes kulturelles Kapital

Kulturelles Kapital: Kulturelles Kapital kann in drei unterschiedlichen Formen vorliegen: inkorporiert, objektiviert und institutionalisiert. Inkorporiertes kulturelles Kapital ist körpergebunden, d. h. der Lernaufwand, der zu seiner Aneignung notwendig ist, muss von dem / der Träger / in selbst geleistet werden. Die Investition von Zeit in ein Studium und / oder in die Schulbildung setzt formal voraus, dass Personen sich lernend auseinandersetzen; dabei handelt es sich um eine Zeit, in der kein Geld verdient oder Freizeit genossen werden kann und die finanziert werden muss, da sie eben nicht für Arbeit aufgewendet werden kann (Bourdieu 1992, 55 ff).

objektiviertes Kulturkapital

Materielle Träger wie Bücher, Gemälde und Musikinstrumente stellen das objektivierte Kulturkapital dar. Neben dem rein materiellen und ökonomischen Wert wohnt ihnen eine kulturelle Bedeutung inne, die nur dann erschlossen werden kann, wenn inkorporiertes Kulturkapital vorliegt, wie z. B. ein Instrument spielen zu können; oder der Einsatz eines technischen Hilfsmittels, wie eines Computers, und geht über den „reinen Besitz“ hinaus (Bourdieu 1992, 59 ff).

institutionalisiertes Kulturkapital

Wie das inkorporierte ist auch das institutionalisierte Kulturkapital an den Träger / die Trägerin gebunden. Hierzu zählen Bildungszertifikate und akademische Titel. Dieses Kulturkapital unterscheidet sich von (ausschließlich) inkorporiertem Wissen dadurch, dass es in der Regel einfacher umzutauschen und rechtsgültig anerkannt ist. So kann ein Zertifikat wie der „Master of Education“ genutzt / getauscht werden, um zunächst einen Referendariats- und später einen Arbeitsplatz als Lehrer oder Lehrerin an einer Schule zu erhalten. Somit eröffnet sich die Option, durch Tausch ökonomisches Kapital zu erwerben. Inhalte, die sich Menschen autodidaktisch angeeignet haben, lassen sich nicht auf vergleichbare Weise transferieren (Bourdieu 1992, 61 ff).

soziale Netzwerke

Soziales Kapital: Diese Kapitalform bezeichnet soziale Netzwerke zwischen Menschen. Sie können genutzt werden, um materielle und / oder immaterielle Tauschbeziehungen vorzunehmen. Derartiger Austausch setzt die gegenseitige Anerkennung der Akteurinnen und Akteure eines Netzwerks voraus, das institutionalisiert vorliegen kann und / oder aus dem subjektiven Gefühl der Verpflichtung heraus besteht. Zum sozialen Kapital zählen neben Freundschaften auch die Familie oder eine Parteizugehörigkeit.

Die Zugehörigkeit zu sozialen Netzwerken basiert auf gegenseitigem Anerkennen und eröffnet die Möglichkeit, im Sinne einer Kreditwürdigkeit, auf das Kapital des gesamten Netzwerks zugreifen zu können. Um diese Potenziale nutzen zu können, ist Beziehungsarbeit in Form von Zeit und / oder Geld aufzuwenden. Die Beziehungspflege bedarf Zeit und / oder Geld und schafft Solidarität zwischen den Netzwerkmitgliedern, die in Form von gegenseitigen Einladungen, von Geschenken oder durch anderweitige Gegenleistungen praktiziert werden kann. So kann Nachhilfeunterricht für das Kind einer Freundin mit einer Essenseinladung oder mit dem Gießen der Blumen während des Urlaubs getauscht werden. Der Tausch ist auf Gegenseitigkeit angewiesen, insbesondere dann und dort, wo keine familiären Beziehungen und Verantwortungen zwischen den Akteurinnen und Akteure bestehen.

Soziales Kapital kann in institutionalisierter Form vorliegen (wie die Zugehörigkeit zu einer Partei, einem Verein oder auch einer Arbeitsstelle) und aus dem Gefühl subjektiver Verpflichtungen heraus entstehen (Bourdieu 1992, 63 ff).

materielle Güter

Ökonomisches Kapital: Zu ökonomischem Kapital zählen neben Geld all jene Gegenstände und materiellen Güter, die jemand besitzt, wie Immobilien, Kunstwerke, Aktien u. v. m. In Marktwirtschaften können diese unkompliziert mithilfe von Geld getauscht und / oder in Geld verwandelt werden. Die Umwandlung zwischen den unterschiedlichen Kapitalsorten macht einen wesentlichen Bestandteil menschlichen Zusammenlebens aus. Hierbei nimmt das ökonomische Kapital eine Art Schlüsselstellung ein, da mit seiner Hilfe andere Kapitalsorten verhältnismäßig leicht erworben werden können; oder es kann für notwendige Transformationsprozesse eingesetzt werden (Bourdieu 1992, 52).


Mirkos Eltern verfügen über eine vergleichsweise große Menge ökonomischen Kapitals. Als seine schulischen Leistungen immer schlechter werden, finanzieren sie ihrem Sohn Nachhilfeunterricht. Eine Nachhilfelehrerin soll Mirko helfen, die schulisch von ihm erwarteten Ziele zu erreichen, damit er in die nächste Klassenstufe versetzt wird. Mirkos Eltern sind selbst Lehrer von Beruf und verfügen über das kulturelle Kapital, ihn selbst beim schulischen Lernen zu unterstützen. Sie haben sich aber entschieden, Mirko eine Nachhilfelehrerin zu finanzieren, da sie selbst wenig (Frei-)Zeit zur Verfügung haben; und diese wenige Zeit wollen sie lieber Tennis spielend mit ihren Kindern verbringen.


Stefans schulische Leistungen sind vergleichbar mit denen Mirkos. Seine Familie verfügt jedoch weder über das ökonomische noch über das kulturelle Kapital wie Mirkos Familie. Stefans Mutter bittet ihre Schwester, ihren Sohn bei den Hausaufgaben zu unterstützen. Im Gegenzug möchte sie für die Schwester Hausarbeit erledigen. Stefans Mutter greift auf soziales, familiäres Kapital zurück und bietet zugleich eine Tauschleistung an.

Anerkennung

Symbolisches Kapital: Die vierte Kapitalform, das symbolische Kapital, unterscheidet sich von den drei anderen dadurch, dass sie ihnen innewohnt. Symbolisches Kapital stellt die wahrgenommenen und anerkannten Eigenschaften der drei anderen Kapitalsorten dar. Erst durch das symbolische Kapital erhalten die anderen Kapitalsorten ihren Wert, ihre Anerkennung. Die Allgemeine Hochschulreife, das Abitur, der Realschul- und / oder Hauptschulabschluss sind anerkannte Bildungsabschlüsse. Zugleich entstehen durch das symbolische Kapital Relativierungen und Unterscheidungen. So ist der Hauptschulabschluss zwar ein anerkannter Bildungsabschluss, er verfügt im Vergleich zur Hochschulreife über weniger Prestige und eröffnet ihr gegenüber einen eingeschränkteren Spielraum für weitere Bildungswegentscheidungen (Bourdieu 1998, 108 f).

Es ist festzuhalten, dass die jeweils zur Verfügung stehenden Kapitalien in Art und Umfang den Habitus von Menschen prägen, d. h. ihre „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ (Bourdieu 1978, 101), mit denen sie die materielle Welt und das soziale Miteinander betrachten und bewerten und die gleichzeitig ihre Handlungen in dieser materiellen Welt strukturieren. Die praktischen Lebensvollzüge von Milieus stehen in ihrer Genese mit diesen Rahmenbedingungen in Zusammenhang.

Soziale Felder und Feld der Macht: Soziale Felder stellen Räume dar, die sich aus einem Netz relativ zueinander stehender Positionen aufspannen und in Relation zu deren Kapitalvolumen stehen. Hierfür wird auf das kulturelle und das ökonomische Kapital Bezug genommen. Dies lässt sich in einem zweiachsigen Raum abbilden (siehe Abbildung 1).


Abb. 1: Struktur des sozialen Raums (nach Bourdieu 1998, 19)

Struktur des sozialen Raums

Die vertikale Achse beschreibt das Gesamtvolumen an kulturellem und ökonomischem Kapital einer Gesellschaft und die horizontale die Struktur des Kapitals. Letztgenannte verweist auf die Relation von ökonomischem zu kulturellem Kapital über die jemand (respektive ein Milieu) verfügt. Innerhalb des sozialen Raums, der die Gesellschaft beschreibt, können unterschiedliche Positionen als unterschiedliche Milieus – im Sinne der Annahmen der praxeologischen Wissenssoziologie – gefasst werden. Milieus, die insgesamt über viel Kapital verfügen, sind beispielsweise Hochschullehrkräfte und Unternehmer / -innen. Die zwei Gruppen unterscheiden sich jedoch in der Zusammensetzung, der Struktur des Kapitals: Während erstgenannte über mehr kulturelles als ökonomisches Kapital verfügen, ist dies bei der zweitgenannten Gruppe andersherum. Hilfsarbeitende und Personen, die in der Landwirtschaft tätig sind, verfügen im Vergleich zu den beiden anderen Gruppen über wenig ökonomisches und / oder kulturelles Kapital (Bourdieu 1998, 16 ff).