Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer

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Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer
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Über dieses Buch

Werner Kriesi, geboren 1932, lernt zuerst Schreiner, wird zum evangelikalen Prediger ausgebildet und arbeitet nach einem Theologiestudium dreissig Jahre als reformierter Pfarrer. Kurz vor seiner Pensionierung bittet ein Gemeindemitglied: «Nächste Woche will ich sterben. Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer …» Werner Kriesi sagt zu, und bald wird er Freitodbegleiter bei der Sterbehilfeorganisation Exit. Seither hat Werner Kriesi hunderte Menschen beim Sterben begleitet. Unheilbar Kranke, Lebenssatte, Verzweifelte, Zufriedene. Von der jungen, an Krebs erkrankten Mutter über den Wissenschaftler mit beginnender Demenz bis zum katholischen Priester, der mit Gott im Reinen ist.

In zahlreichen Gesprächen hat Werner Kriesi der Philosophin Suzann-Viola Renninger aus seinem Leben und von seinen Freitodbegleitungen erzählt. Sie haben diskutiert über das Sterbenwollen, Sterbenkönnen, Sterbendürfen. Eingeschoben sind Passagen über die moralischen Dilemmas, über philosophische und theologische Fragen, über die Geschichte des Freitods und der Schweizer Sterbehilfe und über den gesellschaftlichen Wandel im Umgang mit dem Sterbewillen kranker und verzweifelter Menschen. Herausgekommen ist ein packendes, lebensnahes Buch, das sich von jeglichen Dogmatiken ab- und dem Erleben zuwendet: dem, was Menschen dazu bewegt, die Tür zum Freitod aufzustossen.

Herausgekom­men ist ein packendes, lebensnahes Buch, das sich von jeglichen Dogmatiken ab- und dem Erleben zuwendet: dem, was Menschen dazu bewegt, die Tür zum Freitod aufzustoßen.

«Die Bibel erteilte der Ungleichheit zwischen Frauen und Männern den göttlichen Segen. Inzwischen haben sich die Frauen von diesem Erbe befreit. Die herkömmlichen Bibelinterpretationenen nahmen dem Menschen auch die Freiheit, über die Stunde des eigenen Todes selbst zu bestimmen. Dieses wegweisende Buch zeigt, warum wir auch in dieser Frage autonom werden sollten. Ein mutiges Buch über einen weisen Mann!» Carel van Schaik


Foto: Giorgio von Arb

Suzann-Viola Renninger promovierte nach einem Studium der ­Naturwissenschaften in Philosophie an der Ludwig-Maxi­milians-Universität München. Heute arbeitet sie als Philosophin an der Universität Zürich und war bis Herbst 2021 Leiterin des Ressorts Philosophie der Volkshochschule Zürich.

Suzann-Viola ­Renninger

Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer

Werner Kriesi hilft ­sterben

Limmat Verlag

Zürich

Für meinen Vater

für Dinah

«Denn da ich es wollte verschweigen,

­verschmachteten meine Gebeine.»

Psalm 32.3

Die Erzählungen über folgende Personen sind anonymisiert und so ­verändert worden, dass einerseits die Identifikation nicht möglich ist, anderseits der Kern der Situation erhalten bleibt: ­Andelka, Judith, Martha, Simon, C. Sanders, die Jugendliebe, R. Wyrsch, der Staatsanwalt (Spaziergang auf dem Albis), Frau Elgar, David, Marie.

Was sagen Ihre Angehörigen dazu?

Sie wissen, dass ich mich nicht von ihnen pflegen lassen will.

Und ein Pflegeheim?

Nein. Auf keinen Fall.

Weil Sie nicht gewickelt und gefüttert werden wollen?

Niemals. Ich will bis an mein Lebensende denkfähig, sprachfähig, gehfähig sein.

Ein rechter Rigorismus.

Ja, meine heilige Trinität.

Werner Kriesi

Geb. 21. September 1932

Von Rafz und Dübendorf

Persönliche Erklärung als Ergänzung zu meiner Patientenverfügung

Im Rückblick auf mein langes und insgesamt erfülltes Leben verstehe ich den Tod nicht als Tragödie, auch nicht als Strafe, sondern als natürliches Geschehen, dem alles Leben unterworfen ist.

Die Begrenzung unseres irdischen Daseins durch den Tod verleiht unserer menschlichen Existenz die inhaltsreiche Dichte und Intensität, die uns vor einer gedankenlosen und oberflächlichen Lebensführung bewahren kann, sofern wir uns bewusst sind, dass allein die Gesetze des Werdens und Vergehens eine dynamische Fortentwicklung allen Lebens ermöglichen. Ob der Tod zu einem definitiven Ende unserer Existenz führt oder ob er die Türe öffnet zu einer neuen, uns unbekannten Form eines «überirdischen» Lebens, wissen wir nicht – und brauchen es auch nicht zu wissen.

Getragen von der Gewissheit, dass der Tod einem tieferen Sinne entspricht und wir ihn deshalb nicht zu fürchten brauchen, will ich mein Leben nicht mit allen medizinischen Mitteln, die uns heute zur Verfügung stehen, künstlich in die Länge ziehen. Solange ich trotz meinem hohen Alter mein Leben noch frei und vielfältig gestalten kann, bin ich gerne noch am Leben. Dies vor allem im Hinblick auf meine nächsten Angehörigen und meinen großen Freundeskreis. Aber nicht um jeden Preis!

Ich bin nicht bereit, medizinische Behandlungen über mich ergehen zu lassen, die mich wohl am Leben erhalten, die aber zu einem Alterssiechtum führen könnten. Ich will keinen Verlust meiner geistigen Kräfte in Kauf nehmen. Ich will nur leben, solange meine Denk- und Sprachfähigkeit mir voll erhalten bleibt. Ich bin nicht bereit, in ein Alters- oder Pflegeheim einzutreten. Ich will keinerlei Art einer Pflegeabhängigkeit erdulden müssen. Ich will meinen Angehörigen niemals zur Last fallen. Ich erkenne keinen Sinn darin, während meiner letzten Lebensjahre, körperlich und geistig abgebaut, als Schatten meiner selbst da­hinvegetieren zu müssen. Eher bin ich bereit, die Stunde meines Sterbens selber zu bestimmen und in würdiger Form mein Leben dann zu beenden, wenn ich dies für angemessen erachte.

Mit dieser persönlichen Erklärung fälle ich kein Werturteil über würdiges oder unwürdiges Leben im hohen Alter, das allgemeine Gültigkeit beanspruchen soll. Ich verstehe mein Denken als konsequent subjektive Wertung, die meiner eigenen Einstel­lung zum Leben und Sterben entspricht.

Diese Erklärung lässt einigen Spielraum der Interpretation meinen mich behandelnden Ärztinnen und Ärzte in einer Situation, in welcher ich selber nicht mehr ansprechbar sein sollte. In der beiliegenden Patientenverfügung sind die Personen aufgelistet, die befugt sind, an einer notwendigen Entscheidung mitzuwirken.

8135 Langnau am Albis, am 23. April 2020

Werner Kriesi

Glaub niemandem, der vom Schreibtisch aus philosophiert
Zu diesem Buch

Meist wissen wir ohne große Überlegungen, was wir zu tun haben, welche Entscheidungen richtig und welche Handlungen moralisch sind. Doch es gibt Situationen, in denen Gefühl und Verstand Gegensätzliches nahelegen. Wir schwanken und können der Frage nicht ausweichen: Was soll ich tun? Was soll ich tun, wenn ich nicht mehr leben mag, weil das Leiden zu groß ist? Was soll ich tun, wenn ein naher Angehöriger oder eine enge Freundin das Leben nicht mehr aushält und mich bittet, beim Sterben zu helfen?

Unsere moralische Orientierung umfängt uns. Wir wachsen in sie hinein, sie wird geformt durch das, was wir seit frühester Kindheit erleben. Sie ändert sich mit unseren Erfahrungen und kann durch Konflikte infrage gestellt werden. Doch für gewöhnlich ist sie so eng mit unserer Persönlichkeit und der uns prägenden Kultur und Religion verbunden, dass wir uns nur schwer vorstellen können, sie könnte auch anders sein.

Dieser gelebten, intuitiven Moral steht das Nachdenken ge­­genüber. Die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Moral, der Vergleich und der Kontrast mit anderen moralischen Orientierungen, kann den Blick öffnen. In der Philoso­phie wird das Nachdenken über die Moral als Ethik bezeich­net. Sie zeigt, auf welchen häufig nicht bewussten Voraussetzun­gen unsere intuitiven und von der Tradition geprägten Urteile be­­ruhen. Die Ethik hält Begriffe, Prinzipien und Argumente parat, mit denen wir Ereignisse unter neuer Perspektive begreifen, einordnen und bewerten können. Dabei gilt der Verstand als das Mittel der Wahl. In der Praxis, der gelebten Moral hingegen führt er uns nie allein, sondern es leiten uns immer auch unsere Gefühle und unsere Intuition.

Auf was sollen wir uns nun verlassen, wenn wir vor kritischen Situationen stehen? Wenn wir zweifeln, ob wir den Sterbewunsch des Angehörigen, der Freundin mittragen und unterstützen sollen? Wenn wir selber sterben wollen, aber nicht können? Sollen wir der Tradition folgen, dem, was bisher üblich war? Sollen wir uns nach den Handlungsanwei­sungen der philosophischen oder theologischen Ethik richten, nach ihren meist allgemein formulierten Sätzen? Oder sollen wir auf unser Gefühl und unsere moralische Intuition hören, die uns schon den richtigen Weg weisen werden, wenn es konkret wird? Wie lässt sich die Brücke von den abstrakten Vorgaben der Theorie, den grundsätzlichen Überlegungen zum konkreten Einzelfall schlagen, der immer anders ist als alle anderen? Ist es nicht umgekehrt riskant, sich nicht von der Theorie aufklären zu lassen, sondern immer nur den eingespielten Mustern, Bauch und Herz zu folgen? Welchen Stellenwert nimmt bei alldem die Religion ein, die mit Überlieferung und Offenbarung, mit Gottes Wort und Willen argu­mentiert?

Helfen können hier Erzählungen. Erzählungen von dem, was Menschen in bestimmten Situationen entschieden haben und warum. Erzählungen von ihrer konkreten Not, ihren Bedürfnissen, ihren Wünschen. Erzählungen, die uns vor Augen führen, was sie bewegt, wenn sie den Freitod wählen. Es ist der Weg, den das vorliegende Buch einschlägt. Es enthält die Erlebnisse von Werner Kriesi, einem reformierten Pfarrer, der seit seiner Pensionierung 1997 als Freitodbegleiter für Exit tätig ist, die älteste Schweizer Sterbehilfeorganisation.

 

«Glaub niemandem, der vom Schreibtisch aus philoso­phiert und nie die warmen Pantoffeln auszieht», so sagte er bei unserem ersten Treffen. Er erzählte, wie es ihn prägte, als seine durch einen Hirnschlag gelähmte Mutter sterben wollte, aber nicht konnte. Wie ihn, viele Jahre später, die Bitte eines Gemeindemitglieds zu Exit brachte. Wie er Menschen half, de­ren größter Wunsch es war, zu sterben. Erlöst zu werden, wie sie es meist ausdrückten. Es waren Menschen, die litten. An tödlichen Krankheiten. An hohem Alter und Gebrechlichkeit. An Demenz und dem sich abzeichnenden Verlust des Selbst. An psychischen Erkrankungen oder Unfallfolgen. Und an Lebenssattheit oder Lebensüberdruss. Man müsse nah bei den Menschen sein, mittendrin in der Situation, um zu fühlen, um zu verstehen. Dann ändere sich die Einstellung. Den letzten Schritt in den Tod gehe jeder von uns allein. Doch zuvor, bis an die Schwelle, könnten wir uns die Hand reichen lassen.

Einen Sommer lang bis tief in den Herbst trafen wir uns beinahe jede Woche. Dieses Buch berichtet, wovon Werner Kriesi mir erzählt hat und was wir besprochen haben. Es enthält seine Erinnerungen an Menschen, die er in den Tod begleitete, und an Menschen, denen er dabei half, trotz Sterbewunsch weiterzuleben. Es enthält außerdem Passagen zur Geschichte von Exit wie auch zu Philosophen, deren Haltungen zum Selbstmord oder Freitod unsere Kultur geprägt ha­ben.

Anfang Juni 2020

Frau Renninger, Sie haben versucht, mich zu erreichen.

Ja, ich wollte Sie fragen: Wäre jetzt nicht der Sommer für unser Buch?

Sie wissen, wie alt ich bin?

Ja, eben.

Wir lachen und verabreden uns für die kommende Woche.

10. Juni 2020

Sie wissen, wie alt ich bin?

Ja, 86.

Nein, 87.

Trotzdem.

Ende 1995, in seinem letzten Jahr als Pfarrer in Thalwil im Kanton Zürich, wartet ein Gemeindemitglied nach dem Gottesdienst vor der Kirche. Der Mann – er ist in seinen frühen Siebzigern – sitzt im Rollstuhl.

«Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer, dann sind Sie dabei.»

Schon fünfzehn Jahre lang ist Werner Kriesi Seelsorger dieses Mannes, er kennt ihn und seine Familie gut, hat zuge­hört, versucht zu stärken. Der Mann leidet an Sklerodermie, einer Verhärtung des Bindegewebes, die inzwischen auch Herz und Lunge ergriffen hat. Er hat das Gefühl, mehr und mehr zu versteinern. Rund um die Uhr auf die Pflege seiner Frau an­­ge­­wiesen, fällt ihm das Atmen zunehmend schwer.

«Immer wieder träume ich, wie ich eines Tages aus dem Rollstuhl falle, meine Atemschläuche dabei abreiße. Wie ich wie ein Tier am Boden verrecke.»

Der Mann schildert Werner Kriesi seine schier unerträgli­chen Schmerzen, sein Siechtum. Er hat einen Wunsch: Der Herr Pfarrer möge auch in seiner letzten Stunde auf Erden bei ihm sein, mit ihm und seiner Familie beten. Mit der Sterbehilfeorganisation Exit sei schon alles eingefädelt. Werner Kriesi hört zu, denkt an seine Mutter, deren Sterben und Leiden drei Jahre dauerte. Er ahnt, wie sehr die Krankheit ihn peinigt.

An dem Tag, an dem Exit dem Mann hilft, den Tod zu finden, ist Werner Kriesi als Seelsorger anwesend. Exit, die 1982 in der Deutschschweiz gegründete «Vereinigung zum humanen Sterben», hatte er bis zu diesem Zeitpunkt nur vom Hö­rensagen gekannt. Bald darauf, 1997, wird er Mitarbeiter bei Exit. Von 1998 bis 2006 ist er Vorstandsmitglied und Leiter der Gruppe von Frauen und Männern, die nach einer Ausbil­dung durch Exit als Freitodbegleiter zur Verfügung stehen, und von 1999 bis 2006 im Vorstand der neu gegründeten Ethikkommission.

Meine Mutter litt unsäglich

Herr Kriesi, wie wird man Freitodbegleiter?

Die Bitte meines Gemeindemitglieds, bei seinem Freitod dabei zu sein, war für mich ein Schlüsselerlebnis. Dieser lapidare Satz, als wir uns nach einem Gespräch über allgemeine Dinge vor der Kirche verabschiedeten: «Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer …» Er hat sich mir unvergesslich eingebrannt. In seiner Wirkung verdoppelt und verdreifacht durch die grässliche Erfahrung mit meiner Mutter. Ein Sterbemartyrium von drei Jahren! Mir kommt noch immer das Elend, wenn ich daran denke. Aus heutiger Sicht ein medizinisches Fehlverhalten, her­vorgerufen dadurch, dass die medizinischen Möglichkeiten unbedacht, jedenfalls zu lange angewendet wurden. Dass man sie nach einer geschenkten Bewusstlosigkeit nicht hinübergleiten lassen konnte. Was für ein Irrsinn!

Zu Beginn der Achtzigerjahre erlitt meine Mutter zwei Hirnschläge, die sie mit leichten Beeinträchtigungen zurückließen. Nach dem dritten Hirnschlag einige Jahre darauf fiel sie in Bewusstlosigkeit. Sie war 76 Jahre alt. Hätte sie keine Magensonde und somit keine künstliche Ernährung erhalten, wäre sie wohl nach wenigen Tagen gestorben. Doch so überlebte sie. Als sie nach Wochen wieder erwachte, war sie am ganzen Körper gelähmt. Keinen kleinen Finger konnte sie mehr bewegen, keine Fliege mehr aus dem Gesicht verjagen. Auch sprechen konnte sie nicht mehr. Doch geistig war sie noch da. Klar im Kopf. Sie verstand alles, was gesprochen wurde, und musste Sprüche von frommen Leuten über sich ergehen lassen. Sätze, die in der lutherischen Übersetzung einen zynischen Klang haben. Aus Psalm 68 etwa: «Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch.»* Denn es ist ja nicht Gott, der die Last auferlegt, sondern in diesem Fall die medizinische Technik.

* Nach der Lutherbibel: «Gelobt sei der Herr täglich. Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch.» Die sich näher ans Original haltende Übersetzung in der Zürcher Bibel ­lautet: «Gepriesen sei der Herr Tag für Tag, der uns trägt, der Gott, der unsere Hilfe ist» (Psalm 68.20).

Drei Jahre starrte meine Mutter still und stumm an die weiße Decke des Pflegeheims. Dann endlich konnte sie sterben. Meine Geschwister und ich waren dankbar. Doch ich habe heute noch ein schlechtes Gewissen, dass wir damals nicht alle Hebel in Bewegung setzten, um unserer Mutter ein solch grässliches Lebensende zu ersparen.

Haben Sie jemals daran gedacht, Ihrer Mutter beim Sterben zu helfen?

Es gab keine legalen Mittel. Ein orales Mittel hätte man ihr nicht geben können, das war damals gar nicht denkbar. Zwar wäre möglich gewesen, sie nicht mehr zu ernähren und so sterben zu lassen. Doch das hätte man niemals gemacht in diesem Heim, das sich übrigens sehr gut um sie kümmerte und ihr die beste Pflege gab. Das kritisiere ich nicht. Doch hätte ich meine Mutter gefragt, ob sie sterben möchte, sie hätte eingewilligt. Sie hätte mit dem Kopf noch Ja oder Nein signalisieren können. Solch ein sinnloses Sterbeleiden hat sie nicht gewollt.

Und die nicht legalen Mittel?

Sie denken an den Film «Amour», in dem ein Mann nach fünfzig Jahren Ehe seine gelähmte Frau mit einem Kissen erstickt?

Ja. Unter anderem.

Unter einem Kissen zu ersticken, kann ein kurzes Leiden sein. Aber auch ein schreckliches. Wenige Sekunden können da zu einer Ewigkeit werden. In allen Ländern werden hochaltrige Menschen auf diese Weise umgebracht. Viel mehr, als die meisten auch nur ahnen, denn darüber wird nicht gesprochen. Doch ins Pflegeheim auf Besuch gehen, und danach ist die Patientin tot? Da haben Sie gleich den Staatsanwalt im Haus.

So haben Sie also damals über all diese Möglichkeiten nachgedacht, die legalen wie die nicht legalen?

Nicht bewusst. Wir haben uns zur Zeit des Leidens meiner Mutter keine Rechenschaft darüber abgelegt, ob wir ihr hätten helfen sollen zu sterben. Noch in den Achtzigerjahren war der Nimbus der Ärzte in den weißen Kitteln immens. Erst der Ster­bewunsch des Gemeindemitglieds konfrontierte mich mit dem Gedanken, dass wir unter Umständen verpflichtet sein können, Angehörigen solch einen Wunsch zu erfüllen. Doch damals lag dies nicht innerhalb des Denkhorizonts, auch nicht in meinem.

Über dreißig Jahre habe ich als Seelsorger Menschen im Endstadium Krebs besucht. Immer wieder hörte ich ihr Klagen: «Herr Pfarrer, warum kann ich nicht sterben? Herr Pfarrer, warum lässt Gott mich so leiden? Herr Pfarrer, die Schmerzen machen mich kaputt.» Eine Antwort hatte ich nicht. Ich verließ die Betten dieser Menschen mit einem grässlichen Elendsge­fühl.

Wir können heute kaum noch ermessen, wie sehr eine Organisation wie Exit die Notwendigkeit der Sterbe- und Freitodhilfe ins Bewusstsein der Menschen gebracht hat. Das war vor bald vierzig Jahren. Die Zeit war reif. Die «Affäre Haemmerli» hatte die Schweiz aufgewühlt.

Herr Kriesi, eine letzte Frage für heute: Bezeichnen Sie sich selbst als Sterbehelfer? Oder als Freitodbegleiter?

«Sterbehelfer» ist neutraler. Anderseits ist der Begriff von den Leuten besetzt, die tage- und nächtelang am Bett eines Sterbenden sitzen, mit diesem sprechen oder beten und Handreichungen bieten, wie Zunge feuchten, Stirne kühlen und Kissen schütteln. In den meisten Krankenhäusern und Pflegeheimen arbeiten solche Menschen – in der Regel ehrenamtlich –, und oft betonen sie energisch, sie würden nicht zum Sterben, sondern beim Sterben helfen, meist im Ton einer eher gehobenen Moralität gegenüber den Helfern beim assistierten Suizid. Viele dieser Leute haben ein starkes Bedürfnis, sich von den Sterbehelfern abzugrenzen, die bei Organisationen wie Exit arbeiten. Ich selbst ziehe für mich die Bezeichnung Freitodbegleiter vor.

Die Affäre Haemmerli 1974

Die «Affäre Haemmerli», wie sie bald genannt wird, beginnt im Dezember 1974, als sich Urs Peter Haemmerli, Chefarzt der Medizinischen Klinik am Zürcher Stadtspital Triemli, an die Zürcher Stadträtin Regula Pestalozzi wendet. Die Juristin ist als Vorsteherin des Gesundheits- und Wirtschaftsamts seine politische Vorgesetzte. Er vertraut ihr an, wie die «Neue Zürcher Zeitung» bald darauf berichtet, «was in medizinischen Kreisen, aber auch darüber hinaus, längst bekannt ist – auch wenn man nicht gerne davon gesprochen hat».1 In einzelnen Fällen werde hoffnungslos Kranken, die gelähmt und nicht mehr bei Bewusstsein sind, nur noch Wasser zugeführt. Diese Beschreibung ergänzt Urs Haemmerli mit der Bemerkung, dass seine Klinik überbelegt sei.

Die Stadträtin ist schockiert und kommt zum Schluss, dass der Tatbestand der vorsätzlichen Tötung erfüllt sein könne. Rund einen Monat später informiert sie die Zürcher Staatsanwaltschaft. Kurz darauf klingeln Kriminalbeamte am frühen Morgen an der Haustür des Chefarztes, teilen ihm mit, er sei verhaftet, durchsuchen ihn nach Waffen und nehmen ihn mit zum Verhör. Der Verdacht: Er würde Patienten die Nahrung entziehen, um ihr Ableben zu beschleunigen und so dem Bettenmangel in seiner Klinik zu begegnen.

Die Wellen schlagen hoch. Urs Haemmerli wird von seinem Chefarztposten freigestellt. Doch er – und nicht die Stadträtin, nicht die drohende Anklage – erhält viel Zuspruch. Die «Neue Zürcher Zeitung» berichtet, im Ton sachlich und das verständnisvolle Wohlwollen nicht verbergend. Das Klinikpersonal solidarisiert sich, die Medizinische Fakultät der Universität Zürich spricht ihm das Vertrauen aus. In weiten Kreisen der Bevölkerung erhält sein Tun hohe Zustimmung. In einer Stellungnahme zu Händen der Presse schreibt der Beschuldigte:

«Ich habe gegenüber meinen Patienten nie etwas getan oder angeordnet, was ich nicht bei meiner Mutter oder bei meinem Vater tun würde, wenn sie in der gleichen Lage wären wie der betreffende Patient. Wenn ich selber als Patient in der gleichen Lage wäre, würde ich mir von meinem behandelnden Arzt dasselbe Vorgehen wünschen.» Er fragt: «Unter welchen Umständen ist ein Arzt nicht mehr verpflichtet, weitere Bemühungen zur Lebensverlängerung eines unwiderruflich be­wusstlosen und sicher dem Tod geweihten Patienten zu un­ter­nehmen?»2

Die Affäre wird europaweit diskutiert. Ende Jahr reist Urs Haemmerli nach New York City und hält einen Vortrag am 8. Jahreskongress des amerikanischen Bildungsrats zur Eutha­nasie. Die «New York Times» titelt am 7. Dezember 1975: «Arzt stellt Veränderung in der Haltung zur Euthanasie fest». Das Blatt hält aus seinem Vortrag fest, dass die enormen technischen Fortschritte in der Medizin es in den letzten Jahren möglich gemacht hätten, unheilbar kranke Patienten auf unbestimmte Zeit zu versorgen. Wir müssten uns daher wie nie zuvor der Frage stellen, ob wir sie auf natürliche Weise sterben lassen sollen. Das Fazit des Schweizers in den USA: «Ich denke (…), dass passive Euthanasie schließlich legalisiert werden wird.»3

 

Urs Haemmerli hatte mit Blick auf die Schweiz insofern unrecht, als die passive Euthanasie – im deutschsprachigen Raum meist «passive Sterbehilfe» oder als «sterbenlassen» bezeichnet – in der Schweizer Gesetzgebung juristisch nie ausdrücklich sanktioniert war. Sie wird aber, wie der Ausgang der Affäre Haemmerli und die weiteren Entwicklungen zeigen werden, unter gewissen Bedingungen «als erlaubt ange­sehen», so die Formulierung des Bundesamtes für Justiz.4 1976, ein Jahr nach der Strafanzeige, stellt die Zürcher Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Urs Haemmerli ist rehabi­li­tiert.