Sturmzeit auf Island

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Ihr ist, als würde sie plötzlich einen schweren Mantel tragen, gewebt aus Schicksal und Leid. Auf ihrer Brust lastet ein Gewicht und ihr Herz pocht dumpf. So kann sie nicht nach Hause fahren. Kurz entschlossen biegt sie in die Straße ein, die zum See hinunterführt. Wenig später schlendert sie die Seestraße entlang. Langsam entspannt sie sich und es gelingt ihr, den schweren Mantel wieder abzustreifen.

Die Terrasse des Seehotels Riva wirkt so einladend, dass sie sich entschließt, dort einzukehren. Sie findet einen freien Tisch unter einem cremefarbenen Sonnenschirm. Während sie genüsslich an ihrem Eiskaffee nippt, lässt sie ihren Blick über die blühenden Rhododendrenhecken des Hotelgartens und über die dahinter vorbeiführende Seestraße schweifen. Es herrscht ein buntes, sonntägliches Treiben. Spaziergänger, Hunde, Kinder, Badende mischen sich mit Radfahrern und Joggern.

Der blaue See, auf dem Segelboote dahingleiten, im Hintergrund die Schweizer Alpen, die sich in einen leichten Dunst hüllen, das alles erfüllt Julias Seele mit Frieden und gibt ihr nach und nach die Leichtigkeit zurück, die ihr die Mutter genommen hat.

Beschwingt kehrt sie nach Hause zurück.

Elin greift nach Michaels Hand. „Komm mit mir, ich möchte dir etwas zeigen.“

Sie zieht ihn mit sich die Treppe hinauf und öffnet die Tür zu ihrem Atelier.

Ein großer, ausgebauter Raum unter dem Dach ihres Einfamilienhauses mit einer breiten Fensterfront. Das späte Morgenlicht fällt in schräger Bahn durch das Glas und zeichnet helle Streifen auf den dunklen Holzboden.

Elin blickt zum Fenster hinaus. Ein traumhafter Blick über den See, bis hin zu den Schweizer Alpen.

Michael überreichte ihr zu ihrem dreißigsten Geburtstag ein Kuvert. Als sie es aufriss, fand sie eine Skizze ihres zukünftigen Ateliers darin. Ein paar Wochen später begann er mit dem Dachausbau. Seitdem ist hier ihr Rückzugsort, wo sie in all den Jahren mit Pinsel, Farben und Kreiden in ihre Heimat gereist ist.

Elin dreht sich zu ihrem Mann um, geht an ihm vorbei und öffnet eine Schublade ihrer Zeichenkommode.

„Schau Michael, das ist meine Heimat, mein Island, wie ich es in Erinnerung habe“, sagt sie leise und entnimmt einer Mappe große bemalte Papierbögen.

Bunte Holzhäuser vor grünen Vulkanbergen und schneebedeckten Gletschern, mächtige Lavafelsen im aufgewühlten Meer, Wasserfälle und blühende Wiesen sind zu sehen.

„Sie sind wunderschön“, sagt er leise und räuspert sich.

Elin kniet sich zu ihm auf den Boden und schaut ihn erwartungsvoll an. „Ich habe meine Heimat nie vergessen, auch wenn es auf euch so wirken muss. Manchmal ist das Heimweh so stark, dass ich die Bilder, die in mir aufsteigen, malen muss, sonst würde ich es nicht ertragen“, flüstert sie und wischt sich die aufsteigenden Tränen aus den Augen.

„Michael nickt und greift nach ihrer Hand. „Danke, dass du sie mir gezeigt hast.“

„Ich werde die Geschichte aufschreiben. „Ich muss mich endlich mit der Vergangenheit auseinandersetzen und Frieden schließen.“

„Und dann gehen wir zusammen nach Island“, schlägt Michael begeistert vor. Ich möchte deine Heimat gern kennenlernen.“

Elin schüttelt traurig den Kopf. „Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder zurückkehren kann. Die Unsichtbaren werden es nicht erlauben.“

„Schatz, was hat es mit diesen Unsichtbaren auf sich? Wer sind sie?“ Michael spürt, dass ihm trotz der Hitze ein kalter Schauer den Rücken hinunterläuft.

„Du wirst es erfahren. Aber gib mir noch ein wenig Zeit. Bitte!“

Michael nickt und erhebt sich mühsam. „Die alten Knochen“, stöhnt er lächelnd.

Elin legt die Bilder vorsichtig in die Kommode zurück.

„Lass uns einen Seespaziergang machen. Ich brauche jetzt Bewegung“, schlägt Elin vor und greift nach Michaels Hand.

Sie bleiben stehen und blicken auf den See mit seinen glitzernden Lichtpunkten. Warmer Wind streichelt ihre Gesichter, Wellen plätschern halbherzig ans Ufer und ein Schwarm flatternder, kreischender Möwen streitet um ein aufgeweichtes Stückchen Brot, das ans steinige Ufer geschwemmt wurde.

„Weißt du, Island besitzt nicht diese Lieblichkeit. Seine Schönheit ist rau und kraftvoll. Nicht jeder fühlt sich dort wohl, doch ich habe die Insel immer geliebt.“

Michael sieht den Schmerz in ihren Augen. „Jetzt lade ich dich ins Strandcafé ein.“ Er legt den Arm um sie und zieht sie an sich.

Auf der Badewiese herrscht munteres Treiben. Beachvolleyballspieler, Sonnenhungrige auf ihren Handtüchern und planschende, juchzende Kinder. Das Sonntagsprogramm an einem Sommertag am Bodensee.

Elin löffelt genüsslich ihren Eiskaffee, während Michael sich mit einem kühlen Weizen erfrischt.

„Geht’s dir wieder besser?“, fragt er seine Frau.

Elin nickt und deutet lächelnd auf seinen Mund. „Bierschaum.“

Michael wischt sich grinsend über den Mund, dann wird er ernst. „Ich werde irgendwann mit dir nach Island fahren, das schwör ich dir.“

Elin blickt ihn erstaunt an. „Das wäre schön“, flüstert sie, „aber …“

„Kein Aber. Wir werden uns doch nicht von irgendwelchen Geistern einschüchtern lassen.“

Elin zuckt mit den Schultern. Vielleicht hat er recht. Sie wünscht es sich so sehr.

KAPITEL 3

Julia

Julia wird vom Rauschen des Regens geweckt. Schwungvoll verlässt sie das Bett. Nach einer erfrischenden Dusche kehrt sie ins Schlafzimmer zurück, schlüpft in die bereitgelegte hellblaue Jeans und einen dunkelblauen Baumwollpulli.

Nach einem hastig eingenommenen Frühstück verlässt sie mit ihrem Gepäck die Wohnung und steigt in das wartende Taxi.

Ihr Islandabenteuer beginnt.

Das Flugzeug verliert an Höhe und bereitet sich auf die Landung vor. Kurz darauf setzt es mit einem harten Ruck auf der Landebahn auf.

Julia blickt durch das kleine Fenster. Der Flughafen von Keflavik. Regennasser Asphalt unter einem trüben, wolkenverhangenen Himmel.

Sie zupft aufgeregt an ihrem Zopf. Die Frage, die sie sich schon während des Fluges gestellt hat, drängt sich wieder in den Vordergrund. Wie wird sie sich hier fühlen, im Land ihrer Eltern und Vorfahren? Wird sie überhaupt etwas spüren? Vielleicht ist es einfach nur eine Urlaubsinsel?

Julia schließt den obersten Knopf ihres Anoraks und stülpt die Kapuze über den Kopf. Kalter Wind und Nieselregen. Sie schluckt die aufkommende Enttäuschung hinunter. Sie ist schließlich auf Island und nicht auf Mallorca. Wenig später bringt sie der Bus in ihr Hotel nach Hafnarfjördur.

Lavafelder entlang der Straße, karge Vulkanberge, im Norden das Meer im blaugrauen Dunst, fast eins mit dem Himmel. Julia kann sich nicht sattsehen. Das ist also das Land ihrer Eltern.

Der Bus hält vor einem modernen Touristenhotel in leuchtend grüner Farbe. Nicht romantisch, eher zweckmäßig.

Nachdem Julia eingecheckt und sich in ihrem Zimmer eingerichtet hat, fährt sie mit dem Bus nach Reykjavik.

Das Wetter hat sich zum Positiven verändert. Der graublaue Himmel reißt immer mehr auf und gibt einer milden Sonne die Möglichkeit, die feuchte Luft zu erwärmen.

Reykjavik ist eine moderne, pulsierende Stadt. International und jung. Julia fühlt sich sofort wohl, doch sie vermisst ein wenig das Alte und Romantische der südlichen Städte.

Sie besichtigt die bekannte Hallgrims-Kirche und fährt mit dem Aufzug auf die Aussichtsplattform des Turms. Der Blick über die roten, blauen und grünen Wellblechdächer der kleinen Häuser, die sich an das Ufer des Stadtsees schmiegen, ist wunderschön.

Gemächlich schlendert sie durch die Altstadt und fotografiert die kleinen, bunten Holz- und Wellblechhäuser, die sie an Norwegen erinnern. Nicht weit entfernt, im alten Hafen, schaukeln Fischerboote und kleine Segeljachten. Daneben das Konzerthaus Harpa, ein architektonisches Meisterwerk aus Hunderten von Glasbausteinen.

Julia geht ein Stück an der Uferpromenade entlang. Steine zu Figuren aufgetürmt, erinnern sie an den Bodensee, und sie fühlt sich nicht mehr so fremd.

Sie dreht dem Hafen den Rücken zu und lässt sich durch die Einkaufsstraßen treiben. Imbissbuden, Restaurants, Bäckereien und Cafés bieten kulinarische Stärkung an, um für Buchläden, schrille Boutiquen und Souvenirläden gerüstet zu sein. Isländische Wollpullover, Schmuckstücke aus geschliffenen Lavasteinen, bunte recycelte Designerklamotten und originelle Handtaschen reizen zum Kauf, doch als Julia die Preisschilder sieht, verflüchtigen sich die Gedanken an Mitbringsel schnell.

Als ihr der verführerische Kaffeeduft aus dem Inneren eines Cafés in die Nase steigt, kann sie nicht widerstehen. Sie braucht jetzt eine Stärkung, denn ein Blick auf die Uhr zeigt, dass sie bereits seit drei Stunden durch die Stadt marschiert.

Sie hat Glück und findet einen freien Platz an einem kleinen Tisch vor dem Café. Aufatmend lässt sie sich auf den Stuhl fallen. Als Erstes raus aus den Schuhen. Während Julia auf ihren Kaffee wartet, dringen Wortfetzen verschiedener Sprachen an ihr Ohr. Englisch, Französisch, mitunter auch Deutsch. Am Tisch gegenüber unterhält sich eine Gruppe Japaner in ihrem für sie eigenen Singsang.

Entspannt streckt sie ihr Gesicht einem milden Sonnenstrahl entgegen und öffnet den Reißverschluss ihrer Jacke. Dann nimmt sie ihr Smartphone aus dem Rucksack, macht ein Selfie und schickt es ihrer Mutter mit einer kurzen Nachricht:

Bin in Reykjavik. Es ist wunderschön hier. Auch das Wetter! Fühle mich sehr wohl.

In dieser entspannten, freudigen Stimmung trifft sie plötzlich ein Blick, der sich wie ein Messerstich anfühlt. Spitz und schmerzhaft. Julia zuckt zusammen. Ein graugrünes Augenpaar scheint Laserstrahlen in ihre Richtung zu schleudern. Was ist denn los? Ist sie gemeint? Aber warum?

 

Julia wendet sich ab, tut so, als ob sie in ihrem Reiseführer lese und mustert die Frau verstohlen aus den Augenwinkeln. Das Klischeebild einer Gouvernante Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts. Graubraune Klamotten, streng aus dem Gesicht gekämmte graue Haare, sicher als Dutt am Hinterkopf zusammengedreht. So Anfang siebzig, schätzt Julia, obwohl, sie könnte auch erst um die sechzig sein.

Die Frau wendet ihr hageres Gesicht nun ihrer Begleiterin zu, sagt irgendetwas, worauf auch diese nun zu Julia herüberschaut.

Julia spürt, wie Ärger in ihr aufsteigt.

So ein unmögliches Benehmen. Wenn es um ihre auffallende Erscheinung geht, dann soll sie halt wegschauen. Julia ist daran gewöhnt, die Blicke wegen ihrer leuchtend roten Haare auf sich zu ziehen, doch sind diese meist bewundernd, wohlwollend, nicht ablehnend, fast hasserfüllt, wie jetzt.

Herausfordernd erwidert Julia den Blick, doch die Frau schaut sofort weg.

Kurz darauf steht sie abrupt auf, schleudert Julia noch einen wütenden Blick zu, legt Geld auf den Tisch, verabschiedet sich von ihrer Begleiterin und verlässt mit gehetzten Schritten das Café.

Als ob sie vor mir auf der Flucht wäre, denkt Julia und schaut der hageren Peron hinterher. Hoffentlich kein schlechtes Omen für meinen Islandaufenthalt! Julia läuft ein kalter Schauer den Rücken hinab. Nervös zupft sie an ihrem Zopf.

Sie greift zum Smartphone und schreibt ihrer Mutter eine WhatsApp:

Gerade eine merkwürdige Begegnung mit einer Frau gehabt. Hat mich entsetzt angeschaut, so als ob sie einen bösen Geist gesehen hätte.

Julia wartet, doch ihre Mutter antwortet nicht. Schade. Enttäuscht steckt sie ihr Handy in die Tasche.

Wolken bedecken mit einem Mal den Himmel. Woher sie so plötzlich gekommen sind? Das Wetter scheint hier schnell zu wechseln und mit dem Verschwinden der Sonnenstrahlen ist auch die laue Wärme weg. Julia schließt den Anorak, nimmt ihren Schal aus dem Rucksack und kuschelt sich hinein. Ein bisschen Geborgenheit. Ein Blick auf die Uhr. Es wird Zeit, langsam ins Hotel zurückzukehren. Bald gibt es Abendessen. Julia verlässt schnell das Café. Das leere Gefühl und ein Anflug von Heimweh drängen sie in die Sicherheit der Reisegruppe und des Hotels.

In ihrem Zimmer angekommen, fällt ihr Blick in den Spiegel. Eine bleiche Julia mit ängstlichen Augen schaut sie hilfesuchend an. Sie schüttelt bei ihrem Anblick ärgerlich den Kopf.

„Was ist denn los mit dir? Du wirst dich doch nicht von dieser unsympathischen Frau einschüchtern lassen?“, fragt sie ihr Spiegelbild streng. Sie ist schließlich hier, um Urlaub zu machen und sich wohlzufühlen. Sie wird sich ihre Ferien nicht von den dunklen Vorahnungen ihrer Mutter und erst recht nicht von dieser unfreundlichen Person vermiesen lassen! Punkt.

Sie begibt sich unter die Dusche. Das warme, nach Lavendel duftende Geriesel spült die dummen Gefühle weg.

Erfrischt, die Haare hochgesteckt, die Augen mit ein wenig Lidschatten und Mascara betont, schlüpft sie in hellgrüne Jeans und zieht eine weiße Spitzenbluse an. Wieder einen Blick in den Spiegel. Schon besser, findet sie, legt sich ein goldgrün gemustertes Plaid um die Schultern und verlässt beschwingt das Zimmer in Richtung Speisesaal. Ihr Magen knurrt erwartungsvoll. Sie ist gespannt auf ihre Reisegruppe. Hoffentlich sitzt sie mit netten Leuten an einem Tisch.

KAPITEL 4

Kristin

Kristin hastet zu ihrem Auto. Ihre zittrigen Hände haben Mühe, den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken. Kurz darauf fährt sie mit quietschenden Reifen los. Ihr Blick fällt auf den Tacho. Schnell nimmt sie den Fuß vom Gaspedal.

Der Schreck sitzt ihr in den Knochen.

Den ganzen Morgen hatte sie bereits gespürt, dass etwas passieren würde. Etwas Schicksalsträchtiges schwebte schon beim Aufwachen wie ein dunkler Schleier über ihr.

Nachdem der Sozialdienst Carl bei der Morgentoilette geholfen hatte, frühstückten sie zusammen. Wie immer schweigsam, von ein paar kurzen, nichtssagenden Sätzen abgesehen. Anschließend, wie jeden Morgen, lenkte Carl seinen Rollstuhl geschickt durch die geräumige Küche in sein Arbeitszimmer, wo er die nächsten Stunden verbringen würde. Als bekannter isländischer Schriftsteller schrieb er an seinem neuen Roman.

Kristin hätte ihm gern von ihrer dunklen Ahnung erzählt, doch so nahe standen sie sich schon lange nicht mehr, dass sie ihm Einblick in ihr Innenleben gewährt hätte.

Kristin blickte ihm schweigend hinterher. Er sah immer noch gut aus mit seinen lockigen, silbergrauen Haaren.

Sie hatten sich bei einer Vernissage kennengelernt. Kristin erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen.

Riesige Leinwände mit düsteren Farben und wirren Motiven hatten die kleinen Räume der Galerie in eine Höhle verwandelt. Entsprechend war die Luft dumpfig und warm. Die Gäste drängten sich um den Laudator, der mit seinen Lobeshymnen auf den Künstler kein Ende zu finden schien.

Kristin trat unruhig von einem Bein auf das andere und schielte immer öfter zum Ausgang. Warum war sie nur mitgegangen, fragte sie sich, krempelte die Ärmel ihrer Bluse hoch und fächerte sich mit der Einladungskarte frische Luft ins Gesicht.

„Ach komm doch mit. Du kannst nicht jeden Abend deine Nase in irgendwelche Kitschromane stecken. Du versauerst ja langsam. Draußen spielt sich das wahre Leben ab“, hatte ihre Freundin Eva auf Kristins Absage geantwortet. Womit sie Recht hatte. Kristin verbrachte ihre Wochenenden gewöhnlich auf dem Sofa, las und träumte von ihrem Traummann.

„Vielleicht findest du deinen Prinzen ja heute Abend. Bei Vernissagen kannst du interessante Typen kennenlernen“, hatte die Freundin gelockt und sie schließlich überredet.

Kristin musste hier raus. Sofort. Fast panisch bahnte sie sich den Weg zum Ausgang, übersah eine Stufe und fand sich an der Brust eines Mannes wieder, der bis dahin lässig an einer Säule gelehnt hatte. Carl, groß, schlank, längere braune Haare und ein sympathisches Lächeln.

Über Kristins Gesicht huscht ein Lächeln, als sie die Szene wieder vor sich sieht.

Sie verließen gemeinsam die Galerie und Carl lud sie auf ein Glas Rotwein ein. Sie tauschten zwar ihre Telefonnummern aus, doch sie dachte nicht im Traum daran, dass er sich tatsächlich schon am nächsten Tag bei ihr melden würde.

Kristin hatte sich nie etwas vorgemacht. Sie war nicht hübsch. Groß, hager, mit kantigem Gesicht, aschblonden, dünnen Haaren und graugrünen Augen. Welch ein Unterschied zu ihrer Stiefschwester Elin mit ihrer zierlichen Figur, der langen, roten Mähne, den strahlenden grünen Augen, und dem herzförmigen Gesicht.

Das hässliche Entchen neben einem wunderschönen Schwan. So hatte sie sich immer gefühlt.

Und nun war Elin zurückgekommen. In junger Ausführung. Die Vergangenheit ist wieder lebendig geworden.

Hafnarfjördur.

Kristin wäre beinahe an dem Ortsschild vorbeigefahren. Sie drosselt das Tempo und biegt in den Ort ein.

Die Straße führt um größere und kleinere Lavafelsen herum. Elfenwohnungen.

Kristin liebt diesen Ort. Für sie besitzt er etwas Magisches, Geheimnisvolles.

Sie hält vor einem hellblauen Wellblechhaus. Ihre Hände zittern so stark, dass sie Mühe hat, die Haustür aufzuschließen.

Sie wirft ihre Jacke auf einen Stuhl und stürmt in das Zimmer ihres Mannes.

„Carl, ich muss dir was erzählen“, stößt sie atemlos hervor.

Carl, der mit dem Rücken zur Tür sitzt, schrickt zusammen. Unwillig über die Störung dreht er sich zu ihr um.

„Musst du so reinstürmen und mich erschrecken? Was ist denn passiert?“ Er blickt Kristin unwillig an.

„Sie ist wieder da“, keucht sie. „Jetzt kommt das Unglück zurück.“ Kristin beginnt, aufgeregt hin und her zu laufen.

Sie sieht aus wie eine Vogelscheuche, denkt er und versucht, die lieblosen Gedanken zu verdrängen. „Von wem sprichst du denn?“

„Von Elin natürlich, von wem denn sonst.“

„Würdest du dich vielleicht setzen und mir in aller Ruhe erzählen, um was es eigentlich geht?“ Hoffentlich ist sie bald fertig. Er möchte endlich an seinem Kapitel weiterschreiben. Er kämpft seinen Ärger nieder und ringt sich zu einem freundlichen Lächeln durch.

Kristin lässt sich in den schweren Ledersessel vor seinem Schreibtisch fallen. Wann hat sie hier zum letzten Mal gesessen und hat sich von Carl aus einem neuen Kapitel vorlesen lassen? Merkwürdig, dass gerade jetzt dieser Gedanke auftaucht. Sie verscheucht ihn ohne Antwort wie ein lästiges Insekt. Daran ist nur Elin schuld! Kaum ist sie wieder auf der Insel, schon mischt sie sich in ihr Leben ein. „Aber Elin ist doch gar nicht auf Island“, entgegnet ihre innere Stimme leise.

„Elin ist wieder da, das heißt nicht sie selbst, sondern ihre Tochter. Auf jeden Fall sieht sie Elin sehr ähnlich.“

Carl schaut sie an. Seine rechte Augenbraue hebt sich ein wenig.

Kristin spürt, wie Hitze in ihr aufwallt. „Du glaubst mir nicht, das sehe ich dir an!“

„Lass uns nicht streiten, erzähl einfach.“

„Ich habe mich heute mit Anna getroffen, du weißt schon, mit meiner Freundin aus Deutschland.“

Carl nickt und versucht, die Ungeduld zu unterdrücken.

„Wir sind ins Café gegangen und da habe ich sie gesehen. Elin in junger Ausführung. Dieselben roten Haare, die grünen Augen und so weiter. Da gibt es keinen Zweifel! Es muss ihre Tochter sein. Ich habe gedacht, mich trifft der Schlag.“ Kristin holt tief Luft. „Ich habe heute Morgen schon gespürt, dass etwas Dunkles in der Luft liegt.“ Sie fuchtelt wild mit den Händen.

„Hast du sie angesprochen?“

„Was? Spinnst du? Ich will mit Elin und ihrer Brut nichts zu tun haben. Sie hat schließlich unser Leben zerstört. Auf was für Ideen du kommst! Ansprechen, ha!“ Kristin wirft ihrem Mann einen funkelnden Blick zu und schüttelt aufgebracht den Kopf. „Es darf niemand erfahren, dass sie auf der Insel ist. Hörst du? Niemand! Versprich mir das!“ Sie greift über den Schreibtisch nach Carls Arm und drückt ihn fest. Wie muskulös und stark er ist. Eine leise Sehnsucht erfüllt sie.

Carl schüttelt ihre Hand unsanft ab. „Du meinst Steinunn und Soley, nicht wahr?“ Seine Stimme ist schneidend.

Kristin zuckt kurz zusammen, dann richtet sie sich kerzengerade auf. „Genau, die meine ich. Sonst geht alles wieder von vorne los. Sie gehört nicht mehr in unser Leben, hat eigentlich noch nie zu uns gehört.“

„Du machst mich krank mit deiner ewigen Eifersucht und mit deinem Hass auf deine Schwester.“

„Stiefschwester“, korrigiert sie ihn sofort.

„Du hast unser ganzes Leben damit vergiftet.“ Er spricht leise, mehr zu sich selbst: „Und ich kann und mag nicht mehr.“

„Wie meinst du das? Schließlich war sie es, die Unglück über uns alle gebracht hat.“ Ihre Stimme klingt schrill. „Was machst du da?“

Carl antwortet nicht, sondern greift zum Telefon.

„Wen rufst du an?“

Carl schüttelt unwillig den Kopf. „Hallo Soley“, sagt er stattdessen mit seiner ruhigen, dunklen Stimme.“

Kristin macht Anstalten, ihm das Telefon zu entreißen.

„Wage es ja nicht“, zischt er.

„Soley, Kristin hat heute höchstwahrscheinlich Elins Tochter in Reykjavik gesehen.“

Am anderen Ende herrscht für einen Moment Stille.

„Soley, bist du noch dran?“

„Was sagst du da? Ihre Tochter? Kommt sie hierher? Soll ich es Mutter sagen?“ Soley sprudelt wie eine Mineralquelle.

„Wir wissen nicht, wo sie abgestiegen ist, ob sie es überhaupt ist. Kristin hat sie leider nicht angesprochen. Sag also Steinunn noch nichts davon. Sie würde sich nur unnötig aufregen.“

„Sie hat sie einfach gehen lassen, ohne sie anzusprechen?“ Soley ist fassungslos.

„So ist es. Immer das alte Lied“, seufzt Carl.

„Dann werden wir sie also nicht treffen?“ Soley klingt geknickt.

„Ich weiß es nicht, doch ich habe da so eine Idee“, verkündet Carl und zuckt zusammen, als Kristin die Tür hinter sich zuschlägt. Dann weiht er seine Schwägerin in seinen Plan ein.

Kristin lässt sich in ihrem Zimmer schluchzend auf ihr Bett fallen. Angst, Hass, Verunsicherung und Eifersucht erfassen sie wie eine mächtige Welle und tragen sie mit sich fort. Als sie wieder an Land geschwemmt wird, übernimmt die kleine Kristin die Führung.