Brave Tochter, altes Kind

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Brave Tochter, altes Kind
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Susanne Kilian

Brave Tochter, altes Kind

Wenn Eltern nur noch fordern

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Das Medaillon

Der Geburtstag

Die Reise

Noch einmal das Medaillon

Hilfen

Notarzt mit Folgen

Geld

Pause

Reha und Anhörung

Wieder zu Hause

Alltag

Weihnachten

Missverständnis

Nacht zum Fürchten

Der Morgen

Kurzzeitpflege

Ohne ein Wort

Nach Hause

Ordnung machen

Chefbehandlung

Feste feiern

Turbulenzen

Der Anfang …

… vom Ende

Nachwort

Impressum neobooks

Das Medaillon

Ich sehe gar nicht ein,

warum man gegen Ungerechte

gerecht sein soll.

Goethe

Ich bin jetzt fünfzig Jahre alt.

Und was schenken mir meine Eltern aus diesem Anlass?

Endlich das Silberbesteck, das mir meine Oma schon als Kind versprochen hat.

Und was noch?

Ein silbernes Medaillon.

Wenn ich es aufklappe, lächelt mich links meine Mutter und rechts mein Vater an.

Zwischen Girlanden sind auf der Vorderseite drei Buchstaben eingraviert:

M. P. S.

Mama. Papa. Susel.

Wunderbar.

Darüber soll ich mich freuen!

Schwarz könnte ich mich ärgern.

Dieses Silberbesteck hätte ich in all den Jahren so gut gebrauchen können.

Dieses grässliche Medaillon an seinem Silberkettchen.

Soll ich mir meine Eltern auch noch um den Hals hängen, damit ich sie mir immer ansehen kann?

Ich hab sie doch sowieso schon am Hals.

Seit langem bin ich verheiratet, habe Kinder und gerade ist mein erstes Enkelkind geboren.

Ich bin Nachtwache in einem Altenheim und lebe mein Leben so nebenbei.

Denn an erster Stelle bin ich ihre Susel, das alte Kind.

Ich habe nach den Bedürfnissen meiner Eltern zu leben, nicht nach meinen.

Wenn sie rufen, habe ich zu springen; ist ja sonst keiner da.

Trotzdem können sie mir jederzeit mit was auch immer ein schlechtes Gewissen machen.

Sinn und Zweck meiner Existenz ist das Wohl meiner Eltern.

Niemals kämen sie auf die Idee, mich zu fragen, wie es mir dabei geht.

Ich starre die drei Buchstaben M. P. S. an und weiß, dass ich das Ding nie tragen werde.

Aber ich kann es nicht einfach im Rhein versenken, was ich am liebsten tun würde.

Bestimmt werden sie bei irgendeinem ihrer Besuche danach fragen.

Also wickle ich es in ein Taschentuch und lege es zu meinem Schmuck.

So sehe ich es nicht und es soll meine Sachen nicht berühren.

Ja, ich habe gelitten, leide und werde weiter leiden, weil sie mich unter ihrer Fuchtel haben.

Nein, ich weiß nicht, wie ich mich aus ihren Fängen befreien könnte.

Einmal in der Woche gehe ich mit meiner Mutter einkaufen.

Ich begleite beide bei jedem Arzttermin, der ansteht.

Jeden Abend zwischen achtzehn Uhr und achtzehn Uhr dreißig rufe ich pflichtschuldig an.

Wo immer ich bin, was immer ich tue.

Auch aus dem Urlaub.

Natürlich feiern wir zusammen sämtliche Familienfeste und ebenso natürlich, ob Geburtstag, Weihnachten oder sonst was, die Stimmung ist immer angespannt.

Was kriegen sie dieses Mal in die falsche Kehle?

Über welches Familienmitglied regen sie sich heute auf?

Weil es sich falsch benimmt? Das Falsche sagt? Das Falsche an hat?

Jedes Mal ein Horror, wenn der Besuch meiner Eltern bei uns fällig ist.

Der gleiche Horror, wenn etwas im Haus meiner Eltern zu feiern ist.

Wenn es irgendwie geht, drückt sich jeder.

Da stehe ich ganz allein auf weiter Flur.

Ob in der Vergangenheit, jetzt oder in der Zukunft, jedes Fest im Haus meiner Eltern läuft in den letzten Jahren haargenau nach dem gleichen Schema ab.

Das sind meine „Schnittchentage".

Da bin ich fast den ganzen Tag bei meinen Eltern.

Mein Mann bringt mich hin, gratuliert und macht sich - so schnell es geht - aus dem Staub.

Sohn oder Tochter kommen, gratulieren und sind verschwunden.

Oder sie rufen an.

Oder sie rufen nicht an.

Weil sie es vergessen haben oder was weiß denn ich … das ist natürlich unmöglich.

Und wer kriegt dann den ganzen Tag das Gejammer ab?

Klar.

Nächsten Monat steht der Geburtstag meiner Mutter an.

Ab und zu schleichen sich Bemerkungen dazu in die allabendlichen Telefongespräche ein.

Etwa die ewige Frage:

„Wer kommt?"

Aber es ist ja noch Zeit.

Die Tischdecken wird sie schon mal sichten.

Auch Gläser und Geschirr im Schrank schon mal durchspülen.

Das muss ja alles sauber sein.

Wenn man in den Schrank greift und da wäre was staubig, weil ewig nicht gebraucht …

Nicht auszudenken.

Vielleicht macht sie eine Torte?

Vielleicht belegt sie einen Obstboden?

Ich fasse es nicht, das ist immer das Gleiche.

Muss sie ständig ihre genauesten Anweisungen geben?

Könnte sie mich nicht einfach mal machen lassen, wie ich mir das denke?

Das würde mir viel Zeit sparen.

Keine tagelanges Geschwätz, nein, nicht am Telefon.

Da habe ich gefälligst bei ihnen anzutanzen.

Und dann machen wir doch wieder wie eh und je die vermaledeiten „Schnittchen".

Aber es hilft ja nichts.

Morgen ist es wieder so weit.

Eine Woche vor ihrem Geburtstag.

Und wir werden eine Woche lang von nichts anderem reden.

Der Geburtstag

Same procedure as …

Wir sitzen in der Küche und sind wie vor jedem Fest beim ewig gleichen Thema.

Da lagert teurer Wein und kostbarer Sekt im Keller.

Den muss man endlich mal trinken.

Ich lege keine Flasche kühl und kippe das Zeug nachher weg.

Der Keller ist zu warm, die Sachen sind nicht optimal gelagert und mit Sicherheit untrinkbar.

Meine Eltern werden das nie einsehen.

Aber weil sie sich nicht blamieren wollen und ich mich standhaft weigere, erkämpfe ich mir am Ende doch die Erlaubnis, Wein und Sekt zu kaufen.

Das ist wenigstens auch für dieses Mal klar.

Wer kommt?

Kommt überhaupt jemand?

Ich kann’s wirklich nicht mehr hören.

Natürlich kommt immer irgendjemand.

Auf den Einkaufszettel gehören:

Kräcker. Spundekäs'. Trauben.

„Kauf nur keine kernlosen, die schmecken ja nicht."

Wären für mich aber bequemer. Sie braucht die anderen ja nicht zu entkernen.

„Also in zwei Farben. Blau und grün. Die mit Kernen sind auch größer. Kauf die."

Na eben.

Wie immer.

Die kommen auf die mit rosa Spundekäs' bestrichenen Kräcker.

Ich hätte lieber runde, sie besteht auf TUC von ALDI.

Sekt. Orangensaft. Orangensaft mit Sekt. Wasser? Wein?

„Wie Wasser? Wein? Also wirklich! Das trinkt man doch nicht beim Empfang. Wer soll das da schon trinken? Wenn überhaupt jemand kommt. Wasser und Wein gibt’s nicht beim Empfang. Das gibt’s erst später. Wenn jemand kommt."

Tja dann.

Die Schnittchen reicht man auch erst um Viertel vor zwölf und in keinem Fall zusammen mit den Kräckern.

 

Ja, das kenn ich.

Und dann wird jeder hin und her und vor und zurück genötigt, bis alle aufgegessen sind.

Ein Theater ist das immer.

Peinlich.

Für die Schnittchen schreibe ich endlos lange Listen:

„Unbedingt Hackepeter. Ja. Den isst dein Vater so gern. Der muss sein. Da machst du dann wieder ganz ganz dünne Zwiebelringelchen drauf. Wenn die zu dick sind, kann man die nicht richtig kauen, viel zu hart. Gekochten Schinken auch, dünn geschnitten, aber bloß nicht zu dünn. Der fällt sonst auseinander. Und Kaiserfleisch. Das auch dünn geschnitten. Bring nur keinen rohen Schinken mehr, der ist ja nicht zu beißen mit unseren Zähnen. Nein. Auch hauchdünn geschnitten nicht. Wie sieht das denn aus, da denken die Leute, die kommen, wir wären geizig. Nein. Lass den weg. Gut wäre eine feine Salami. Aber nicht wieder so scharf! Letztes Mal war die viel zu scharf. Guck mal nach einer anderen. Die muss aber hauchdünn geschnitten sein. Da kannst du ja dann drei oder vier Scheibchen drauf legen. Und Silberzwiebelchen. Nicht so groß, die ganz ganz kleinen."

Als ob es riesige Silberzwiebeln gäbe. Gürkchen. Maiskölbchen.

„Lass nur den eingelegten roten Paprika weg. Der liegt so schwer im Magen, den verträgt auch nicht jeder. Wenn überhaupt jemand kommt. Ach, dass man auch nie weiß, wer kommt …“

„Ihr ladet ja auch nie jemand ein, dann wüsste man das besser …"

„Also Susel. Das haben wir noch nie gemacht. Wer kommt, kommt. Nur wenn jemand kommt, wann kommt er dann? Na vor elf Uhr glaub ich ja nicht. Manchmal kommen die aber auch schon früher, so um zehn Uhr. Da muss alles fertig sein. Dein Vater aus dem Bett und gefrühstückt. Die Kräcker machst du ja immer erst hier. Die weichen sonst durch. Da darfst du aber nicht zu spät kommen. Ja wann kommst du denn überhaupt?"

Sie wird ja dann gar keine Ruhe haben, muss ständig ans Telefon rennen, an die Tür …

Ach, und dass mein Vater dann auch noch Ende des Monats Geburtstag hat, da darf sie jetzt gar nicht dran denken.

Mein Gott.

Mir wäre es auch lieber, wenn die zwei stressigen Schnittchentage mehr übers Jahr verteilt wären. Hat aber den Vorteil, dass ich nach diesem Monat erst mal wieder Luft holen kann. Aber mich fragt hier sowieso keiner.

„Das Brot. Kauf kein Weißbrot. Nimm das Dreikorn. Du schneidest das doch wieder in Dreiecke? Petersilie. Tomaten. Nimm nur die ganz kleinen. Obwohl … da ist die Schale so hart. Na, nimm sie trotzdem. Die sehen hübsch aus. Fällt dir jetzt noch was ein? Du garnierst das doch alles wieder so schön? Mach nur nicht so viel. Du machst immer viel zu viel. Wer soll das denn essen, wenn niemand kommt?"

Ich möchte sie nicht hören, wenn ich zu wenig machen würde.

Nein, mir fällt jetzt auch nichts mehr für die Schnittchen ein.

Was ist mit dem Kuchen zum Kaffee?

„Ich würde so gerne wieder mal eine Torte machen. Aber die Marianne sagt, sie schenkt mir dieses Jahr eine. Die macht sie auch selbst. Sogar den Tortenboden. Hoffentlich ist die dann auch so gut wie meine immer. Hausgemacht ist am besten. Soll ich nicht doch am Vormittag einen Tortenboden belegen? Könnte ich doch machen. Schön frisch. Hausgemacht."

Möchte mal wissen, was an ihrem ewigen blöden Aprikosenkuchen hausgemacht ist.

Obstboden von ALDI. Aprikosen aus der Dose auch und der Fertig-Tortenguss ebenfalls.

Ganze zehn Minuten brauche ich, um sie davon abzubringen.

Schon allein die Vorstellung:

Ich fabriziere in der Küche die Kräcker.

Ständig klingelt das Telefon oder es klingelt an der Haustür.

Und mein Vater rennt, die Arme in die Luft werfend, wie ein kopfloses Huhn zwischen Toilette und Küche hin und her.

„Vielleicht reicht ja auch die Torte von der Marianne. Wahrscheinlich kommt niemand. Die kommen entweder zum Geburtstag von mir oder zu dem von deinem Vater. Ach, wenn der nur auch schon rum wäre …"

Womit wir wieder beim Thema wären.

Und was gibt’s am Abend?

Ach, am Abend.

Da sind wir doch alle zu müde, wir essen die restlichen Schnittchen auf, niemand hat nach dem Kaffeetrinken richtig Hunger, sind doch immer Schnittchen übrig.

„Und du hebst alle Rechnungen auf. Bevor du dann gehst, dürfen wir nicht vergessen abzurechnen. Heb nur alles auf, damit du dein Geld kriegst. Und mach nur nicht wieder so viel. Ach, das wird alles wieder so unruhig. Das ist immer so anstrengend für uns. Am liebsten würde ich gar niemand sagen, dass ich Geburtstag habe. Aber die wissen das ja alle. Und dann kommen die auch. Vielleicht kommt auch niemand … Ach, wenn der Tag nur schon vorbei wäre."

Ja.

Das wünsche ich mir allerdings auch.

Und dass du mir vielleicht einfach mal hundert Euro in die Hand drückst und sagst:

„Mach mal. Du wirst das schon gut machen."

Dann müsste ich mir hier nicht den ganzen Nachmittag dieses Geschwätz Werkommt, Kommtjemand, Kommtniemand anzuhören.

Am Nachmittag vor dem Geburtstag einkaufen und abends vorbereiten.

Trauben entkernen, halbieren, grüne und blaue getrennt in Plastikdosen und Deckel zu.

Silberzwiebeln abtropfen lassen, Gewürzgurken abtropfen, kleinschneiden, Maiskölbchen kleinschneiden, Tomaten waschen, durchschneiden und alles in kleine siehe oben …

Die Petersilie steht im Wasser.

Der Belag wartet im Kühlschrank auf seine Verwendung.

Statt noch früher aufstehen zu müssen, damit die Butter sich gut schmieren lässt, nehme ich jetzt schlauerweise Remoulade aus der Tube für das weiche Dreikornbrot.

Am Geburtstagsmorgen geht’s dann schon zu Hause rund.

Brot bestreichen, einmal diagonal durch und belegen.

Der Metzger hat Papierblättchen zwischen Schinken- und Salamischeiben gemacht.

Ich könnte ihn dafür küssen.

Dieser blöde Hackepeter mit seinen fitzeldünnen Zwiebelscheiben.

Ich hab immer Angst, dass das Zeug schlecht ist, bis es gegessen wird.

Aber egal zu welchem Anlass, mein Vater besteht auf seinen Hackepeter.

Mir wird gar nicht besser, wenn ich an den vor mir liegenden Tag denke.

Zwei große Platten sind voll und ausgarniert, ab in die Schachteln.

Restlichen Garnierkram einpacken, TUC, Spundekäs', Trauben, Geschenke, Tortenspitze, Blumen.

Hab ich alles?

Ab zum Konditor, Kuchen holen. Ist ja lachhaft, dass meine Mutter außer der Torte keinen mehr braucht. Sie gibt doch jedem ein Kuchenpäckchen mit.

Jetzt los.

Kurz vor der Autobahnauffahrt: Schrecksekunde.

Ich hab den restlichen Schinken, die Salami usw. vergessen, um dort weiter Schnittchen zu schmieren, da brauche ich Nachschub.

Umkehren, zurück.

Als ich das Zeug aus dem Kühlschrank hole, würde ich am liebsten zu Hause bleiben.

Jetzt reiß dich zusammen, heute Abend bist du ja wieder hier.

Gut, dass ich jetzt gemerkt habe, dass was fehlt, und nicht erst bei meinen Eltern.

Was für ein Nebel und der verspricht einen sonnigen Tag.

Wo stelle ich da die blöden Schnittchen hin?

Immer in Reichweite sollen die sein; auf dem Terrassentisch ist es jetzt noch schattig und kühl, aber später wird er die pralle Sonne abkriegen.

Ach, das werde ich doch dann alles sehen.

Nur die Ruhe.

Dieser Tag hat auch nicht mehr Stunden als jeder andere.

Auch wenn ich versuche, mir das klarzumachen, helfen tut es nicht.

Ich beneide alle Leute, die heute am Haus meiner Eltern vorbeigehen und nicht rein müssen.

Ich beneide sogar die Rosenbüsche im Vorgarten, weil sie stehen bleiben können.

Los, ab, rein, ich klingle.

Hab aber keine Geduld, endlos zu warten, bis mir aufgetan wird.

Mein Mann und ich stellen Kartons, Kuchenschachteln, Blumen und so weiter vor der Haustür ab und ich schließe auf. Keiner lässt sich blicken und so schließe ich auch die Wohnungstür auf und gehe in die Küche.

Da sitzen sie in trauter Eintracht noch beim Frühstück.

Das Geburtstagskind im Morgenrock, der Gatte im Schlafanzug.

Aber Leute, es ist halb zehn, warum sollte ich eigentlich so früh auf der Matte stehen?

„Ei, du bist ja schon da!!!"

Riesenverblüffung.

Mein Klingeln haben sie anscheinend nicht gehört und jetzt fängt das Telefon an zu bimmeln.

Na, da kommt aber Leben in die Bude.

Das Affentheater geht los.

„Te-le-fooon!"

Brüllt mein Vater los, obwohl meine Mutter ihm genau gegenüber sitzt; er springt auf.

„Schrei doch nicht so! Ich hör’s doch!"

Sie springt auf und er macht eine skurrile Drehung, weil er beinah über den Stuhl fällt.

Wütend schreit meine Mutter:

„Jetzt pass doch auf!"

Gemeinsam eilen sie aus der Küche ins hintere Wohnzimmer, wo das Telefon steht.

Die sind erst mal beschäftigt.

Ich trage derweil meine Schnittchenkartons raus auf den Terrassentisch, noch ist es dort kühl.

Die anderen verderblichen Sachen räume ich in den Kühlschrank.

Mein Mann trägt die Kuchenschachtel in den kühlen Keller.

Mein Vater ist inzwischen schon wieder im Flur, stürzt zur Wohnungstür und ruft ins Treppenhaus:

„Wer ist denn da?"

Mein Gott.

Er hat meinen Mann und mich vorhin im Flur gesehen, wer sollte denn jetzt sonst da sein?

Meine Mutter hat fertig telefoniert.

Endlich können wir ihr gratulieren und die Geschenke überreichen.

„Ihr sollt doch nicht so viel schenken. Eieiei. Ja. Die Gesundheit ist das Wichtigste. Ach nein, was hast du denn da für riesige Blumenstöcke gebracht? Wo stelle ich die denn hin? Da muss ich gleich mal auf meiner Fensterbank gucken. Jesses, du bist ja immer noch im Schlafanzug."

„Nicht doch."

Mein Vater verschwindet im Bad.

Sie ist aber selbst noch im Morgenrock.

Aber wie sie versichert, ist sie gewaschen, gekämmt, war auf der Toilette und hat alles drunter schon an bis auf ihr Kleid.

Mein Mann trollt sich, ich bringe ihn zum Auto; na, bis heute Abend; der hat es gut.

Wieder drin, gehe ich ins vordere Wohnzimmer, da ist der Tisch schon ausgezogen und die längste und breiteste Tischdecke liegt auf. Gläser, Teller, Besteck und Servietten stehen auf der Anrichte bereit. Soviel zu „kommt überhaupt jemand?".

Gleich kann ich mich den Kräckern widmen, wird auch Zeit.

Friedliche Stille.

Meine Mutter ist im Schlafzimmer.

Mein Vater immer noch im Bad.

Telefon.

Türklingel.

Mein Vater reißt die Badezimmertür auf und brüllt:

„Telefooon! Es klingelt! Nun geh doch einer mal …"

„Herrgott, ich komm ja schon!"

Wütend reißt sie die Schlafzimmertür auf und rast ohne Morgenmantel im Korsett und auf Strümpfen zum Telefon.

Inzwischen bin ich längst an der Tür.

Da steht ganz verschüchtert die Mieterin von oben, Frau Grabert.

Hier ist aber auch ein Gebrüll!

Eigentlich müsste sie das gewöhnt sein, seit Jahrzehnten wohnt sie hier.

Sie wollte nur fragen, wann es recht ist, zum Gratulieren zu kommen; und weg ist sie.

Mein Vater verschwindet kopfschüttelnd im Schlafzimmer:

„Kinder, Kinder. Nee!"

Meine Mutter ist immer noch am Telefon, sie quatscht mit einer alten Schulfreundin.

Ich schaue nach, ob genügend Sekt und Orangensaft kühl liegen.

Dann mache ich mich mit Kräckern, Spundekäs' und halbierten Trauben ans Werk.

Sind sie denn nun fertig mit Frühstück oder nicht?

Ich schiebe mal einfach alles zur Seite.

Mein Vater erscheint als Erster, komplett angezogen jetzt.

„Hach, ich war doch noch gar nicht fertig. Ist das mein Kaffee? Wo sind denn meine Tabletten? Wo ist denn die Mutti?"

Am Telefon, telefoniert mit der Maja.

„Menschenskinder. Nee, die Maja, die findet ja nie ein Ende!"

Er wirft die Arme in die Luft.

Dann richtet er seinen ausgestreckten Zeigefinger auf mich und sagt anklagend:

„Das muss man sich mal vorstellen. Am Geburtstag. Und da ruft der Fritz schon um halb acht in aller Herrgottsfrühe an. Am Geburtstag! Nee!"

Das „Nee“ spuckt er regelrecht aus und setzt bekümmert seine Kaffeetasse an den Mund.

„Telefoniert sie denn immer noch mit der Maja? Das ist ja furchtbar heute. Und wo sind denn meine Pillen?"

 

Jetzt erscheint meine Mutter auf der Bildfläche, endlich auch fertig angezogen.

„Ach. Ich hab ja noch gar nicht fertig gefrühstückt; mein Kaffee. Die Post … sag mal, hast du schon nach der Post …"

„Ja, wann soll ich denn? Wie soll ich denn? Ich hab ja meine Pillen noch gar nicht; mein Kaffee ist gleich alle."

„Du kannst die Pillen doch einmal selbst holen, hier nebendran liegen sie doch. Das ist doch wirklich nicht zu viel verlangt!"

„Mein Gott. Also wirklich."

Genau das werde ich mir den ganzen Tag anhören müssen.

Immer in erhöhter Lautstärke.

Keine Sekunde vergeht, in der nicht einer der beiden quasselt.

So.

Sekt, Orangensaft und Kräcker haben wir jetzt ohne größere Nötigungen durch.

Frau Grabert ist da und Bekannte aus der Nachbarschaft, na immerhin.

Das nächste Highlight sind die Schnittchen.

„Könnte ich mal von dem Hackepeter? Ich seh doch nix."

Ich habe die Platte genau vor ihn hingestellt, man kann den Hackepeter unschwer an den Zwiebelringen erkennen.

„Wo? Na, nun gib mal drauf."

Er braucht wirklich nur die Hand auszustrecken; na gut, geb ich’s ihm auf den Teller.

Alle schwatzen munter durcheinander.

Dem Geburtstagskind sieht man zwar an, dass ihm das Freude macht, aber wegen ihrer Schwerhörigkeit wird sie bei dem Stimmengewirr wie immer nur „Bahnhof" verstehen.

Die Schnittchen schwinden dahin.

„Könnte ich jetzt endlich auch mal von dem Hackepeter?"

Da hat meine Mutter Pech.

Ich hatte schon gesehen, wie die Hand meines Vaters über das Tischtuch tastete und immer die richtigen Schnittchen traf.

Still und emsig hat er fast alle aufgegessen.

„Kann ich jetzt von dem Kochschinken? Tu mal drauf!"

Er hält mir seinen Teller hin.

Hat meine Mutter vorhin nicht gesagt, ich hätte wieder viel zu viel gemacht und wer das alles essen soll? Viel bleibt hier nicht übrig, ich muss nachher neue machen für heute Abend.

Die Besucher sind weg, werden aber zum Kaffeetrinken wieder kommen.

Vielleicht kann ich mich mal für fünf Minuten allein auf die Terrasse in die Sonne setzen.

Weit gefehlt.

Erst muss ich unter Anweisung meiner Mutter abräumen.

Sie lässt nicht locker.

„Nein. Tu das nicht hinten in den Kühlschrank, das kommt hier unten hin. Wo ist denn der Sekt? Wie viel haben die denn … nur eine halbe Flasche? Ach so. Eine ist leer und das ist die zweite. Ach so. Na dann. Warum tust du denn den Löffel umgekehrt in die Flasche rein? Damit die Kohlensäure nicht raus geht? Aber Ssussell. Wir haben doch so einen schönen Sektflaschenverschluss! Den kriegst du nicht drauf? Ich hol den mal und mach den drauf. Was sind denn das hier für Päckchen? Wie? Schnittchenbelag für heute Abend? Aber da kommt doch niemand mehr. Ach, für uns? Aber da sind doch noch welche übrig. Was, das sind nur noch drei? Also, ich esse heute Abend sowieso nichts. Wo ist denn der Kuchen? Wieso ist der nicht im Kühlschrank? Ach, der ist unten im Keller. Ich weiß nicht … mit meinem Magen. Ach, ich bin so unruhig. Brauche ich nicht sein? Na, du machst mir Spaß. Ich weiß ja, dass du das alles machst. Aber mein Magen. Ich glaube, ich koche mir ganz schnell einen Magentee. Ich bin so unruhig. Wenn der Tag doch nur schon vorbei … Hoffentlich kommt die Marianne mit der Torte rechtzeitig. Hoffentlich schmeckt die auch. Ich mache jetzt erst mal den richtigen Verschluss auf diese Flasche. Dass du den aber auch nicht drauf …"

Sie steht die ganze Zeit mit der Sektflasche in der Hand vor dem offenen Kühlschrank und hält ihren Monolog.

Zack.

Die Kühlschranktür fliegt vor ihrer Nase zu, beinah wäre ihr vor Schreck die Flasche aus der Hand gefallen.

„Also! Mach doch den Kühlschrank zu!"

Weder sie noch ich haben meinen Vater kommen hören.

„Sowas! Jetzt erschreck mich doch nicht so! Warum knallst du denn den Kühlschrank einfach zu? Wir müssen doch hier was gucken. Jetzt geh doch mal aus den Füßen! Leg dich lang! Du kannst hier sowieso nichts machen! Leg dich lang auf deinen Sessel!"

Sie reißt den Kühlschrank wieder auf.

Wahrscheinlich bleibt der Kühlschrank jetzt nur noch aus Trotz offen, während sie die Flasche ordentlich verschließt und wieder zurück stellt.

Dann verkündet sie:

„So. Und jetzt spüle ich."

Denn dies ist ein Haushalt ohne Spülmaschine.

Um Himmelswillen, bloß das nicht.

Den Magentee hat sie anscheinend vergessen.

Ich rede auf sie ein wie auf einen kranken Hund, sie soll sich auch hinlegen, ein bisschen ausruhen.

Nein.

Kann sie nicht.

Und wenn das Telefon …?

Soll sie sich doch einfach nebenan auf die Couch legen, dann kann sie gleich rangehen.

Mein Vater hat sich inzwischen aus dem Staub gemacht.

Nachdem sie mir genaueste Anweisungen gegeben hat, welches Geschirr ich nehmen soll und wie ich den Kaffeetisch zu decken habe, legt sie sich endlich auch hin.

Hoffentlich kommt die Marianne pünktlich.

Die Torte.

Ja.

Jetzt ist aber gut.

Ich werde doch endlich in Ruhe spülen können?

Den Tisch decken?

Noch ein paar von den verdammten Schnittchen für den Abend machen können?

Für den Augenblick herrscht himmlische Ruhe.

Sie liegt hinten und er vorne lang.

Beide die Augen geschlossen.

Sie nehmen keine Notiz von mir, als ich das gespülte Geschirr wegstelle und das Kaffeegeschirr raus räume.

Ich hätte nichts dagegen, wenn das so bliebe, bis die Nachmittagsgäste eintrudeln.

In der Küche stelle ich mir Brot, Schinken, Gurken und so weiter zurecht und mache mich in dieser erholsamen Stille an die Arbeit.

Das muss mein Vater sein, er schleicht durch den Flur. Na, vielleicht muss er nur mal zur Toilette. Genau. Aber irgendetwas wurstelt er doch da herum, als er rauskommt.

„Susi! Wir müssen doch noch die Post … Susi!"

Ich lasse Schnittchen Schnittchen sein und fege in den Flur.

Das darf doch nicht wahr sein!

Da hat er die Tür aufgerissen, steht mit der Post in der Hand vor meiner friedlich auf dem Sofa eingeschlafenen Mutter und schwätzt auf sie ein.

„Herbert! Das hat doch Zeit! Ich war gerade so schön eingeduselt! Was hast du mich jetzt erschreckt! Richtig Herzklopfen hab ich!"

„Aber wir müssen doch die Post … Lies doch mal vor, lies doch endlich, bevor gleich wieder jemand kommt. Hier. Hach, ich seh doch nichts!"

„Also … du bist aber wirklich … wo ich gerade so schön eingenickt war!"

Bis jetzt hat noch keiner gemerkt, dass ich in der Tür stehe.

So eine Unverschämtheit, die Frau aufzuwecken.

Er lässt sich umständlich auf dem Sessel ihr gegenüber nieder.

Von wegen nichts sehen.

Die Briefumschläge hat er schon aufgemacht, wahrscheinlich alle unangenehmen Sachen raus sortiert, einschließlich der Kontoauszüge von der Bank. Das alles pflegt er in den Wohnzimmerschrank zu stopfen, der wird eines Tages noch platzen.

Jetzt rappelt sie sich hoch und sucht in dem Durcheinander auf dem Tisch nach ihrer Brille.

„Nicht doch. Das ist die Telefonliste. Bis jetzt haben sieben angerufen, sieben, nein, acht mit der Lilo vorhin. Nur dein Bruder noch nicht. Typisch."

„Ja, wo ist denn … die Brille war doch vorhin noch da. Ich hab dir aber auch gesagt, du sollst den Tisch hier mal aufräumen! Man kann gar nichts finden."

„Also Suusi. Nee. Also wirklich …"

Das Telefon klingelt.

Er brüllt:

„Susi. Telefon."

Sie brüllt:

„Herbert. Telefon."

Dabei sitzen sie sich genau gegenüber.

Endlich nimmt meine Mutter ab und nach einem „Moment, bitte" fummelt sie zuerst mal an dem kleinen Apparat, der ihr das Telefon lauter stellen soll. Das Ding fiept und pfeift.

Mein Vater wirft die Arme in die Luft und schüttelt wild den Kopf:

„Mensch. Susi."

„Wer? Wer ist dran? Ach Sabieeene. Duuu …"

Jetzt mache ich mich aber schnell in die Küche zu meinen Schnittchen.

Sabine ist meine Kusine und die Tochter von Lilo, der Schwester meines Vaters, beide leben seit langem in der Schweiz.

Ich hab nichts gegen sie, kann sie gut leiden.

Aber wenn sie anruft, dann ist das so, als wäre mindestens der Papst dran.

Bei meinen Eltern hab ich überhaupt keine Lust, mit ihr zu reden.

Denn dann hängt mir links meine Mutter über der Schulter und rechts hängt mir mein Vater im Nacken, nur damit sie ja jedes Wort mitkriegen, das die göttliche Sabine zu mir sagt.

„Suuusel. Die Sabieeene. Nun komm doch mal. Schnell."

Hab ich’s doch geahnt.

„Ich kann grade nicht. Schöne Grüße."

Gleich werden beide mit verklärten Gesichtern hier in der Küche aufkreuzen und lang und breit berichten, was sie gesagt hat.

Wo jetzt mit der Schachtel voller Schnittchen hin?

Die muss in den Kühlschrank, auf dem Terrassentisch ist die pralle Sonne drauf.

Die Markise darüber darf seit Jahren nicht runtergezogen werden.

Könnte ja ein plötzlicher Windstoß abreißen, könnte ja ein Vogel drauf kacken.

Aber die Torte muss nachher in den Kühlschrank.

Also runter in den Keller.

Ich bringe dafür den anderen Kuchen mit hoch.

Na, die beiden telefonieren aber lange, kostet nicht ihr Geld, Sabine hat angerufen.

Aber wehe, meine Mutter ruft mal in der Schweiz an.

Dann steht mein Vater die ganze Zeit neben ihr und je länger sie telefoniert, desto wütendere Blicke lässt er in ihre Richtung blitzen; wird es ganz arg, klopft er auf das Glas seiner Armbanduhr und zappelt herum wie ein Kasperle. Und legt sie dann endlich entnervt auf, folgt ein Vortrag über die enormen Kosten eines Auslandsgesprächs.

Er tut immer so, als würde das in die Tausende gehen!

Als erster Kaffeegast kreuzt die Marianne mit ihrer wunderschönen Torte auf.

Kein Rissel-Buttercreme-Ungeheuer, wie meine Mutter sie immer fabrizierte und um die sich jeder gerne drückte, wenn er irgend konnte.

Das ist Schlagsahne mit Kirschen und ein selbstgemachter Schokoladen-Biskuit-Boden, eine Art Schwarzwälder Kirsch.

Wie soll sie ahnen, dass meine Mutter keine Schlagsahne mag?

Und mein Vater dunkle Tortenböden verabscheut?

Na.

Zum Kaffeeklatsch erscheint auch der katholische Pfarrer, meine Mutter ist ganz gerührt.

Gleich zwei Stück der leckeren Torte verdrückt der wohlbeleibte Kirchenmann.

Mein Vater verwickelt ihn in ein Gespräch über sein Spezialgebiet, in das verwickelt er jeden Katholiken, der ihm unterkommt:

Dass die Evangelischen für die Katholischen eigentlich nur verirrte Schäfchen sind, obwohl beide ja doch Christen sind.

Für diesen seinen philosophischen Scharfsinn wird er in der Kaffeerunde bewundert.

Und das in seinem Alter!

Kuchen und Torte gehen weg wie warme Semmeln, dazwischen bimmelt das Telefon.

Das hat jedes Mal ein hektisches Aufspringen meiner Eltern zur Folge.