Der Defizit-Mythos

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Der Defizit-Mythos
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MEINUNGEN ZUM BUCH

Der Defizit-Mythos ist schlichtweg das wichtigste Buch, das ich je gelesen habe. Mit ihrer sorgfältig formulierten Aussage widerlegt Stephanie Kelton die ökonomische Lehrmeinung zu Staatsfinanzen, wonach Steuern vor Ausgaben stehen und Defizite etwas Schlechtes sind. Keltons Werk kann sich mit der Genialität von Da Vinci und Kopernikus messen, zwei Häretikern, die bewiesen, dass sich die Erde um die Sonne dreht.“

David Cay Johnston, ausgezeichnet mit dem Pulitzer-Preis, einer Medaille der Investigative Reporters and Editors Inc. und dem George-Polk-Preis

„Sowohl vom Inhalt als auch vom Timing her ein bemerkenswertes Buch. Eine Pflichtlektüre, die die politischen Entscheidungen der Zukunft zweifellos in vieler Hinsicht beeinflussen wird.“

Mohamed El-Erian, oberster Wirtschaftsberater, Allianz

„In einer Welt epischer, sich überschneidender Krisen ist Stephanie Kelton eine unentbehrliche Quelle moralischer Klarheit. Eingeschworenen MMT-Fans ebenso wie MMT-Neulingen liefern die hier vermittelten Wahrheiten zu Geld, Schulden und Defiziten das bitter benötigte Handwerkzeug zum Aufbau einer sicheren Zukunft für alle. Lesen Sie es – und setzen Sie es dann um.“

Naomi Klein, Autorin von Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann

„Keltons wegweisendes Buch über die Mythen um Staatsdefizite vereint theoretische Gründlichkeit mit empirischer Unterhaltung. Es erinnert uns daran, dass dem Geld keine Grenzen gesetzt sind, wohl aber unserem Einfallsreichtum bei dessen Verwendung. Nach der Lektüre werden Sie die öffentliche Hand nie wieder als Hauswirtschaft verstehen. Lesen Sie es!“

Mariana Mazzucato, Autorin von Wie kommt der Wert in die Welt? Von Schöpfern und Abschöpfern

Der Defizit-Mythos ist ein Triumph. Ein Buch, das fesselt, mitreißt, und vor allen Dingen befähigt. Ausgehend von einem gut recherchierten Rahmenwerk, bei dem es darum geht, wie Wirtschaften in der realen Welt wirklich funktionieren, zeichnet sie einen realistischen Weg zu echtem wirtschaftlichem Wohlstand vor. Dieser Ansatz legt den Fokus auf das wahre Leben statt auf die Finanzmärkte und wird es uns ermöglichen, nicht nur die angeschlagene Mittelklasse wiederzubeleben, sondern auch kritische soziale Probleme wie chronische Arbeitslosigkeit, Armut, Gesundheitsversorgung und den Klimawandel in den Griff zu bekommen. Zweifellos sind unserer Handlungsfähigkeit durch viele bindende Beschränkungen Grenzen gesetzt, jedoch sollte, wie Kelton argumentiert, die gewollte Unterbeschäftigung unserer eigenen Ressourcen aufgrund der beharrlichen Manipulation durch die Defizit-Mythen keine solche Grenze sein. Dieses Buch war lange überfällig. Jeder sollte es lesen, und es dann noch einmal lesen, bevor es für einen Kurswechsel zu spät ist.“

John T. Harvey, Professor für Wirtschaft, Texas Christian University

„Keltons Mission in diesem eindringlichen Buch ist es, uns von einer überholten orthodoxen Denkweise zu Haushaltsdefiziten aus der längst vergangenen Zeit des Goldstandards zu befreien. Ihr theoretischer Hintergrund ist die Modern Monetary Theory. Herzstück der MMT ist ein simpler Vorschlag: In einer Welt von Fiat-Währungen sind die Finanzen des Volkes nicht gleich der Summe unserer individuellen Haushaltsbeschränkungen, denn wir als Volk können nicht pleite gehen, sondern lediglich unser kollektives Selbst durch Defizitausgaben in inflationäre Exzesse treiben. In der vorherrschenden Ära der Niedriginflation sollte uns die makropolitische Folge klar sein: Wir, das Volk, haben weitaus größeren steuerlichen Spielraum, als uns die defizitfeindliche, Zahlungen fordernde Masse predigt. Kelton ist eine begnadete Autorin und Lehrerin, und ich kann überzeugt voraussagen, dass ihr brillant geschriebenes und argumentiertes Buch, Der Defizit-Mythos, wegweisend dafür wird, was die MMT ausmacht – und was nicht.“

Paul Allen, Geschäftsführer und Chefökonom im Ruhestand, PIMCO, und Senior Fellow, Cornell Universtity Law School

„Einleuchtend! Fesselnd! Erkenntnisreich und überzeugend geschrieben nimmt uns Der Defizit-Mythos mit auf ein Abenteuer in die Welt der Haushalte, der Jobs, des Handels, des Bankwesens und – vor allem – des Geldes. Mit der Durchschlagskraft des gesunden Menschenverstandes durchbrechen Stephanie Kelton und das MMT-Team die geschlossenen Kreise der sogenannten gesunden Finanzen, eine altbackene Orthodoxie, die uns alle schwächer und ärmer gemacht hat. Dieses Buch erklärt, wie sie dies fertiggebracht haben, und zeigt uns taghell den Weg nach vorne in eine bessere Welt, die auf besseren Ideen aufgebaut ist.“

James K. Galbraith, The University of Texas at Austin

„Ein solider, wohldurchdachter und höchst lesenswerter Spaziergang durch viele weit verbreitete Missverständnisse. Pflichtlektüre für alle, die verstehen wollen, wie Staatsfinanzierung und deren Wechselwirkung mit der Wirtschaftspolitik wirklich funktioniert.“

Frank Newman, ehemaliger stellvertretender US-Finanzminister

Stephanie Kelton

DER DEFIZIT-MYTHOS

Die Modern Monetary Theory und die Gestaltung einer besseren Wirtschaft

Aus dem Englischen von Elborg Nopp


Copyright © Lola Books 2021

www.lolabooks.eu

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf in keinerlei Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Titel der englischen Originalausgabe:

The Deficit Myth: Modern Monetary Theory and How to Build a Better Economy

Copyright © 2020 by Stephanie Kelton

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagbild: Shutterstock, ID 1859940439

Druck: Cimapress, Madrid

Printed in Spain

ISBN 978-3-944203-60-7

eISBN 978-3-944203-61-4

Erste Auflage 2021

FÜR BRADLEY UND KATHERINE

INHALT

Einleitung: Uncle Sam auf der Stoßstange

1 Denken Sie nicht an einen Haushalt

2 Denken Sie an die Inflation

3 Die Staatsverschuldung (die keine ist)

4 Ihre rote Tinte ist unsere schwarze Tinte

5 Beim Handel „gewinnen“

6 Sie haben Ansprüche!

7 Die Defizite, auf die es ankommt

8 Eine bessere Wirtschaft gestalten

Danksagungen

Anmerkungen

EINLEITUNG
UNCLE SAM AUF DER STOSSSTANGE

Nicht das, was du weißt, bringt dich in Schwierigkeiten, sondern das, was du sicher zu wissen glaubst, obwohl es gar nicht wahr ist.

MARK TWAIN

Ich weiß noch, wie ich 2008 auf der einstündigen Fahrt von Lawrence in Kansas zu meiner Lehrtätigkeit als Ökonomin an der University of Missouri in Kansas City einen Aufkleber auf dem Heck eines Mercedes SUV sah. Darauf zu sehen war ein Mann, der mit hängenden Schultern und umgestülpten Hosentaschen dastand. Sein Gesichtsausdruck war hart und ernst. Er trug eine rot-weiß gestreifte Hose, eine dunkelblaue Jacke und einen sternenverzierten Zylinder. Es war Uncle Sam. Wie der Fahrer mit diesem Autoaufkleber sind viele Menschen zu dem Schluss gekommen, dass unsere Regierung vor leeren Kassen steht und ihr Budget zur Bewältigung der dringlichsten Probleme unserer Zeit nicht ausreicht.

Ganz gleich, ob in der Politik die Gesundheitsvorsorge, Infrastruktur, Bildung oder der Klimawandel zur Debatte stehen, stets stellt sich dieselbe Frage: Wie wollt ihr das denn bezahlen? Dieser Autoaufkleber war Ausdruck einer ganz realen Frustration und Angst um die finanziellen Angelegenheiten unserer Nation, insbesondere um das Ausmaß unseres Staatsdefizits. Angesichts der Schimpfreden von Politikern aller Parteien gegen das Defizit ist die allgemeine Entrüstung beim Gedanken an ein unüberlegtes Handeln unserer Regierung gut nachvollziehbar. Schließlich wären wir als Einzelpersonen schnell pleite, wenn wir uns so verhalten würden wie die Regierung, ganz wie der verarmte Uncle Sam auf dem Aufkleber.

Was aber, wenn sich der Bundeshaushalt grundlegend von unserer Haushaltsführung unterscheidet? Was wäre, wenn ich Ihnen zeigen würde, dass es das Schreckgespenst des Defizits gar nicht gibt? Was wäre, wenn ich Sie davon überzeugen könnte, dass wir eine Wirtschaft haben können, in der die Menschen und der Planet an erster Stelle stehen? Dass die Beschaffung des dazu benötigten Geldes gar nicht das Problem ist?

 

Kopernikus und die Gelehrten, die ihm folgten, veränderten unsere Sicht des Kosmos und bewiesen, dass sich die Erde um die Sonne dreht, und nicht andersherum. Einen ähnlichen Durchbruch benötigen wir auch bei unserer Auffassung des Defizits und dessen Verhältnis zur Wirtschaft. Zur Verbesserung des öffentlichen Wohlergehens sind uns weit mehr Möglichkeiten gegeben als uns bewusst ist, doch müssen wir unbedingt die Mythen durchschauen, die uns bislang davon abgehalten haben.

Das vorliegende Buch nutzt zur Erläuterung dieser kopernikanischen Wende die Brille der Modern Monetary Theory (MMT), zu deren führenden Vertreterinnen ich zähle. Meine Hauptargumente gelten für jedes monetär souveräne Land – wie die USA, das Vereinigte Königreich, Japan, Australien, Kanada und andere –, in dem die Regierung das Monopol zur Emission einer Fiat-Währung innehat.1 Die MMT verändert unseren Blick auf Politik und Wirtschaft, indem sie aufzeigt, dass Staatsdefizite der Wirtschaft in fast allen Fällen guttun. Sie sind notwendig. Und die Art, wie wir über Defizite denken und mit ihnen umgehen, ist oft lückenhaft oder falsch. Anstatt dem irrigen Ziel eines ausgeglichenen Haushalts nachzujagen, sollten wir bestrebt sein, die von der MMT als unser öffentliches Geld oder souveräne Währung bezeichneten Mittel zu nutzen, um die Wirtschaft ins Gleichgewicht zu bringen, so dass der Wohlstand der Allgemeinheit zugutekommt, anstatt sich in immer weniger Händen anzusammeln.

Aufgrund des Glaubens, der Staat habe kein eigenes Geld, steht der Steuerzahler traditionell gesehen im Zentrum des monetären Universums. Das einzige verfügbare Geld zur Finanzierung des Staates muss also letztlich von Leuten wie uns kommen. Die MMT wirft unsere Auffassungen über den Haufen, weil sie erkennt, dass der Emittent der Währung – also die Bundesregierung – alle Staatsausgaben finanziert, und nicht etwa der Steuerzahler. Steuern sind aus anderen Gründen wichtig, die ich in diesem Buch erklären werde. Doch der Gedanke, dass Steuern die Ausgaben der Regierung finanzieren, ist reine Fantasie.

Ich war skeptisch, als ich diesen Ideen zum ersten Mal begegnete. Ich wehrte mich sogar dagegen. In den frühen Jahren meines Ökonomie-Studiums versuchte ich, die Behauptungen der MMT durch intensive Forschung zur steuerlichen und monetären Tätigkeit unseres Staates zu widerlegen. Als ich dann dazu meine erste wissenschaftliche, peer-reviewte Arbeit veröffentlichte, wurde mir klar, dass meine Auffassungen bislang falsch gewesen waren. Der Kerngedanke hinter der MMT mochte zunächst abwegig erscheinen, erwies sich jedoch schließlich als einleuchtend und präzise. Die MMT ist gewissermaßen eine unparteiische Brille, die das wahre Prinzip unseres Währungssystems veranschaulicht. Ihre Überzeugungskraft ist nicht an eine Ideologie oder Partei gebunden. Stattdessen zeigt die MMT die wirtschaftlichen Möglichkeiten auf und verlagert so das Terrain politischer Debatten, die sich an Fragen der finanziellen Machbarkeit totlaufen. Die MMT konzentriert sich auf die breiteren ökonomischen und sozialen Auswirkungen eines vorgeschlagenen politischen Wandels, anstatt auf seine begrenzten finanziellen Konsequenzen. John Maynard Keynes’ Zeitgenosse, Abba P. Lerner, war ein Verfechter dieses Ansatzes, den er functional finance nannte. Es ging darum, Politik nach ihrer Funktion oder Wirkung zu bewerten. Hat sie die Inflation im Griff, erhält sie die Vollbeschäftigung und führt sie zu einer gerechteren Verteilung von Einnahmen und Reichtum? Welche Zahl der Etat jeweils jährlich hergibt, war (und ist) dabei völlig nebensächlich.

Bin ich der Ansicht, dass wir zur Lösung all unserer Probleme einfach mehr Geld ausgeben müssen? Nein, natürlich nicht. Nur, weil der Staatshaushalt keinen finanziellen Beschränkungen unterliegt, bedeutet das nicht, dass es keine realen Grenzen für das gibt, was die Regierung tun kann (und sollte). Jede Wirtschaft hat ihr eigenes inneres Tempolimit, das durch die Verfügbarkeit unserer realen produktiven Ressourcen reguliert wird – den Stand der Technologie und die Fläche und Qualität ihres Bodens, ihre Arbeiter, Fabriken, Maschinen und andere Materialien. Versucht die Regierung, zu viel Geld in eine Wirtschaft zu pumpen, die bereits auf Hochtouren läuft, dann beschleunigt sich die Inflation. Es gibt Grenzen. Allerdings liegen diese Grenzen nicht bei der Fähigkeit unserer Regierung, Ausgaben zu tätigen, oder beim Defizit, sondern beim Inflationsdruck und den Ressourcen innerhalb der realen Wirtschaft. Die MMT unterscheidet die realen Grenzen von wahnhaften und unnötigen, selbst auferlegten Beschränkungen.

Möglicherweise haben Sie die zentralen Erkenntnisse der MMT bereits in Aktion erlebt. Ich erlebte sie aus nächster Nähe, als ich im Senat der USA arbeitete. Immer, wenn das Thema Sozialversicherung zur Sprache kommt, oder wenn jemand im Kongress mehr Geld in Bildung oder das Gesundheitswesen investieren möchte, wird viel darüber geredet, dass alles „bezahlt werden“ muss, um das Staatsdefizit nicht zu erhöhen. Doch ist Ihnen aufgefallen, dass dies nie ein Problem zu sein scheint, wenn es darum geht, den Verteidigungshaushalt aufzustocken, Banken zu retten oder den reichsten Amerikanern enorme Steuervergünstigungen zu verschaffen, selbst wenn diese Maßnahmen das Defizit erheblich steigern? Solange die Mehrheit dafür ist, kann die Bundesregierung ihre Prioritäten stets finanzieren. So funktioniert das. Defizite hielten Franklin Delano Roosevelt in den 1930er Jahren nicht von der Einführung des New Deal ab. Sie hinderten John F. Kennedy nicht daran, einen Mann auf den Mond zu schicken. Und nicht ein einziges Mal haben sie den Kongress davon abgehalten, einen Krieg zu führen.

Das liegt daran, dass der Kongress die Macht der öffentlichen Hand innehat. Wenn er etwas unbedingt erreichen möchte, ist dafür immer Geld vorhanden. Wenn die Gesetzgeber wollten, könnten sie – gleich heute noch – Rechtsvorschriften zur Anhebung des Lebensstandards vorantreiben und die öffentlichen Investitionen in Bildung, Technologie und eine robuste Infrastruktur leisten, die für unseren Wohlstand auf lange Sicht unerlässlich sind. Geld auszugeben oder nicht ist eine politische Entscheidung. Selbstverständlich müssen die wirtschaftlichen Auswirkungen jedes Gesetzes gründlich durchdacht werden. Doch sollten Ausgaben nie durch willkürliche Budgetziele oder blindes Festhalten an sogenannten gesunden Finanzen beschränkt werden.


DASS ICH DAMALS im November 2008 den Uncle-Sam-Aufkleber sah, halte ich für keinen Zufall. Die veralteten Vorstellungen, dass der Regierung das Geld ausgehen könnte, gewannen während der Finanzkrise im selben Jahr an Zugkraft. Unsere Nation erlebte gerade den schlimmsten Wirtschaftsabschwung seit der Großen Depression. Es fühlte sich tatsächlich so an, als ginge unser Land gerade gemeinsam mit einem großen Teil der restlichen Welt pleite. Was als Störung auf dem Subprime-Hypothekenmarkt begonnen hatte, hatte auf die globalen Finanzmärkte übergegriffen und sich zu einem kompletten wirtschaftlichen Zusammenbruch entwickelt, der Millionen US-Amerikaner um ihre Jobs, ihr Zuhause und ihre Unternehmen brachte.2 Allein in jenem November verloren achthunderttausend Amerikaner ihre Arbeit. Millionen beantragten Arbeitslosengeld, Lebensmittelunterstützung, Medicaid und andere staatliche Beihilfen. Während die Wirtschaft tief in eine Rezession abrutschte, stürzten die Steuereinnahmen in die Tiefe, und die Ausgaben für Arbeitslosenunterstützung stiegen sprunghaft an und trieben das Defizit auf die Rekordzahl von 779 Milliarden US-Dollar. Panik breitete sich aus.

Vertreter der MMT, darunter auch ich, sahen dies als Gelegenheit, der neuen Regierung unter Obama mutige politische Vorschläge zu unterbreiten. Wir baten den Kongress eindringlich, ein robustes Konjunkturpaket aus Lohnsteuerbefreiung, zusätzlichen Beihilfen für Staats- und Landesregierungen und einer staatlichen Jobgarantie zu verabschieden.

Am 16. Januar 2009 hatten Amerikas vier größte Finanzinstitute bereits die Hälfte ihres Wertes verloren, und der Arbeitsmarkt büßte monatlich hunderttausende Stellen ein. Genau wie bei FDR fand Präsident Obamas Vereidigung am 20. Januar zu einem historisch kritischen Zeitpunkt statt. Innerhalb von dreißig Tagen hatte er ein Konjunkturpaket über 787 Milliarden US-Dollar unterzeichnet. Einige seiner engsten Berater hatten auf eine viel höhere Summe gedrungen und behauptet, zur Verhinderung einer langwierigen Rezession seien mindestens 1,3 Billionen US-Dollar nötig. Andere sträubten sich gegen alles, was auf „Billionen“ endete. Schließlich verlor Obama die Nerven.

Warum? Weil er im Grunde finanzpolitisch konservativ eingestellt war. Er war umgeben von Leuten, die ihm unterschiedliche Zahlen nannten, und entschied sich dafür, kein Risiko einzugehen und am unteren Ende der ihm vorgelegten Zahlen zu bleiben. Christina Romer, die Vorsitzende des Wirtschaftsrats, erkannte, dass sich eine Krise von derartigem Ausmaß nicht mit der eher bescheidenen Maßnahme von 787 Milliarden US-Dollar bewältigen ließ. Sie plädierte für ein ehrgeiziges Paket von über einer Milliarde und sagte, „Mr. President, jetzt wird es ernst. Es ist schlimmer, als wir dachten.“3 Sie hatte alles durchgerechnet und war zu dem Schluss gekommen, dass die Bekämpfung der sich verschärfenden Rezession voraussichtlich ein Paket in Höhe von 1,8 Billionen US-Dollar erforderte. Doch diese Option wurde von Lawrence Summers, Harvard-Ökonom, ehemaliger Finanzminister und Obamas oberster Wirtschaftsberater, zunichte gemacht. Summers wäre ein umfangreicheres Paket vielleicht lieber gewesen, doch fürchtete er, sich mit einem Antrag von einer Billion US-Dollar oder mehr beim Kongress lächerlich zu machen, und sagte, „die Öffentlichkeit würde nichts davon hören wollen, und beim Kongress würde es nie durchgehen.“4 David Axelrod, der später zum leitenden Berater des Präsidenten ernannt wurde, stimmte zu, da er befürchtete, dass jeder Betrag über einer Billion beim Kongress und dem amerikanischen Volk einen „Preisschock“ verursachen würde.

Die letztlich vom Kongress bewilligten 787 Milliarden US-Dollar beinhalteten Geldmittel für Staats- und Landesregierungen zur Bekämpfung des Abschwungs, Finanzmittel für Infrastrukturen und umweltfreundliche Investitionsprojekte sowie beträchtliche Steuervergünstigungen, um den Konsum und die Reinvestition im privaten Sektor anzukurbeln. All das half, doch reichte es bei weitem nicht aus. Die Wirtschaft schrumpfte, und während das Defizit auf über 1,4 Billionen US-Dollar kletterte, musste sich Präsident Obama Fragen zur steigenden Flut roter Zahlen stellen. Am 23. Mai 2009 wurde er auf C-SPAN interviewt. Der Moderator, Steve Scully, fragte, „Wann wird uns das Geld ausgehen?“5 Der Präsident erwiderte, „Nun ja, uns ist das Geld bereits ausgegangen.“ Da war es also. Der Präsident hatte gerade bestätigt, was der Fahrer mit dem Uncle-Sam-Sticker die ganze Zeit vermutet hatte. Die Vereinigten Staaten waren pleite.

Die Große Rezession, die von Dezember 2007 bis Juni 2009 dauerte, hinterließ überall in den Vereinigten Staaten und darüber hinaus bleibende Narben in Gemeinschaften und Familien. Es dauerte über sechs Jahre, bis der US-amerikanische Arbeitsmarkt alle 8,7 Millionen Jobs, die von Dezember 2007 bis Anfang 2010 verlorengingen, zurückgewann.6 Millionen Menschen hatten ein Jahr oder länger zu kämpfen, bis sie Arbeit fanden. Vielen gelang es überhaupt nicht. Und einige, die das Glück hatten, eine Stelle zu finden, mussten sich oft mit Teilzeitjobs begnügen oder wesentlich schlechter bezahlte Arbeit annehmen. In der Zwischenzeit verschlang die Zwangsvollstreckungskrise 8 Billionen an Immobilienvermögen, und geschätzte 6,3 Millionen Menschen – darunter 2,1 Millionen Kinder – wurden zwischen 2007 und 2009 in die Armut gedrängt.7

Der Kongress hätte mehr tun können und müssen, doch der Defizit-Mythos hatte sich durchgesetzt. Im Januar 2010, als die Arbeitslosigkeit schwindelerregende 9,8 Prozent erreicht hatte, strebte Präsident Obama bereits in die entgegengesetzte Richtung. In jenem Monat verpflichtete er sich bei seiner Ansprache zur Lage der Nation zu einer Umkehrung des Konjunkturprogramms und ließ das Land wissen, „Familien im ganzen Land schnallen den Gürtel enger und treffen schwere Entscheidungen. Die Bundesregierung sollte es genauso machen.“ Was folgte, war langanhaltender selbst zugefügter Schaden.

 

Schätzungen der Federal Reserve Bank of San Francisco (FRBSF) zufolge haben die Finanzkrise und das kraftlose Wachstum die US-Wirtschaft zwischen 2008 und 2018 um bis zu 7 Prozent ihres Output-Potenzials gebracht. Stellen sie sich darunter eine Aufstellung aller Güter und Dienstleistungen (und Einnahmen) vor, die wir in diesen zehn Jahren produziert haben könnten, dies jedoch nicht taten, da wir unsere Wirtschaft nicht ausreichend unterstützten, indem wir Stellen sicherten und den Menschen das Dach über dem Kopf erhielten. Durch falsche politische Reaktionen haben wir die Weichen für eine langsame und schwache Erholung gestellt, die unsere Gemeinschaften geschädigt und unserer Wirtschaft Vermögensverluste in Billionenhöhe zugefügt hat. Der FRBSF zufolge haben die zehn Jahre unterdurchschnittlichen Wirtschaftswachstums jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in Amerika umgerechnet 70.000 US-Dollar gekostet.

Warum haben wir keine bessere Politik betrieben? Vielleicht denken Sie, es läge daran, dass unser Zweiparteiensystem so gespalten ist, dass der Kongress schlicht handlungsunfähig war, selbst angesichts einer nationalen Katastrophe, die Durchschnittsbürger und große Unternehmen gleichermaßen in ihrer Sicherheit bedrohte. Und daran ist sicher einiges wahr. 2010 brüstete sich der Mehrheitsführer im Senat, Mitch McConnell, öffentlich, „unser oberstes Ziel ist, dass Präsident Obama nicht wiedergewählt wird.“ Doch Parteipolitik war nicht das einzige Hindernis. Die Politik der Defizit-Hysterie, an der beide Seiten seit Jahrzehnten festhalten, stellte ein noch größeres Hemmnis dar.

Höhere Defizite hätten eine schnellere und kräftigere Erholung ermöglicht, Millionen Familien geschützt und wirtschaftliche Schäden in Billionenhöhe verhindert. Doch keiner der Entscheidungsträger setzte sich für höhere Defizite ein. Weder Präsident Obama noch die meisten seiner leitenden Berater, nicht einmal die progressivsten Mitglieder des Abgeordnetenhauses und des Senats. Warum? Glaubten wirklich alle, dass dem Staat das Geld ausgegangen war? Oder hatten sie nur Angst, die Wähler gegen sich aufzubringen, wie den mit dem Autoaufkleber auf dem Mercedes?

Wir können Defizite nicht zur Lösung von Problemen benutzen, wenn wir das Defizit selbst weiterhin als Problem betrachten. Aktuell ist etwa die Hälfte der Amerikaner (48 Prozent) der Meinung, dass der Abbau der staatlichen Budgetdefizite für den Präsidenten und den Kongress oberste Priorität haben sollte. Dieses Buch möchte mehr Menschen davon überzeugen, dass das Defizitproblem eher bei null liegt. Das wird nicht einfach werden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir mit den Mythen und Missverständnissen, die unseren öffentlichen Diskurs prägen, gründlich aufräumen.


DIE ERSTEN SECHS Kapitel des Buches entkräften die Defizit-Mythen, die uns als Land lähmen. Als erstes widerlege ich die Vorstellung, dass die Bundesregierung wie ein Haushalt budgetieren sollte. Wahrscheinlich ist kein anderer Mythos so schädlich wie dieser. In Wahrheit ähnelt die Bundesregierung in keiner Weise einem Haushalt oder einem privaten Unternehmen. Das liegt daran, dass Uncle Sam etwas hat, das wir anderen nicht haben – die Befugnis zur Emission des US-Dollars. Uncle Sam muss nicht erst Dollars herbeischaffen, bevor er sie ausgeben kann. Wir anderen hingegen schon. Uncle Sam kann nicht vor einem wachsenden Schuldenberg stehen, den er nicht bezahlen kann. Wir anderen vielleicht schon. Uncle Sam wird nie pleite gehen. Wir anderen unter Umständen schon. Wenn Regierungen versuchen, ihre Budgets wie Haushalte zu verwalten, entgeht ihnen die Gelegenheit, die Macht ihrer souveränen Währungen zu nutzen, um das Leben ihrer Bevölkerung erheblich zu verbessern. Wir werden zeigen, wie die MMT beweist, dass die Bundesregierung zur Finanzierung ihrer Ausgaben nicht auf Steuereinnahmen oder Darlehen angewiesen ist, und dass Inflation der Hauptgrund für die Beschränkung von Staatsausgaben ist.

Der zweite Mythos ist, Defizite seien ein Beweis für Budgetüberschreitungen. Das ist ein naheliegender Schluss, denn wir alle haben gehört, wie sich Politiker über Defizite beklagen, die beweisen, dass die Regierung „über ihre Verhältnisse“ lebt. Das ist ein Irrtum. Es stimmt, dass in den Büchern der Regierung jedes Mal ein Defizit aufscheint, wenn sie mehr ausgibt als sie an Steuern einnimmt. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die MMT vervollständigt das Bild durch einfache buchhalterische Logik. Angenommen, die Regierung gibt 100 US-Dollar für die Wirtschaft aus, nimmt jedoch nur 90 US-Dollar an Steuern ein. Die Differenz wird als Staatsdefizit bezeichnet. Doch man kann diese Differenz auch anders betrachten. Uncle Sams Defizit verschafft jemand anderem einen Überschuss. Das liegt daran, dass das Minus der Regierung von 10 Dollar stets irgendwo anders in der Wirtschaft durch ein Plus von 10 Dollar ausgeglichen wird. Das Problem ist, dass die Politiker das Bild nur von einer Seite betrachten. Sie sehen das Haushaltsdefizit, doch entgeht ihnen der entsprechende Überschuss auf der anderen Seite. Und da er vielen Amerikanern ebenfalls entgeht, begrüßen sie die Bemühungen um einen ausgeglichenen Haushalt, selbst wenn ihnen dadurch Geld aus den Taschen gezogen wird. Die Regierung kann zu viel ausgeben. Defizite können zu hoch sein. Doch der Beweis für Budgetüberschreitungen ist Inflation, und Defizite sind meist zu niedrig, nicht zu hoch.

Der dritte Mythos ist, dass Defizite der nächsten Generation zur Last werden. Nur allzu gern kramen Politiker diesen Mythos hervor und verkünden, dass wir durch Defizite das Leben unserer Kinder und Kindeskinder ruinieren und ihnen erdrückende Schulden aufbürden, die sie eines Tages abbezahlen müssen. Einer der einflussreichsten Verbreiter dieses Mythos was Ronald Reagan. Doch sogar Senator Bernie Sanders machte sich zu Reagans Sprachrohr, als er sagte, „Ich mache mir Sorgen wegen der Schulden. Das ist nichts, was wir unseren Kindern und Enkeln hinterlassen sollten.“8

Das ist zwar rhetorisch überzeugend, entbehrt jedoch jeder ökonomischen Logik. Den Beweis dazu liefert die Geschichte. Als Teil des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erreichte die Staatsverschuldung ihren Höchststand – 120 Prozent – unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Und doch entstand auch genau zur selben Zeit die Mittelschicht, das durchschnittliche Familieneinkommen stieg sprunghaft an, und die darauffolgende Generation genoss einen höheren Lebensstandard ohne die zusätzliche Last höherer Steuersätze. Die Realität ist, dass Staatsdefizite der Bevölkerung der Zukunft keine finanziellen Bürden auferlegen. Die Erhöhung von Defiziten macht zukünftige Generationen nicht ärmer, und der Abbau von Defiziten wird sie nicht reicher machen.

Der vierte Mythos, mit dem wir uns befassen werden, ist die Vorstellung, dass Defizite schädlich sind, weil sie private Investitionen verdrängen und langfristiges Wachstum untergraben. Dieser Mythos wird meistens von Mainstream-Ökonomen und politischen Eiferern verbreitet, die es eigentlich besser wissen sollten. Er beruht auf der fälschlichen Annahme, die Regierung müsse zur Finanzierung ihrer Defizite mit anderen Kreditnehmern um den Zugang zu einem begrenzten Vorrat von Ersparnissen konkurrieren. Die Idee hierbei ist, dass Staatsdefizite einen Teil der Dollars verbrauchen, die der private Sektor sonst in die Förderung langfristigen Wohlstands investiert hätte. Wir werden sehen, warum das Gegenteil der Fall ist – tatsächlich steigern Haushaltsdefizite private Ersparnisse – und private Investitionen leicht mit einbezogen werden können.

Der fünfte Mythos ist, dass Defizite die Vereinigten Staaten von Fremden abhängig machen. Dieser Mythos will uns weismachen, dass Länder wie China und Japan enorme Kontrolle über uns haben, weil sie im Besitz großer Mengen der US-Verschuldung sind. Wir werden sehen, dass dies eine Fiktion ist, die bewusst oder unbewusst von Politikern verbreitet wird, oft als Vorwand, um Sozialprogramme zu ignorieren, die dringend finanziert werden müssten. Manchmal bemüht dieser Mythos die Metapher vom verantwortungslosen Umgang mit einer ausländischen Kreditkarte. Dabei wird nicht beachtet, dass die Dollars nicht aus China stammen. Sie kommen aus den Vereinigten Staaten. Wir nehmen keinen Kredit in China auf, sondern versorgen China mit Dollars und gestatten ihnen, diese Dollars gegen sichere, verzinsliche US-Staatsanleihen einzutauschen. Nichts daran ist in irgendeiner Weise riskant oder schädlich. Wenn wir wollten, könnten wir die Verschuldung mit einem simplen Tastendruck augenblicklich tilgen. Die Verpfändung unserer Zukunft ist ein weiteres Beispiel dafür, wie das wahre Prinzip souveräner Währungen missverstanden – oder für politische Zwecke absichtlich fehlgedeutet – wird.