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1.3 Historisch-fiktionales Erzählen nach 1989: Terminologische Prämissen



Entscheidend für die vorliegende Untersuchung ist die Ausrichtung an der von Geppert eingeführten Kategorie des ›anderen‹ historischen Romans, der die gattungstheoretische Perspektive auf das metafiktionale und selbstreflexive Potenzial der Gattung richtet. Dieses avanciert im Rahmen der sich hier anschließenden Auseinandersetzung mit der historisch-fiktionalen Literatur der Gegenwart zum entscheidenden Verbindungsglied der behandelten Texte. Der

andere

 historische Roman, das ist dem einleitenden Forschungsüberblick zu entnehmen, sorgt für den entscheidenden Einschnitt innerhalb der Gattungstheorie: In Ina Schaberts

reflektivem

 oder Hugo Austs

parabolischem

 Roman hat er alternative Namen, in Nünnings

revisionistischem

 und

metahistorischen

 Roman ebenso wie in seiner von Hutcheon übernommenen Kategorie der

historiografischen Metafiktion

 ergänzende Differenzierungen gefunden. Damit rücken in den Fokus der vorliegenden Untersuchung literarische Texte, die nicht einfach von der Geschichte erzählen, sondern das Erzählen dieser Geschichte bereits mitreflektieren. Sie verhandeln nicht nur die poetologische Frage nach der Möglichkeit, die Historie zu fiktionalisieren, sondern zugleich einen Geschichtsbegriff, der in seiner historischen Genese die mitunter problematische Nähe zwischen Literatur und Historiografie sichtbar macht.



Mit ihrem der literarischen Analyse zugrunde gelegten Textkorpus möchte die Studie die vorab begründete Epochenzäsur ernstnehmen und sich auf historisch-fiktionale Texte nach 1989 beschränken. Der innerhalb der Gattungstheorie unterschiedlich diskutierte, zwischen 30 und 60 Jahren liegende Erzählabstand zum dargestellten Geschehen wird ersetzt durch die Frage, welche Ereignisse als historische (im Gegensatz zu zeitgeschichtlichen, gegenwärtigen oder zukünftigen) begriffen werden. Die im vorausgegangenen Kapitel formulierten Einsichten aufgreifend, werden im Folgenden Texte als historisch-fiktionale berücksichtigt, die sich in einem weiten Sinne auf historische Ereignisse, Figuren und Epochen bis zum Beginn der Nachkriegszeit literarisch beziehen. NS-Zeit und Holocaustdarstellungen einer Nachgeborenen-Generation werden als historische Ereignisse ausdrücklich dem Gegenstandsbereich des historischen Romans zugerechnet.



Darunter fallen auch einige Texte aus dem Feld der sogenannten Erinnerungsliteratur, etwa von W.G. Sebald, Marcel Beyer, Katharina Hacker oder Günter Grass sowie von Vertretern der österreichischen Gegenwartsliteratur wie Erich Hackl, Robert Menasse und Norbert Gstrein. In Anlehnung an eine sinnvolle Differenzierung, die Aleida Assmann vornimmt, gehören nur jene Erinnerungstexte zum Gegenstandsbereich des historisch-fiktionalen Erzählens, mithin zum historischen Roman der Gegenwart, die eine bereits vermittelte autobiografische Erfahrung oder Erinnerungsprozesse fiktionalisieren, denen keine autobiografische Erfahrung zugrunde liegen.1 Die Nachgeborenen-Perspektive ist entscheidend für diese Texte: Sie verantwortet die historische Distanz zum fiktionalisierten historischen Geschehen, das kein autobiografisch erinnertes und erlebtes mehr darstellt, sondern ein im Medium der Literatur fiktional imaginiertes. Damit grenzen sich die hier untersuchten historisch-fiktionalen Texte über die NS-Zeit von dem weiter gefassten Genre der Holocaust-Literatur ab, das auch nicht-fiktionale Texte einschließt, insbesondere autobiografische Quellen von Zeitzeugen.2 Die von James E. Young in seiner programmatischen Studie

Beschreiben des Holocaust

 (1992) berücksichtigte Autorenfigur des Holocausts-Überlebenden, der »als literarischer Chronist mit seinem Schreiben sowohl sich selbst als auch seine Erfahrungen

post factum

 existent «,3 ist damit kein Gegenstand der vorliegenden Studie. Um von einem historischen Roman sprechen zu können, ist es unabdinglich, dass die im literarischen Text Epoche als eine historische (d.h. auch historisierte) zu verstehen ist. Dies ist im Fall der Nachgeborenen-Generation, die ihre Texte vorrangig im 21. Jahrhundert veröffentlicht, der Fall und wird von deren Autoren, wie das Beispiel Norbert Gstreins zeigen wird, explizit thematisiert.



Die innerhalb der Gattungsgeschichte bislang kaum berücksichtigte Ausweitung der Gattung auf Darstellungen der Ereignisse bis 1945 macht die üblich gewordene Diskussion ihrer metafiktionalen Dimension im Kontext eines Postmoderne-Begriffes fraglich. Stellvertretend für die wenigen aktuellen Veröffentlichungen zur Gattung beschließt etwa Hans Vilmar Geppert seine jüngste Studie mit dem historischen Roman der Postmoderne und subsumiert darunter auch Erinnerungstexte von Uwe Timm und W.G. Sebald.4 Ein postmoderner Skeptizismus und Relativismus, der sich von sämtlichen politischen und moralischen Normen freispricht, erweist sich mit Blick auf den Geschichtsbegriff der Gegenwart jedoch als ebenso problematisch wie im Kontext eines historisch-fiktionalen Erzählens, das die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die Vernichtungsmaschinerie des Holocausts, das Ausmaß der Kriegsverbrechen und individuelle wie kollektive Traumata der Opfer in den Blick nimmt. Eine konsequent relativistische Geschichtsauffassung muss aus epistemologischer wie ethischer Perspektive problematisiert werden, da sie die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Aufarbeitung historischen Geschehens, auch des Holocausts, letztlich bestreitet. Auch aus diesem Grund wird die bislang übliche Vereinnahmung historisch-fiktionaler Texte der Gegenwart durch den Postmodernebegriff in der vorliegenden Studie entschieden abgelehnt: Vielmehr soll es darum gehen, das literarische Erzählen der Geschichte in seiner Teilhabe an einem Geschichtsdiskurs zu überprüfen, der die Brüchigkeit des Geschichtsbegriffes, seine im Zeichen der Narration sichtbar werdende Unzuverlässigkeit ernst nimmt und dennoch an einer Orientierungsfunktion historischen Wissens festhält – an einer Orientierungsfunktion, die, so wird zu zeigen sein, nicht zuletzt ethisch begründet ist.



Abschließend bleibt festzustellen, dass sich die vorliegende Untersuchung einer grundsätzlichen methodologischen Unsicherheit stellen muss, mit der jede Studie konfrontiert ist, die in ihrem Verlauf einen Gattungsbegriff im Hinblick auf eine bestimmte Epoche zu schärfen versucht, diesen jedoch von Beginn an verwendet. Konkret bedeutet dies, fiktional-historisches Erzählen, mithin die Gattung des historischen Romans zum einen als bekannte Kategorie vorauszusetzen, zum anderen aber erst sukzessive in ihren für die Literatur der Gegenwart geltenden Koordinaten zu bestimmen. Vor dem Hintergrund dieser Problemstellung kann der einleitend erfolgte Forschungsüberblick die Frage »Was ist ein historischer Roman?« nicht erschöpfend beantworten, sondern allenfalls zeigen, wie in der Vergangenheit die Gattung bestimmt wurde, welche Merkmalszuschreibungen sich etablieren konnten und wo augenfällige Zäsuren erfolgt sind. Ansgar Nünning thematisiert in seiner Habilitationsschrift diese methodologische Problematik zu Recht und sucht sie zu lösen, indem er auf eine universalistische Gattungsbezeichnung verzichtet und stattdessen die literaturwissenschaftliche Kategorie »Vermittlungsformen narrativ-fiktionaler Geschichtsdarstellung« vorschlägt.5 Hier folgt Nünning u.a. den Anglisten Raimund Borgmeier und Bernhard Reitz, die in ihrer Studie zum historischen Roman des 19. und 20. Jahrhunderts zwischen narrativ-fiktionaler und narrativ-wissenschaftlicher Geschichtsdarstellung unterscheiden.6 Diese Unterscheidung sorgt für eine angemessene Binnendifferenzierung des historischen Erzählens, das innerhalb der Gattungsforschung vorschnell für das fiktionale Erzählen im historischen Roman angewandt wurde. Historisches Erzählen meint traditionell nicht das historisch-fiktionale Erzählen, sondern Geschichtsdarstellungen im Kontext von Geschichtstheorie, Geschichtsdidaktik und insbesondere der Historiografie.7 Insofern ist eine Vereinnahmung des Begriffes ausschließlich für die fiktionale Literatur, wie sie etwa in den Studien Hermann Sottongs und Hugo Austs auffällt, problematisch und verwischt die entscheidende Grenze zum historischen Erzählen in historiografisch-wissenschaftlichen Texten.8 Eine entsprechende Trennschärfe fordert Gérard Genette in seinem Plädoyer für eine narratologische Auseinandersetzung mit der nichtfiktionalen Erzählung zu Recht ein.9



Mit Borgmeier/Reitz und Genette hält die vorliegende Untersuchung an der Trennung zwischen einer faktual-wissenschaftlichen Geschichtsdarstellung und einem historisch-fiktionalen Erzählen in literarischen Texten fest, nicht ohne von grundsätzlichen Analogien zwischen beiden Erzählformen auszugehen. Beiden Erzählmodi gemeinsam ist die Nachzeitigkeit des Erzählstandortes. Erzähler wie Historiker sind keine objektiven Beobachter der historischen Ereignisse, auf die sie sich beziehen, sondern liefern mit ihren Versionen der Geschichtsdarstellung einen Akt der retrospektiven Sinnstiftung, der in beiden Fällen der Imagination bedarf und subjektiven Interpretationsprozessen des Historiografen wie des literarischen Autors unterworfen ist.10 Gerade die Einsicht in die Narrativität der Geschichte und die damit verbundenen fiktionsstiftenden Implikationen historischen Erzählens lösen jene kontrovers geführten Diskussionen um das Verwandtschaftsverhältnis zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung aus, denen die vorliegende Studie in ihrem ersten Teil nachgehen wird. Um das historiografische und das literarische Erzählen gegeneinander halten zu können, ist die im Folgenden vorgenommene Differenzierung des Erzählbegriffes damit auch aus pragmatischer Sicht sinnvoll.



Zudem ist die Trennung zwischen narrativ-wissenschaftlicher und narrativ-fiktionaler Geschichtsdarstellung einem entscheidenden Unterschied geschuldet, den Borgmeier und Reitz ausführen und der in der Referenzialität der jeweiligen Texte begründet liegt. Im Gegensatz zur Fiktion begreift die narrativ-wissenschaftliche Geschichtsdarstellung die in ihr geschilderten Erfahrungszusammenhänge als »offen, als falsifizierbar und als fortschreibbar«, da sie sich auf ein explizites Textäußeres, die historischen Fakten nämlich, beziehen. Das fiktionale Kunstwerk hingegen ist als geschlossenes zu verstehen, das die Frage nach der ›Wahrhaftigkeit‹ allenfalls auf die Ebene des Erzählten verschiebt, nicht aber auf jener der Erzählung stellt: Möglicherweise lässt sich die im literarischen Text dargestellte Geschichte als »falsch« bezeichnen, keinesfalls aber das Kunstwerk selbst.11 Damit ist ein zentrales Merkmal fiktionalen Erzählens bezeichnet, das Aleida Assmann als »Gesetz der ästhetischen Geschlossenheit«12 bezeichnet hat. An diesem Gesetz wird hier festgehalten und damit an die erzähltheoretischen Prämissen Matias Martinez’ und Michael Scheffels angeknüpft, die den Fiktionalitätsstatus literarischer Texte darüber definieren, dass diese »grundsätzlich keinen Anspruch auf unmittelbare Referenzialisierbarkeit, d.h. Verwurzelung in einem empirisch-wirklichen Geschehen erheben .«13

 



In der vorliegenden Studie bleibt der Begriff des

historischen Erzählens

 somit dem akademischen Diskurs, den wissenschaftlich-historischen Texten vorbehalten, während mit einem

historisch-fiktionalen Erzählen

 die literarische Narration gemeint ist. Der historische Roman wird dem historisch-fiktionalen Erzählen zugerechnet, wobei der letztgenannte Begriff den im Rahmen der Studie favorisierten bezeichnet. Dies begründet sich zum einen durch die eingangs angedeutete Gefahr, mit einer universalistischen Gattungsbezeichnung die angestrebte Sensibilisierung für die spezifischen Merkmale historisch-fiktionalen Erzählens der Gegenwart zu verschleiern. Zum anderen ermöglicht es der weiter gefasste Begriff, den Textkorpus auf kürzere Texte, etwa Erzählungen von Felicitas Hoppe, W.G. Sebald, Günter Grass oder Erich Hackl auszuweiten. Bewusst will die Studie eine terminologische Engführung der Gattung vermeiden und die hier untersuchte historisch-fiktionale Literatur auf Texte ausweiten, welche die Ränder der Gattung markieren, dabei aber Merkmale des historisch-fiktionalen Erzählens der Gegenwartsliteratur durchaus repräsentativ vertreten. Dazu gehören etwa Texte, die an der Schnittstelle zwischen historisch-fiktionalem und autobiografischem Erzählen verortet sind (Uwe Timm,

Am Beispiel meines Bruders

) oder deren erzähltes Geschehen die Grenze zwischen Historie und Zeitgeschichte vergegenwärtigt (Benjamin Stein,

Die Leinwand

). Mit Lukas Hartmanns

Bis ans Ende der Meere

 (2009) wird zudem einer jener historischen Romane berücksichtigt, der die Möglichkeiten einer finalen Grenzziehung zwischen dem historischen Roman als Gattung des Unterhaltungsgenre und dem vermeintlich ungleich selbstreflexiveren ›anderen‹ historischen Roman bereits in Frage stellt.



Nicht berücksichtigt wird das erst in jüngerer Zeit so benannte Genre der ›kontrafaktischen literarischen Geschichtsdarstellung‹. Darunter sind Texte zu verstehen, deren primäres Ziel »das erkennbare Abweichen von tradierten Auffassungen über Verlauf und Hergang vergangener Ereigniskonstellationen,« mithin das Imaginieren einer alternativen Vergangenheitsversion darstellt.14 Die Wirkungsdimension solcher Texte ist mit Andreas Martin Widmann durch die in ihnen angelegte provozierte »Differenz zwischen dem als bekannt und faktisch vorausgesetzten Wissen über historische Vorgänge und Zusammenhänge und der im fiktionalen Erzähltext dargestellten Version ebendieser Vorgänge und Zusammenhänge« bestimmt. Damit aber fordern solche Texte implizit das Wissen des Rezipienten um das vermeintlich ›richtige‹ historische Geschehen ein – nur in Abgrenzung dazu kann die dargestellte kontrafaktische Geschichtsdarstellung ihre Wirkungskraft entwickeln. Anders sieht es bei den in der vorliegenden Studie untersuchten Texten aus, die auch dort, wo sie eine ›erfundene‹ Geschichtsversion ausstellen, die Problematisierung historischer Eindeutigkeit unabhängig vom historischen Vorwissen des Rezipienten im literarischen Erzählen selbst verankern. Die besondere Leistung historisch-fiktionaler Texte der Gegenwart liegt darin begründet, die Fiktionalisierung der Historie ebenso zu reflektieren wie die der Geschichtsschreibung inhärenten fiktionsstiftenden Merkmale. Bisherige Forschungspositionen, die den ›anderen‹ historischen Roman als kritisches Instrument begreifen, den grundsätzlichen Hiatus zwischen Geschichte und Fiktion sichtbar zu machen, möchte die vorliegende Studie erweitern: Sie lässt sich von der Prämisse leiten, dass dieser Hiatus in dem Geschichtsbegriff begründet liegt, den die Gattung kritisch prüft und dessen Reflexion ihre Teilhabe am Geschichtsdiskurs der Gegenwart unterstreicht.














I. Teil: Von der Geschichte zum Text

2 Erzählte Geschichte zwischen Aufklärung und Historismus



Die Problematisierung eines historisch-fiktionalen wie -faktualen Erzählens reicht an den Beginn der modernen Geschichtsschreibung und die Ausdifferenzierung des Geschichtsbegriffs im 18. und 19. Jahrhundert zurück. Die Entwicklung der Historik zur wissenschaftlichen Disziplin ist immer schon an die Frage gebunden, wie sich die sprachliche Konstitution der Historie mit ihrer gleichzeitig behaupteten epistemologischen Bedeutung vereinbaren lässt. Zudem lässt sich inzwischen eine »Rehabilitierung«1 des Rhetorischen in der Geschichtswissenschaft beobachten, die mit der Einsicht in die narrative Struktur historischen Wissens unmittelbar in jene Zeit zurückführt, die rhetorische Elemente noch nicht aus der Geschichte verbannt, sondern als eines ihrer konstitutiven (wenngleich nicht unproblematischen) Merkmale angesehen hat.



Für die Wiederbelebung der sogenannten

Aufklärungshistorie

 sprechen jene Forschungsunterfangen, die sich in den letzten Jahren den Anfängen der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft gewidmet und zahlreiche der um 1800 erschienenen Texte mit Blick auf die Problematisierung eines historischen Erzählens im Anschluss an die Thesen Hayden Whites neu geprüft haben. Der Fokus wurde dabei weniger auf die tatsächliche historische Erkenntnis durch historiografische Texte als vielmehr auf die Darstellungsform historischer Wissensvermittlung gelegt, mithin auf das Erzählen der Geschichte. Die daraus resultierende Forschungskontroverse lässt sich exemplarisch anhand zweier Studien beschreiben, die im Abstand weniger Jahre veröffentlicht worden sind: Zum einen legt der Germanist Daniel Fulda 1996 eine Dissertation vor, die unter dem programmatischen Titel

Wissenschaft aus Kunst

 den Interferenzbereich zwischen Geschichte und Literatur im 18. Jahrhundert beleuchtet.2 Fulda leitet die Etablierung der modernen Historiografie aus poetologisch-ästhetischen Diskussionen des 18. Jahrhunderts her, indem er deren »weitreichende Folgen für die Selbstwahrnehmung beider Wissensformen im 19. Jahrhundert« nachzuweisen sucht.3 Die nicht minder programmatisch argumentierende Dissertation

Geschichtsschreibung oder Roman

 des Historikers Johannes Süssman (2000) wendet sich entschieden gegen Fuldas Thesen, die seines Erachtens »ein durch und durch schiefes Bild vom Verhältnis zwischen Geschichtsschreibung und Roman« vermitteln.4 Im Gegensatz zu Fulda sucht Süssmann, in kritischer Auseinandersetzung mit den Thesen Hayden Whites, einen Erzählbegriff zu profilieren, der nicht zwangsläufig an ein literarisches Erzählen gekoppelt ist, sondern an Kategorien des Erzählens, die »zwar zuerst an fiktonalen Erzählungen erkannt und beschrieben wurden, nur deswegen aber keineswegs selbst fiktionaler Natur sind.«5 Eine Ästhetisierung der Historie durch das Erzählen bestreitet Süssmann ebenso wie die vermeintliche Fiktionalität der Geschichtsschreibung – wenngleich er selbst relativierend einräumen muss:



Es gibt kein absolutes Kennzeichen, das Geschichtsschreibung und Geschichtsdichtung, pragmatische und fiktionale Texte voneinander unterscheidet. Alle Erzählmerkmale, die man konventionellerweise für solche Kennzeichen halten möchte, erweisen sich bei näherem Hinsehen als uneindeutig.6



Dennoch hält Süssmann an einer klaren Differenzierung zwischen literarischem und historischem Erzählen von Beginn der Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert an fest: Er schlägt vor, den Status der Texte über die Art ihres Gebrauchs, mithin die von ihnen intendierte Wirkungsabsicht zu definieren, welche er allem voran von der Beschaffenheit der Erzählinstanz abzuleiten versucht.7 Diese nämlich stelle, so Süssmann, endlich ein »immanentes Kriterium für die Beurteilung der verschiedenen Textsorten« zur Verfügung, entscheide über Wissenschaftlichkeit oder Unwissenschaftlichkeit des jeweiligen Textes und führe zu einer inneren Konstitutionslogik historiografischer Texte, die stets der »größtmögliche Annäherung an die historische Wahrheit« verpflichtet sei.8



Diese hier kurz skizzierte Kontroverse erweist sich in zweifacher Hinsicht als repräsentativ im Hinblick auf die gegenwärtig literatur- wie geschichtswissenschaftlich virulent gewordene Frage nach dem Verwandtschaftsverhältnis von Literatur und Historiografie: Zum einen, weil sich beide der dargestellten Positionen ganz grundsätzlich auf die oft beschworene »Sattelzeit«9 des auslaufenden 18. Jahrhunderts beziehen und nicht zufällig von hier aus ihre Argumentation entwickeln. Zum anderen, weil die Kontroverse zwischen dem Germanisten Fulda und dem Historiker Süssmann die anhaltende Brisanz der Debatte und damit einhergehende, fachspezifisch begründete Sensibilisierungen vor Augen führt.





2.1 Literatur und Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert



In seinem

Versuch einer Critischen Dichtkunst

 entwirft Johann Christoph Gottsched unter Berufung auf Aristoteles ein Mimesis-Konzept, das den Poeten als »geschickte Nachahmer aller natürlichen Dinge« begreift.1 Dieser wirklichkeitsimitierende Charakter der Dichtung, so Gottsched, dürfe jedoch nicht voreilig zu einer Gleichsetzung von Dichter und Geschichtschreiber verleiten, denn:



Ein Geschichtsschreiber soll nicht nachahmen, was die Menschen zu thun pflegen oder wahrscheinlicher Weise getan haben koennten, thun sollten, oder thun wuerden, wenn sie in solchen Umstaenden befindlich waeren: sondern man fordert von ihm, daß er getreulich dasjenige erzaehlen solle, was sich hier und da, fuer Begebenheiten zugetragen haben.2



Hier schließt sich ein Vergleich des Dichters mit dem Geschichtsschreiber an, der um eine deutliche Aufwertung der Poesie bemüht ist, da diese, wie Gottsched bereits in seiner

Schauspiel-Rede

 (1729) betont, gerade aufgrund der ihr inhärenten Möglichkeit, Begebenheiten hinzuzuerfinden, »noch lehrreicher als die bloße Historie« sei.3 Wie annähernd sämtliche Dichtungstheoretiker des 18. Jahrhunderts beruft sich auch Gottsched auf die aristotelische

Poetik

 und die dort vorgenommene Differenzierung von Geschichtsschreibung und Dichtung:



Aufgrund des Gesagten ist auch klar, dass nicht dies, die geschichtliche Wirklichkeit <einfach> wiederzugeben, die Aufgabe des Dichters ist, sondern etwas so <darzustellen>, wie es gemäß <innerer> Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen würde, d.h., was <als eine Handlung eines bestimmten Charakters> möglich ist.



Denn ein │Historiker und ein Dichter unterscheiden sich nicht darin, dass sie mit oder ohne Versmaß schreiben , der Unterschied liegt vielmehr darin, dass der eine darstellt, was geschehen ist,│der andere dagegen, was geschehen müsste. Deshalb ist die Dichtung auch philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung. Die Dichtung nämlich stellt eher etwas Allgemeines, die Geschichtsschreibung Einzelnes dar.4



Gottsched unterstreicht die Aufwertung der Dichtkunst durch Aristoteles und verbindet dessen Urteil mit der eigenen Poetik der Nachahmung und dem Wirkungspostulat moralischer wie sittlicher Besserung. Während die Geschichtsschreibung dem »großen Haufe der Menschen viel zu mager und zu trocken« sei, vergegenwärtige die Dichtung gerade das »Mittel zwischen einem moralischen Lehrbuche, und einer wahrhaftigen Geschichte«, und ist, mit Gottsched »so erbaulich, als die Moral und so angenehm, als die Historie; sie lehret und belustiget, und schicket sich fuer Gelehrte und Ungelehrte«.5 Die

Historie

, bei Gottsched in ihrer zeitgenössisch typischen Bedeutung von ›Geschichtsschreibung, Geschichtsforschung, Geschichtsphilosophie und -theorie‹ verwendet,6 erzähle hingegen

 



lauter besondre Begebenheiten, die sich das tausendstemal nicht auf den Leser schicken; und wenn sie sich gleich ohngefaehr einmal schickten; dennoch viel Verstand zur Ausdeutung bey ihm erfordern wuerden.7



Deutlich wird, dass Gottsched hier von einem eng gefassten Geschichtsbegriff ausgeht, der Geschichte als die Summe einzelner Geschichten begreift – »lauter besondre Begebenheiten« eben, die noch auf keinen übergeordneten kohärenzstiftenden Kollektivbegriff verweisen, sondern das subjektiv Erfahrene lediglich aneinanderreihen.



Die deutliche Bevorzugung der Dichtung vor der Geschichtsschreibung entspricht einem zeitgenössischen Konsens: Einen informativen Überblick über die anerkanntesten Poetiken des 18. Jahrhunderts (Gottsched, Bodmer, Breitinger, Batteux/Ramler, Lessing) stellt Michael Meyer seiner Dissertation zur Entstehung des historischen Romans voran. Er untersucht deren Abgrenzungsversuche von der zeitgenössischen Geschichtsschreibung und kommt zu dem Ergebnis, dass die Dichtung insgesamt als die der Historiografie überlegene Gattung bewertet wird, sowohl in poetischer wie auch in moralischer und philosophischer Hinsicht. Während sich die Autoren, so Meyer, meist einig seien in ihrer Ablehnung einer ›poetischen‹ Form’ der Geschichtsschreibung, räumen sie der Dichtung durchaus die Möglichkeit ein, ihrerseits historische Stoffe zu verwenden.8



Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, wie Gottsched mit der Einsicht umgeht, dass Geschichte und Literatur durch die sie jeweils ausmachenden narrativen Strukturen unweigerlich verbunden sind. Er fasst die unter Umständen durchaus ›poetisch‹ anmutenden Eigenarten der Geschichtschreibung explizit nicht als Merkmal derselben auf, sondern wertet sie gleichsam als ›Fremdanleihen‹ aus der Dichtkunst, denn: »icht alles, was ein Geschichtsschreiber thut; das thut er als ein Geschichtsschreiber.«9 Zwar müsse der Historiograf nach Gottsched auch die »Regeln der Sprachkunst« berücksichtigen, dies aber nicht, weil die Rhetorik tatsächlich »zum Wesen der Historie« gehöre, sondern die Geschichtsschreibung auf eine ihrem Wesen genuin fremde Grammatik angewiesen sei, die wie die Dichtkunst bestimmten Regeln unterliege.10 Gerade »Bilder und erdichtete Erzaehlungen dadurch ein wenig anmuthiger zu machen.«11 Geschichtsschreibung, so lautet die Schlussfolgerung Gottscheds, ist qua natura nicht poetisch – sollte sie dennoch versuchen es zu sein, belege dies nur ihre erneute Unterlegenheit der Dichtkunst gegenüber, da der Historiker offenbar »einer andern Kunst Huelfe braucht, seine Arbeit zur Vollkommenheit zu bringen.«12 Dieses Streben nach poetischer Vollkommenheit bleibt mit Gottsched ausschließlich dem Dichter vorbehalten, »weil es einem aufrichtigen Verfasser historischer Nachrichten nicht zusteht; das geringste in den wahren Begebenheiten zu aendern, auszulassen oder hinzuzusetzen.«13



Hier fällt Gottsched ein Urteil, das ihn – ungeachtet ihrer Auseinandersetzungen in poetologischen und wirkungsästhetischen Fragen – mit Gotthold Ephraim Lessing verbindet, der in seinem

52. Literaturbrief

 (1759) ebenfalls Dichter und Geschichtsschreiber voneinander abgrenzt:



Ich kann Ihnen nicht Unrecht geben, wenn Sie behaupten, daß es um das Feld der

Geschichte

 in dem ganzen Umfange der deutschen Litteratur, noch am schlechtesten aussehe. Angebauet zwar ist es genug; aber

wie

? – Auch mit Ihrer Ursache, warum wir so wenige, oder auch wohl gar keinen

vortrefflichen

 Geschichtschreiber aufzuweisen haben, mag es vielleicht seine Richtigkeit haben. Unsere schönen Geister sind selten Gelehrte, und unsere Gelehrte selten schöne Geister. Jene wollen gar nicht lesen, gar nicht nachschlagen, gar nicht sammlen ; kurz, gar nicht arbeiten: und diese wollen nichts, als das. Jenen mangelt es am Stoffe, und diesen an der Geschicklichkeit ihrem Stoffe eine Gestalt zu erteilen.



Unterdessen ist es im Ganzen recht gut, daß jene sich gar nicht damit abgeben, und diese sich in ihrem wohlgemeinten Fleiße nicht stören lassen.14



Geschichte meint mit Lessing das vergangene Geschehen (

res gestae

), das als Sujet einer Erzählung unweigerlich zum »Umfange der deutschen Literattur« gezählt werden müsse. Die Differenzierung zwischen wissenschaftlich-historischen und historisch-fiktionalen Texten geht bei ihm in dem der Dichtung zugeordneten Begriff der Erzählung auf. Dennoch ist auch Le

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