Geschichte im Text

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Mit Hermann J. Sottongs Studie zum historischen Erzählen von der Goethezeit zum Realismus erscheint 1992 eine Arbeit, die zunächst harsche Kritik an der bis dahin erschienenen Forschungsliteratur übt.44 Diese bezieht sich insbesondere auf die zu dominante Rolle, die den Romanen Scotts im Bemühen die Gattung zu bestimmen eingeräumt wurde. Damit ignoriert Sottong allerdings die Versuche der Forschung, Scotts Einfluss auf Form und Aussehen der Gattung zu relativieren, wie sie von Geppert, Reitemeier und Kebbel unternommen wurden. Hier zeigt sich im Übrigen, dass die Dominanz der Scott’schen Vorlage nicht allein in der literarischen Wirkungsgeschichte seiner Texte, sondern auch in einer Gattungsforschung begründet liegt, die nicht müde wird, die Vorreiterrolle des Schotten im Kontext der Gattungsgeschichte und -entwicklung zu betonen.

Sottong strebt seinerseits eine Revision der Gattungsdefinition an, indem er diese als »kulturrelativ« begreift und sie ausgehend von der Analyse einzelner Texte und epochenspezifisch zu schärfen versucht. Vor diesem Hintergrund gelangt er zu einer Definition des Genre »Historisches Erzählen« (das hier das historisch-fiktionale Erzählen meint), das drei Bedingungen erfüllen müsse: 1. Die dargestellten Ereignisse müssen in der Vergangenheit liegen, wobei der Erzählabstand zum dargestellten Zeitraum nicht generalisierend festzulegen, sondern abhängig »vom Denksystem derjenigen Kultur« sei, in welcher der historisch-fiktionale Text entstehe. Die auf Scotts Waverley zurückgehende Vorgabe von sechzig Jahren verweist mit Sottong auf das spezifische Geschichtsverständnis Scotts, nicht aber auf eine die Gattung dominierende Norm.45 2. Der Text müsse die aus der nachzeitigen Erzählsituation resultierenden historischen Unterschiede zwischen dargestellter und zeitgenössischer Kultur explizit machen, da nicht jeder Text, der in der Vergangenheit spiele, automatisch zum »historischen Erzählen« gehöre.46 3. Der Text müsse »implizite oder explizite geschichtstheoretische Aussagen« beinhalten. Geschichtstheoretisch nennt Sottong jene Äußerungen, die in historisch-fiktionalen Texten den Geschichtsbegriff, seine Entwicklung und seinen Fortschritt selbst verhandeln und damit »Erklärungsangebote für die innere Logik geschichtlicher Abläufe (im allgemeinen und/oder besonderen« unterbreiten.47 So ambitioniert Sottongs Bemühen um eine präzise Bestimmung historisch-fiktionalen Erzählens aus den Texten einer Epoche heraus auch ausfällt und so richtig sein Urteil über den recht unergiebigen »literarischen Dauerstreit«48 über den Gattungsbegriff anmutet, der in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Beschäftigung mit den Texten selbst stünde: Letztlich fällt auch Sottongs eigener Definitionsversuch hinter die Ergebnisse einer Forschung zurück, die in ihrer Auseinandersetzung mit dem ›anderen‹ historischen Roman bereits auf die selbstreferenziellen Bezüge und autoreflexiven Implikationen historisch fiktionaler Texte hingewiesen hatte, welche für die Entwicklung der Gattung maßgeblich sind.

Bei der Dissertation Ralph Kohpeiß’, veröffentlicht 1992, handelt es sich um einige der wenigen und zugleich jüngsten Studien zum deutschsprachigen historischen Roman der Gegenwart. Diesen sucht Kohpeiß zunächst in einem knappen Überblick über die Literatur nach 1945 und schließlich durch exemplarische Einzelanalysen zu Texten zwischen 1979 und 1989 zu erfassen. Er schlägt eine Gattungsdefinition vor, die als zentrale Elemente eines »definitorischen Minimalkonsens’« Fiktionalität, ästhetische Verfasstheit sowie historische Referenz festhält und zu einem pragmatischen Bestimmungsversuch führt:

Der historische Roman ist ein Sprachkunstwerk, dessen Spezifikum darin liegt, daß es historisch authentische Personen und/oder Tatsachen in einen literarisch-fiktionalen Rahmen integriert.49

Als Fazit aus seiner Betrachtung stellt Kohpeiß für den historischen Roman der Gegenwart einen »gegenwartsorientierte[n], kritisch-aufklärerischen[n] Umgang mit der Historie« fest, »der sich der spezifischen Probleme des historischen Erzählens bewußt bleibt«.50 Problematisch, zumindest aber nicht zutreffend hinsichtlich der Gattungsentwicklung im 21. Jahrhundert bleibt Kohpeiß’ Befund, dass die Geschichte »in einigen Texten auf die Funktion eines Ambientes reduziert oder aufs Formelhafte verkürzt« werde und eine Auseinandersetzung mit – bzw. eine Gestaltung von Geschichte weitgehend ausbleibe.51 Tatsächlich lassen sich gerade die Reduktion historischer Daten sowie die von Kohpeiß konstatierte komplexe Erzählhaltung, die Muster traditionellen Erzählens sprenge, keineswegs als bloße Marginalisierung der Historie deuten. Vielmehr sind sie auch als Signale einer bewussten Problematisierung historischen Wissens und historischer Erkenntnis im Medium der Literatur zu verstehen. Die selbstreferenzielle Bezugnahme historisch-fiktionaler Texte auf den eigenen Umgang mit der Geschichte, mithin die Thematisierung geschichtsstiftender narrativer Prozesse blendet Kohpeiß’ Studie aus – auch, weil sie sich von zeitgenössischen geschichtstheoretischen Diskursen relativ unbeeindruckt zeigt. Unerwähnt bleibt etwa Hayden Whites einflussreiche Studie Metahistory, die bereits in den 1980er Jahren nicht nur das geschichtswissenschaftliche Selbstverständnis neu ausrichtet, sondern zu einer theoretischen Problematisierung des Geschichtsbegriffs führt, wie sie seither Eingang in sämtliche Formen narrativer Geschichtsmodelle, darunter auch in die von der Geschichte erzählende fiktionale Literatur, findet.

Die aktuellste epochenübergreifende Einführung in den spezifisch deutschsprachigen historischen Roman verdankt sich Hugo Aust und seiner 1994 veröffentlichten Studie zur Gattung, die neben einem literaturhistorischen Überblick auch einen raumgreifenden Forschungsüberblick bietet. Einer engen Gattungsdefinition verweigert sich Aust, der einleitend feststellt: »Was ein historischer Roman ist, ändert sich mit dem, was ›Geschichte‹ bedeutet und Erzählkunst vermag.«52 In der Folge beschränkt er sich darauf, die »Geschichtssignale« aufzulisten, die historische Romane »für gewöhnlich« implizieren. Dazu gehören mit Aust etwa historische Daten, Figuren und häufig eine »temporale Individualisierung von Sprache«, die darum bemüht bleibt, die Figuren im historischen Gewand sprechen zu lassen. Darüber hinaus begegne, insbesondere bei Autoren des 19., aber auch noch des 20. Jahrhunderts, ein Erzählervorwort, das die Nachzeitigkeit des Erzählvorgangs zum Erzählten sichtbar mache und zuweilen das seriöse historische Bestreben der erzählenden Figur unterstreiche. Typischerweise werde der historische Roman dabei mit einem ersten Satz eingeleitet, der durch Angabe eines Datums, eines genauen Ortes, historischer Figuren etc. »das Licht im Geschichtsraum« entzündet und bemüht ist, »eine Brücke zwischen Gegebenem und Erfundenem zu schlagen und so den Daten eine poetische Funktion zu verleihen.«53 Eine ähnliche Tendenz lässt sich mit Aust für das Romanende feststellen, das den Spannungsbogen an den Anfang zurückbindet und damit ein kohärentes historisch-fiktionales Erzählen ermöglicht. Dem Vorbild Scotts eifern, so zeigt Aust an einigen Beispielen vorrangig aus dem 19. Jahrhundert, jene Autoren nach, die ihre Texte mit Anmerkungen und Fußnoten versehen und dadurch Faktentreue und einen wissenschaftlichen Anspruch simulieren, der sich die hybride Anlage der Gattung, dieses »episch-wissenschaftlichen Zwitters« verdankt.54 Hinsichtlich der im historischen Roman (mit Aust auch Geschichtsroman) erzählten Handlung finden sich, so Aust weiter, häufig politische Handlungen der realen Vergangenheit, die mit privaten Handlungen einer fiktiven Geschichte kombiniert werden: »Geschichte wird dadurch zum Integral unterschiedlicher ›Werte‹, sie gewinnt ihre konkrete Position im Koordinatenraum von Historischem, Ahistorischem und Fiktivem.«55 Insgesamt zeigt sich Austs Studie bemüht, die Gattung nicht auf eine allzu enge Begriffsdefinition zu reduzieren. Entsprechend führt er verschiedene Formen des historischen Romans an, die insgesamt das Bild der Gattung bestimmen und dabei nur schwerlich klar zu differenzieren sind. Dazu gehören etwa der Zeit- und Familienroman, die Familienchronik, die Autobiografie und die Memoirenliteratur, die sich mit Aust allesamt als Varianten der Gattungsgeschichte deuten lassen. Darüber hinaus unterscheidet er zwischen historischem »Vielheitsroman« und historischem »Individualroman«, der im Gegensatz zu ersterem näher an die biografische Form rücke. Entscheidend mit Blick auf die Gegenwart der Gattung erweist sich Austs Differenzierung von »rekonstruktivem« und »parabolischem« historischen Roman, die er selbst an die von Geppert eingeführte Unterscheidung zwischen »üblichem« und »anderem« historischen Roman anlehnt. Während es der rekonstruktiven Variante der Gattung um eine »möglichst authentische Wiederherstellung einer früheren geschichtlichen Person, Epoche oder Welt« gehe, inszeniere der parabolische Roman Geschichte auch als »Spiegel für die Gegenwart« und sei keineswegs um ein harmonisches ineinander Aufgehen von Fiktion und Historie bemüht, sondern demonstriere vielmehr ausgeprägte desillusionistische Tendenzen.56

In Austs Zusammenfassung des Forschungsstands zur Gattung57 bestätigen sich jene Tendenzen, die auch der vorliegende Forschungsüberblick bislang offen legen konnte: Die Produktion historisch-fiktionaler Literatur zwischen 1780 und 1945 ist hinlänglich dargestellt und bibliografisch erfasst worden, nicht zuletzt durch das vom österreichischen Forschungsfonds FWF geförderte und am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck in den Jahren 1991 bis 1997 durchgeführte Projekt zum deutschsprachigen historischen Roman. Im Kontext dieses quantitativ orientierten Projekts wurde eine Datenbank mit einer vollständigen Bibliografie des historischen Romans online gestellt, die ca. 6300 Titel aufführt.58 Zur Gattungstheorie können die Ergebnisse des Projekts kaum beitragen, lautet sein erklärtes Ziel doch, den deutschsprachigen historischen Roman von 1780 bis 1945 möglichst vollständig bibliografisch zu erschließen, um damit eine »sozialhistorisch und literatursoziologisch fundierte Gattungsgeschichte zu verfassen, die nicht nur den gängigen Kanon der bekannten historischen Romane sondern die ganze Breite des Genres berücksichtigt«.59 Angesichts der oben beschriebenen, mitunter kontroversen Bestimmungsversuche der Gattung erstaunt die äußerst pragmatische Definition, die das Projekt dem von ihm verwendeten Gattungsbegriff zugrunde legt. Eine entsprechende Kurzvorstellung verweist auf gängige Definitionen der Gattung Roman sowie auf die vermeintlich »anerkannte« Definition der Anglistin Ina Schabert, wonach »die Romanhandlung nicht ›Selbsterlebtes und Erinnertes‹ enthalten dürfe.«60 Darüber hinaus führt das Projekt all jene Texte auf, die sich selbst im Titel als »historische Romane« oder »Geschichtsromane« bezeichnen. Eine nicht unbedingt ausführlichere, aber zumindest etwas präzisere Definition findet sich in dem von Günter Mühlberger und Kurt Habitzel verfassten Beitrag, der die Ergebnisse des Projekts und die Verwendung der Datenbank erläutert.61 Einleitend räumen die Autoren zwar ein: »The question of what a historical novel really is remains debatable.«, plädieren im Anschluss aber für eine pragmatische Definition, welche ihres Erachtens für die bibliografische Recherche die einzig sinnvolle ist. So gelangen sie zu folgender Kurzdefinition: »A historical novel is a work of prose fiction of at least 150 pages, set, for the most part, in a time before the author’s birth.«62 Ausgehend von dieser Minimaldefinition wurden im untersuchten Zeitraum 6300 Romane gefunden und in die online zur Verfügung gestellte Datenbank aufgenommen. Fällt das Projekt mit seiner unspezifischen Gattungsdefinition aus gattungstheoretischer Perspektive weit hinter die Differenzierungen der Forschung zurück, so sensibilisiert der raumgreifende Überblick dennoch für einige Beobachtungen, die bislang vernachlässigt wurden. Tatsächlich besteht das eigentliche Ziel des Forschungsvorhabens nicht in einer erneuten Problematisierung der Gattung als vielmehr in dem Erstellen einer Bibliografie und dem Sammeln wichtiger sozialhistorischer Daten zur Produktion, Distribution und Rezeption der historischen Romane, die anschließend mittels eines Statistik-Programms ausgewertet und interpretiert wurden. Die in dem Zusammenhang erstellten Diagramme vergegenwärtigen exemplarisch den Mehrwert quantitativer Gattungsanalysen und zeigen, dass entgegen häufiger Forschungsmeinungen die Produktion historischer Romane gemäß der vorausgesetzten Gattungsdefinition deutlich vor der Erfolgswelle der Scott’schen Romane einsetzt, wenngleich ein erster Höhepunkt sichtbar erst in den 1820er Jahren erreicht wird.63 In Bezug auf den historischen Roman der Gegenwart begnügen sich Mühlberger und Habitzel mit einem kurzen Ausblick vorrangig auf die 80er Jahre und auf Veröffentlichungen wie Sten Nadolnys Entdeckung der Langsamkeit (1983), Patrick Süskinds Das Parfum (1985) oder Christoph Ransmayrs Die letzte Welt (1988). Eine Differenzierung zwischen traditionellem und ›anderem‹ historischen Roman, zwischen jenen literarischen Modellierungen also, die für das historisch-fiktionale Erzählen der Gegenwart an Relevanz gewinnen, bleibt hingegen ausgespart – das Forschungsdesiderat, das mit Blick auf das Genre für die Jahre nach 1989 besteht, wird dadurch nicht angegangen, sondern vielmehr bestätigt.

 

Die insgesamt auffallend zurückhaltende Thematisierung historisch-fiktionalen Erzählens in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, sowie im Besonderen nach 1989, lässt sich mit einem noch immer problematischen Gattungsvorverständnis begründen, das sich oftmals unbeeindruckt von den stattgefundenen Differenzierungsversuchen zeigt. Verantwortlich ist zum einen der vermeintlich prekäre, zwischen ernstzunehmender und so genannter Trivialliteratur angesiedelte Standort der Gattung, zum anderen steht das in der Gegenwart kaum noch homogene Erscheinungsbild historisch-fiktionaler Texte dem Ringen um einen eng geführten Gattungsbegriff weiterhin im Weg.

Für eine grundsätzliche Neuausrichtung gattungstheoretischer Überlegungen zum historischen Roman sorgt die 1995 erschienene zweibändige Habilitationsschrift des Angloamerikanisten Ansgar Nünning, wenngleich sie weniger Spuren in germanistischen Auseinandersetzungen als innerhalb der Anglo-Amerikanistik hinterlassen hat. Von entscheidender Relevanz für die vorliegende Untersuchung erweist sich insbesondere der erste Band der Studie, der sich ausgehend von geschichtstheoretischen Diskursen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an einer Typologie und Poetik des historischen Romans versucht, während der zweite Band exemplarische Einzelanalysen zum englischen Roman nach 1950 liefert.64 Entschieden kritisiert Nünning die einseitige Orientierung an dem Vorbild Scotts, das zu »willkürlicher Ausgrenzung anderer Formen der Geschichtsdarstellung« in Romanen geführt habe und benennt die zentrale Problematik der Gattung, die allem voran in einem Missverhältnis zwischen einer landläufig etablierten Vorstellung der Gattung und ihren gegenwärtig tatsächlich konstitutiven Merkmalen liege.65 Die grundlegende Forderung Nünnings besteht darin, jeder Form der Auseinandersetzung mit historisch-fiktionalen Texten eine Untersuchung dessen, »was jeweils als ›Geschichte‹ angesehen wird«, vorauszuschicken und dabei den Konstruktionscharakter nicht nur der fiktionalisierten Geschichte zu berücksichtigen, sondern der Geschichte als narrativ repräsentiertem und damit immer auch schon gedeutetem Geschehen der Vergangenheit.66 Folglich plädiert Nünning für einen gattungstheoretischen Ansatz, der zum einen geschichtstheoretische Diskurse und zum anderen die narrativen Techniken, mithilfe derer Geschichte erzählt wird, in den Blick nimmt – alternativ zur Bezeichnung »historischer Roman« schlägt er entsprechend die Kategorie »Vermittlungsformen narrativ-fiktionaler Geschichtsdarstellung« vor.67 Vor diesem Hintergrund skizziert Nünning nun eine Skala, die eine Differenzierung historisch-fiktionaler Texte im Hinblick auf ihren Zeitbezug, die verschiedenen Formen und Ebenen der Geschichtsvermittlung und schließlich auf das Verhältnis des fiktionalen Geschichtsmodells zum Wissen der Geschichtsschreibung erlaubt. Am Anfang der Skala siedelt Nünning jene Texte an, die bislang mit dem Begriff des ›traditionellen‹ historischen Romans erfasst wurden, deren dominanten Referenzbereich die historisch verbürgten Fakten bilden und deren Geschichtsdarstellung sich vorrangig auf die diegetische Kommunikationsebene beschränkt.68 Dieser Variante oppositionell gegenüber befinden sich historische Romane, die durch starke selbstreferenzielle Implikationen die extradiegetische Kommunikationsebene, fiktionale sowie metafiktionale Elemente stärker in den Text einbringen als das historische Geschehen, auf das sie sich beziehen. Der eigentliche Referenzbereich ist hier nicht mehr die vermeintlich verbürgte Vergangenheit, sondern Diskurse und Prozesse der Geschichtstheorie und der Historiografie selbst. Insgesamt gelangt Nünning so zu einer Typologie des historischen Romans, die von fünf Varianten ausgeht, welche sich auf der von ihm entworfenen Skala einordnen lassen. Am Beginn derselben befinden sich der dokumentarische historische und der realistische historische Roman, in der Mitte siedelt sich der revisionistische historische Roman an, und schließlich folgen der metahistorische Roman sowie die historiografische Metafiktion. Offenbar ordnet Nünning die ersten beiden Subtypen noch dem ›traditionellen‹ historischen Roman zu, während die Varianten 3–5 bereits Spielarten des ›anderen‹ historischen Romans in der Nachfolge Gepperts darstellen.69 Dessen innovative und nicht unbedingt homogene Erscheinungsformen erarbeitet Nünning am Beispiel englischer Literatur im zweiten Teil seiner Studie. Den Begriff der historiografischen Metafktion übernimmt Nünning von der kanadischen Literaturtheoretikern Linda Hutcheon, die ihn wie folgt definiert:

By this I mean those well-known and popular novels which are both intensely self-reflexiv and yet claim to historical events and personages. […] its theoretical self-awareness of history and fiction as human constructs (historiographic metafiction) is made the grounds for its rethinking and reworking of the forns and contents of the past.70

Der Begriff der »Metafiktion« im Kontext historischen und historiografischen Erzählens avancierte in der anglo-amerikanistischen Forschung rasch zum einflussreichen Schlagwort, das wie in Nünnings Habilitationsschrift insbesondere unter Bezugnahme auf den historischen Roman weiterentwickelt wurde. Ohne die Nünning’sche Kategorisierung zwangsläufig mit sämtlichen ihrer Varianten zu übernehmen,71 fühlt sich die vorliegende Studie dennoch seiner grundlegenden Prämisse verpflichtet, den literaturwissenschaftlichen Blick auf die Gattung des historischen Romans vom »Was« (dem historischen Referenzbereich) auf das »Wie« (den narrativen Prozess der Geschichtsvermittlung) zu verlagern und die einzelnen Texte dabei auch als Aussagen über das zu ihrer Entstehungszeit herrschende Geschichtsbewusstsein zu verstehen.

An der Schwelle zum 21. Jahrhundert hat sich der historische Roman weit entfernt von den Anfängen der Gattung, den Romanen Walter Scotts oder den geschichtsvermittelnden historisch-fiktionalen Texten des 19. Jahrhunderts. Entsprechend konstatiert Hugo Aust in seinem 2004 erschienenen Beitrag zum historischen Roman im 20. Jahrhundert noch einmal die grundlegend veränderte Erscheinungsform der Gattung und stellt fest, dass der historische Roman »zur (produktiven) Infragestellung seiner eigenen Voraussetzungen« geworden sei.72 Nünnings Thesen aufnehmend unterstreicht Aust die metafiktionalen und selbstreflexiven Implikationen des Genres, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu konstitutiven Gattungsmerkmalen avancieren, wobei die Gattungsdefinition mit Aust grundsätzlich erschwert sei, da zum einen nicht jeder historische Roman als solcher angekündigt werde und zum anderen »Romane, die durchaus historische Romane sind, sich ausdrücklich von diesem Gattungstitel distanzieren«.73 Tatsächlich wird an späterer Stelle auf das auffällige Unbehagen zahlreicher Gegenwartsautoren angesichts einer Kategorisierung ihrer eigenen Texte als »historische Romane« eingegangen. (Vgl. Kap. 5.2) Diese Angst fällt umso mehr auf, als sie von einer Konjunktur historischer Themen in der Literatur des ausgehenden 20., insbesondere des beginnenden 21. Jahrhunderts begleitet wird. Mit Aust bleibt es eine besondere Leistung des historischen Romans im Verlauf des 20. Jahrhunderts, Instrumente der Geschichtskonstruktion, des historischen Wissenserwerbs und nicht zuletzt der Erinnerungsarbeit offenzulegen: »Erinnerung und Vergessen – sie durchziehen den Geschichtsroman des zwanzigsten Jahrhunderts von Anfang bis Ende.«74 Mit dem von Aust aufgeworfenen Erinnerungsdiskurs ist eines der Leittopoi historisch-fiktionaler Texte um die Jahrtausendwende angesprochen: Es wird sich im Verlauf der literarischen Analysen zeigen, dass historische Romane der unmittelbaren Gegenwart nicht nur unterschiedlichste Formen von Erinnerung und Gedächtnis thematisieren, sondern dabei zugleich das mitunter problematische Verwandtschaftsverhältnis von Geschichte und Erinnerung diskutieren.

Dass sich der historische Roman der Gegenwart entscheidend von seinen Vorläufern im 19. Jahrhundert abgrenzt, dokumentiert die 2007 erschienene komparatistische Untersuchung Barbara Potthasts zum historischen Roman des 19. Jahrhunderts.75 Potthast zeigt, wie in Romanen des 19. Jahrhunderts ein Geschichtsbegriff verhandelt wird, der die Fakten der Vergangenheit sowie den Auftrag des literarischen Textes, diese authentisch abzubilden, ernst nimmt. Die Gattung sei, so stellt Potthast heraus, hier noch einer unbedingten »Wirklichkeitsnähe« verpflichtet, welche sich etwa in den Romanen Wilhelm Hauffs im dort entwickelten Ideal des »treu poetische[n] Bild des Lebens« stellvertretend wiederfindet.76 Ziel der Gattung im 19. Jahrhundert ist es mit Potthast aber dennoch, Geschichte und Leben miteinander zu verbinden und zugleich eine genuine Verwandtschaft von Historiografie und Literatur zu behaupten – eine Verwandtschaft, die Potthast als Antizipation der Thesen Hayden Whites versteht.77

Mit Martin Neubauers Studie zu Geschichte und Geschichtsbewusstsein im Roman der Jahrtausendwende erscheint 2007 schließlich die bislang aktuellste Monografie zum deutschsprachigen Roman der jüngsten Gegenwart.78 Dass im Titel der Gattungsbegriff nicht auftaucht, verweist auf das gegenwärtige Unbehagen eindeutiger Kategorisierungen und vorbelasteter Genrezuschreibungen, das von den Autoren historisch-fiktionaler Texte und literaturwissenschaftlicher Positionen gleichermaßen ausgetragen wird. Neubauer seinerseits verweigert sich einer Gattungsdefinition ganz und lässt darüber hinaus die inzwischen fast kanonische Ausdifferenzierung zwischen traditionellem und ›anderem‹ historischem Roman unberücksichtigt. Gerade diese Unterscheidung hätte sich jedoch angeboten, um den mit Neubauer »trivialen historischen Roman«, den er einer »breiter rezipierten Unterhaltungsliteratur« zuordnet, von den durch Kritik und Wissenschaft gleichermaßen kanonisierten Texten abzugrenzen.79 Neubauer hingegen bezieht bewusst Beispiele aus der unterhaltenden Literatur in seine weit über dreißig Textanalysen mit ein und kommt entsprechend zu wenig homogenen Schlussfolgerungen, die Fragen der Metafiktionalität und Selbstreflexivität der Texte nur randständig behandeln.

 

Für die Gegenwart lässt sich mit Blick auf den historischen Roman bzw. historisch-fiktionale Texte festhalten: Dort, wo diese Texte nicht voreingenommen der Trivialliteratur zugerechnet werden, vermitteln sie das Bild einer Gattung, die gerade explizit mit dem literarischen Diskurs verknüpfte Begriffe reflektiert (Narrativität – Selbstreflexivität – Fiktionalität) und damit grundlegende Aussagen zum Literaturbegriff der Gegenwart formuliert. Zugleich ist die Frage nach dem ›historischen Gehalt‹ im Allgemeinen wie der Authentizität literarisch vermittelter historischer Ereignisse im Besonderen in den Hintergrund gerückt. Entsprechend vage müssen Definitionsansätze der Literaturwissenschaft ausfallen, wenn sie das, was einen Roman zum historischen macht, zu bestimmen suchen. Bezeichnenderweise stößt man in der unlängst erschienenen Dissertation Erik Schillings zum historischen Roman seit der Postmoderne ausgehend von Texten Umberto Ecos auf eine nur noch weit gefasste Definition, die auf eine zeitliche Grenzziehung im Sinne der Scott’schen sixty years since ganz verzichtet und solche Texte als historische Romane auffasst, »die in wenigstens einem für die Handlung fundamentalen Erzählkern auf einem historischen Ereignis, einer historischen Persönlichkeit oder einem historischen Text beruhen.«80 Das Attribut »historisch« kennzeichnet mit Schilling keine temporale Einordnung, sondern meint ein Ereignis, das »keine unmittelbaren und kollektiv wahrzunehmenden Konsequenzen mehr für die Gegenwart hat.«81 An dieser Stelle aber wird es schwierig mit dem Definitionsvorschlag Schillings, insbesondere sichtbar gemacht durch seine kurze Analyse von Ulrike Draesners Roman Spiele, einem Text über die Geiselnahme bei den Olympischen Spielen in München 1972. Draesners Roman, der 2005 erscheint, fällt einerseits mit einem reduzierten Erzählabstand zum dargestellten historischen Sujet auf, welches damit eher der Zeitgeschichte als der Historie zugerechnet würde. Zum anderen bleibt fraglich, ob Olympia ’72 tatsächlich keine unmittelbaren und kollektiv wahrzunehmenden Konsequenzen nach sich zieht – zumindest der Roman selbst, dem es gerade um die Verwebung von Mikrohistorie und Makrohistorie geht, stellt dies in Frage. Darüber hinaus bestimmt eine andauernde, sowohl individuelle wie auch kollektive Wirkungskraft ein historisches Ereignis in seiner Geschichtlichkeit: Gerade der historische Roman der Gegenwart, soviel wird noch zu zeigen sein, macht das unmittelbare Fortwirken der Vergangenheit in der Gegenwart sichtbar, indem er die zeitlichen Ebenen konsequent miteinander verschränkt. (Vgl. Kap. 6.1.2)

Schilling behauptet in seiner Studie einen Paradigmenwechsel der Gattung nach der Postmoderne, der die ausgestellte Pluralität und Multiperspektivität historischen Wissens durch die Suche nach Identität ersetze, der »offene[n] Trias von Autor, Leser und Text« mit einer prominenten Erzählerfigur begegne und das Spannungsverhältnis von Historie und Fiktion »zugunsten einer Präferenz des Fiktionalen« auflöse.82 Die vorliegende Untersuchung stimmt einer Verortung der Gattung jenseits des Postmoderne-Begriffes zu, ohne dabei die von Schilling vorgenommene Differenzierung zwischen einem postmodernen und post-postmodernen historischen Roman sowie den soeben skizzierten Befund zu teilen: Im historischen Roman der unmittelbaren Gegenwart verbinden sich, so die hier verfolgte These, identitätsstiftende Themen mit der Problematik einer ausschließlich über polyvalente Wahrnehmungsprozesse zu erfassenden Wirklichkeit. Von einer prominenten, gar glaubwürdigen Erzählinstanz kann nicht die Rede sein, ebenso wenig von einer im Zeichen des Fiktionalen gründenden endgültigen Überwindung des Hiatus zwischen Historie und Fiktion.

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