Buch lesen: «Das Z im Knopf und die Axt im Gebälk»

Schriftart:

Stephan

Wilhelm Sommer

Das Z im Knopf und die Axt im Gebälk

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2013

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Copyright (2013) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei den Autoren

Lektorat: Hannelore Crostewitz

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Das Z im Knopf und die Axt im Gebälk

Tafelteil

Quellen

Vita von Stephan

Der Nachbar von jemandem zu sein ist eigentümlich und zufällig, doch durchaus beachtenswert. Leute soll es geben, die werden von ihren Nachbarn nie berührt und man begegnet sich wie Fremde. Da kann einer bereits am Sterben sein und der Nachbar weiß von nichts.

Was nicht heißt, dass es andersherum mit übertriebener, kriechender Nachbarschaft besser steht. Klar ist: Ausarten kann immer alles.

Bei mir aber ist das nicht so.

Mit Matti schon gar nicht. Matti, mein neuer Nachbar, ist Ende vierzig und Geschichtsforscher, sagt er. Ihm bleibt nur gelegentlich Zeit, dann allerdings stehen wir schon mal am Gartenzaun und klönen. Ein Wort ergibt das andere und eins überrascht uns ganz plötzlich – wir stammen aus Celle, Niedersachsen, aus derselben Region! Ist das zu fassen? Sind dort nur zu verschiedenen Zeiten aufgewachsen. Das brachte Matti eines Tages auf den Trichter, er würde gern mehr aus meinem Leben wissen wollen. Besonders aus dieser frühen Zeit. Ja, und wie sich das so ergibt, hab ich ihm aus meinen bewegten Kinder- und Jugendjahren eben dies und das erzählt …

Begonnen hatte dieses lockere Gespräch an der frischen Märzluft über den niedrigen Holzzaun hinweg und ich weiß noch, eines meinte ich gleich voranstellen zu müssen: dass, als ich, der Wilhelm Sommer, im Juli 1932 in Celle geboren wurde, völlig offen gewesen war, dass aus mir Sprößling ein Zimmermann werden würde. Und noch solcher mit Leib und Seele. Inzwischen bezweifle ich das. Lag es unterschwellig nicht doch schon in der Luft, damals?

Genauer allerdings weiß ich, was es hieß, zu der Zeit gerade in Celle geboren zu sein. Knall und Fall spürte ich das – was mich prägte. Mein Vater arbeitete damals dort im Ort bei der Firma Hans Waack als Zimmerpolier, hatte zuvor die Höhere Bauschule Hildesheim absolviert und als Hochbautechniker abgeschlossen.

Was war naheliegender, als dass er sein eigenes Dach über dem Kopf haben wollte? Das ergab sich vier Jahre später, indem er vom Bauern Heinrich Hemme ein mittelgroßes Stück Ackerland erwarb, das ihm der Geschäftstüchtige glatt als Bauland verkaufte. Auf diesen etwa achthundert Quadratmetern begannen wir mit dem Bau. 1936 war das gewesen.

Dabei muss ich klarstellen, auch, wenn „wir“ bauten, lief das alles ohne meinen Vater ab. Weil er fast nie da war.

Matti schüttelte ungläubig den Kopf.

Ohne ihn, wie geht das denn? Kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. War das nicht ein bisschen tollkühn. Heute mein ich, das wäre ausgeschlossen. Aber ich hab dich unterbrochen, also wie trug es sich zu, völlig ohne den Bauherrn?

Nun, es gingen uns statt seiner sämtliche Kollegen zur Hand, da kamen der Maurerpolier Ernst Henne, der Zimmerpolier Karl Lehne aus der Birkenstraße, Ernst Lüttloff aus Wietzenbruch und Heinrich Brammer, der den Spitznamen „Meesche Brammer“ aus dem „Texas“ trug. „Meesche Brammer“ sitzt bei mir bis heute tief im Gedächtnis, ist doch klar, ein Kind stiert unentwegt dahin, wenn einer ein steifes Bein hat. Obwohl das kein Holzbein war, sondern vom Krieg 1914-18 herrührte, wo ihm in Flandern einer ins Knie geschossen haben soll. Zumindest waren seine Geschichten dauernd dahingehend.

Alle diese Kollegen halfen uns ständig, kamen regelmäßig jeden Samstagnachmittag bis spät und Sonntagvormittag ging es gleich weiter. Woche für Woche.

Das ging solange, bis endlich das Richtfest näher rückte, das natürlich „ordentlich“ werden sollte und irgendwer den Richtkranz annagelte. Solange, bis das übermäßig große Schnapsglas traditionell von oben herunterdonnerte, weil das Zersplittern ein Muss war, und bis meine Mutter alle Mettbrötchen serviert und den Helfern das Flaschenbier gebracht hatte. An dem Tag war denn auch mein Vater zugegen, man hatte sich nach alter Gewohnheit zum Essen auf Bohlen niedergelassen. Ich, den alles Willi rief, war ziemlich aufgeweckt. Ein lebhafter Vierjähriger voller Neugier. Zur Feier des Tages hatte mich Mutter schick herausgeputzt, dass ich fast aussah wie ein Mädchen, vielleicht wünschte sie sich das insgeheim sogar. Jedenfalls hatte ich eine weiße Paillettenweste an und quirlte zwischen all und jedem überall herum mit meinem rothaarigen Wuschelkopf.

Plötzlich aber war meinem Vater diese Springlebendigkeit zu viel; er machte keine Fisimatenten: Komm her jetzt, es ist genug!“, verfrachtete er mich mitten im Fest auf den Fahrradkindersitz und ab ging es zum Herrenfriseur Paul Ramson, Ecke Neuenhäuser-/Breite Straße. Dort bekam ich ratzbatz „eine Platte geschnitten“, einzig und allein an der Stirn blieb ein winziger Büschel Haarschopf stehen. Überliefert ist, dass ich wie „ein Arsch mit Ohren“ ausgesehen haben soll. Meine Eltern jedenfalls stritten sich darüber. Und nicht zu knapp. Doch mir selber ging es bald nicht mehr darum, ich ertrug es zunehmend männlich, mit gezielt stolzem Jungentrotz.

Matti stellte es sich vor, ihm stand der Schalk ebenfalls im Gesicht, als er einwarf:

Damals ging man mit Kindern wirklich ziemlich rabiat um, an irgendein Mitspracherecht war wohl nicht zu denken?

Nein. Aber das war eben so und für mich ohnehin erst der Anfang. Weil wir ein paar Jahre darauf gleich nach Göpfritz zogen. Die Eltern, ich und meine drei Jahre jüngere Schwester Bringfriede. Göpfritz an der Wild. Das liegt in Österreich, unweit des Dorfes Döllersheim, in dem auch Alois und Klara Hitler lebten, die Eltern vom Adolf.

Dort erzählte man sich allerhand. Zum Beispiel, dass sich Alois kaum um seine Kinder gekümmert, ja, noch nicht mal mit ihnen geredet haben soll. Nachher dann, also nach dem Tod von Alois, soll Klara ganz weggezogen sein, irgendwohin in die Nähe von Linz.

Und wieder andere wussten, dass der junge Adolf Hitler eigentlich hatte Kunstmaler werden wollen, was aber daran gescheitert war, dass er die Aufnahmeprüfung an der Kunstschule nicht bestand …

Für mich wurde es ab 1938 ausnehmend schwierig. War ich doch zu den Großeltern väterlicherseits aufs Dorf nach Binder gekommen. Dieser Unterschied zwischen Stadt und Land! Ich spürte ihn sehr. Obwohl es ein beachtlicher Bauernhof war, dort bei Holle im Kreis Gandersheim. Ein Gehöft, das wie jedes seinen Milchbock vorm Haus hatte, aber auch, und das war auffallend, einen bemerkenswerten Giebel aufwies. Bis heute kann ich mich daran erinnern, wie – nachdem die Fächer des Fachwerks mit Lehm gefüllt – unser Giebel oben zusätzlich noch mal mit Ziegel behangen wurde. Weil ich selber mithalf.

1938, da warst du gerade sechs Jahre alt?

Matti erinnerte sich im Stillen an seinen eigenen Sohn, den er leider zu selten sah, dem Schwierigkeiten aber noch viel seltener begegnet waren. Obwohl sein Spross kürzlich schon sechzehn geworden war und die Berufswahl unweigerlich im Nacken hatte. Doch Willi bot Matti ein Bier an und hatte ihn rasch wieder in seine eigene Zeit zurückgeholt.

Ja, sechs war ich damals. Ursprünglich sollte ich hier bei den Großeltern in Binder die Volksschule, die eben eine Dorfschule war, besuchen. Zum Verständnis – es gab acht Jahrgänge in einer einzigen Klasse! Zu dem Schulbesuch aber kam es nie. Österreich sträubte sich, einen Reichsdeutschen zu unterrichten, zu der Zeit jedenfalls. Und der Dorfschullehrer Adolf Deppe, der als NSDAP-Mitglied immer in Uniform war, erklärte mir klipp und klar: „Du kannst dich gleich wieder nach Hause scheren, du bist sowieso noch nicht so weit. Das Schuljahr geht vom 1. Juli bis zum 30. Juni, du aber bist am 11. Juli geboren. Bist erst später dran und jetzt gar nicht schulfähig.“

Für mich war das fürchterlich! Meine im Kopf seit langem entstandene Schulwelt, auf die ich begierig spannte, brach mit einem Schlag zusammen! Rotz und Wasser habe ich geheult im Nach-Hause-Rennen, um mich in die Hände von Oma und Opa zu begeben, die eingehend trösteten. Was natürlich geschah, obzwar sich meine Oma lange schon – und daher mit Erfolg – um einen Tornister bemüht hatte. Einen auffälligen mit rotem Affenfell, dass es aussah, als seien der und ich von der Post. Du musst wissen, die Postautos waren damals nicht gelb, sondern rot.

Der Übergang von der Stadt zum Land fiel mir jedenfalls ungeheuer schwer. Es kam so eins zum anderen, Dinge von denen ich bislang nie was ahnte, sie kamen direkt auf mich zu.

Eines schönen Tages sagte mein Opa zu mir: „Nimm die beiden Braunen und gehe rüber zum Gut. Da ist der Veterinär und dem führe die Pferde vor, die wollen sie sehen.“

Also zog ich mit den gehalfterten Braunen los. Zuerst ging es durch die „Schwemme“, in den langsam abfallenden Teich, in dem man auch als Kind höchstens bis zum Bauch versank, um sich und dem Vieh die lehmigen Beine sauber zu waschen. Vom Umfang war unsere „Schwemme“ etwa zehn mal vier Meter und wurde von allen gleichartig genutzt, indem man sich in das sechzig Zentimeter tiefe Wasser einmal hinein- und genauso rückwärts wieder herausscherte. Ob mit Wagen oder nicht spielte keine Rolle. Jedenfalls geschah es mit allem, was Beine hatte. Und ich tat es eben mit den zwei Braunen.

Als ich etwas später dann im Gut angekommen war, übernahm irgendein Soldat die beiden Pferde und ließ sie neben sich eine Weile mitlaufen. Einmal hin und einmal her. Der Veterinär begutachtete sie unterdessen recht genau.

Plötzlich drehte sich der Veterinär um und herrschte mich an: „Die sind requiriert!“ und er gab mir statt der Tiere einen sogenannten „Passierschein“ für den Opa. Ich jammerte und weinte wie ein Schlosshund, wie ich nun ohne Zugpferde wieder nach Hause musste, bis mein Opa schließlich mit der Sprache herausrückte.

Na, ja, ich hab mir so was ähnliches schon gedacht. Aber du bist der rechte Mann für diese Angelegenheit; ich selber hätte mich damit ziemlich schwer getan. Von jetzt an müssen wir eben die Kühe anlernen. Da nehmen wir zuerst den Jungbullen Hans.“

Schau einer an, da hatte der alte Herr dich kleinen Kerl wohlweislich vorgeschoben. Weil es ihm selber ankam. Nur, dass du das nicht ahnen konntest.

Ja schau, Matti. War sicher nicht fein. Aber umgebracht hat es mich auch nicht. Und wie viel man davon lernt. Mein Opa war an und für sich Schuhmacher, aber wegen der requirierten Pferde richtete er das Zuggeschirr also neu her und spannte den schon zurecht gesägten Stamm an, ich glaube, der war von einem Apfelbaum. Und unser Hans zog den auch. Vorerst über den gepflasterten Hof und dann auf die Schotterstraße des Dorfes hin. Es schien perfekt. Wenigstens eine ganze Weile. Aber da, ich konnte gerade noch mit dem Finger drauf zeigen: Plötzlich richtete der Jungbulle seinen „Steert“ hoch und preschte mit einem Mal die kurvige Dorfstraße hinunter. Er war so aufgeputscht, dass er mit dem Stamm die Lattenzäune erfasste, einen nach dem anderen und massenhaft die Latten herunterriss, es war, als hätte ihn der Hafer gestochen. Das ging in einer Tour, der war nicht aufzuhalten, bis er auf der Koppel endlich zum Stehen kam und jetzt hier, als wäre nie etwas geschehen, friedlich graste. Ich war ihm – haste was, kannste was – hinterher getobt. Mein Opa war in der Zwischenzeit auch heran und hat nur den Bullen noch in Empfang genommen. Was wird denn nun, musste sich der Dörfler insgeheim wohl schon die ganze Zeit über gefragt haben.

Zu mir gebeugt meinte er schließlich: „Da bleibt uns nichts weiter übrig. Wir müssen jetzt die Kühe, Fix und Lise, anlernen. Ich stelle umgehend die Zuggeschirre zusammen und du nagelst inzwischen die Horde Zaunslatten wieder an.“ Also nahm ich gehorsam Hammer, Nagelkiste und Hocker und ab ging es an die Zaunsarbeit, während er Zuggeschirr und Leinen für „Hot und Hüh“ klarmachte. Hinterher brachten wir den zwei Kühen noch das Ziehen von Ackerwagen und Pflug bei. Irgendwie hatte es immer zu gehen.

Beim nächsten Mal erzähl ich dir, wie ich dann zu meinem Vater gekommen bin. Du hältst das wirklich in deinem Notizblock fest? Weißt du, mit dem Holzhammer müssen wir das hier keineswegs hinbiegen, wenn es – wie angesagt – künftig noch mal kühl werden soll, lass uns einfach zu uns in die Küche gehen. Bis bald.

Wo waren wir stehengeblieben? Ja, 1938. Es war also ein Jahr vor Beginn des Zweiten Weltkrieges und ich war sechs Jahre alt, als mir der Großvater ausrichtete: „Dein Vater will, dass du zu ihm nach Göpfritz kommst, möglichst sofort!“

Das war eine lange Strecke und ich sollte mit dem Zug fahren, das hatten die Erwachsenen so beschlossen. Was allerdings eine kostspielige Angelegenheit war, denn es ging über Hildesheim, Magdeburg, Leipzig, Dresden, danach von Prag nach Wien, wo ich schließlich erst am nächsten Morgen ankommen konnte. Und wo mich mein Vater gleich vom Bahnhof abholen würde.

Stell dir vor, während der gesamten Fahrt trug ich ein Pappschild mit Bindfaden um den Hals. Auf dem stand:

„Ich heiße Wilhelm Sommer

und fahre zu meinem Vater,

der auch Wilhelm Sommer heißt

und Bauführer bei der

Firma Rudolf Hellmann ist.

Ich bin Reichsdeutscher.“

Anders ging das nicht. Diese Angaben waren unbedingt erforderlich, weil Österreich 1938 noch nicht zu Großdeutschland gehörte. Mit einem solchen Pappschild um den Hals saß ich als schlaksiger Bursche mit kurzen Hosen und einer weißen „Affenjacke“ im Abteil. Eine typische Leinenjacke war das gewesen, aber eben enorm kurz und durch meine langen Arme sah das Ganze noch viel schlimmer aus, geradezu, als ob die Jacke um Nummern zu klein wäre. Und die langen Strümpfe, auf die die Großmutter bestanden hatte, trug ich inzwischen sehr gelassen auf Sockenlänge heruntergekrempelt. Außerdem hatte ich einen dunkelgrünen Lodenmantel mit, eine Skimütze am „Mann“ und mir eine 6 x 9er Agfa-Fotobox umgeschnallt. Mit der – einer irgendwie schwarz eingefärbten Alubox – war das Bildermachen ein Kinderspiel. Hatte man den Film über die hintere Klappe eingelegt, wurde zweimal gedreht, dann war er gespannt. Vor dem Fotografieren wurde von oben hineingesehen und rechts gab es – klick – den Auslöser. Damit sich der Ablauf nicht verzögerte, fackelte ich nicht lange, sondern drehte gleich noch eine Nuance weiter: für das nächste Bild.

Ist ja originell, so eine Fotobox hätte ich selber gerne. Das verblüfft mich direkt, dass die damals schon kinderleicht zu bedienen war. Du solltest bei Gelegenheit mal nachschauen, ob du nicht wenigstens ein Foto aus dem entsprechenden Apparat hast oder aber von dir eins als Sechsjährigen.

Mach ich. Ich denke, da lässt sich was auftreiben. Derartig ausstaffiert jedenfalls kam ich in Österreichs Hauptstadt an. Mein Vater hatte mich wie abgemacht vom Hauptbahnhof in Wien abgeholt und es war, als wartete das Abenteuer pur auf uns: Wir beide fuhren mit der Kleinbahn durch dieses Schönbrunn, durch den weltbekannten Erlebnispark, besichtigten die riesige Gartenanlage mit dem Zoo und auch das Giraffengehege. Welchem Kind würde das nicht gefallen? Doch ich merkte, begriff vielleicht insgeheim schon ein bisschen, mein Vater wollte mir, seinem Sohn, damit etwas bieten. Und unter ähnlichem Gesichtspunkt machten wir uns danach noch mit dem Kleinkraftrad auf, das war eine „98er-Suhl.“ Das Gefährt und der Weg führten uns schließlich nach dieses Göpfritz an der Wild. Nahe an Döllersheim mit seinem Truppenübungsplatz und nahe bei Linz gelegen.

Zu dem Zeitpunkt hatte mein Vater schon von der Firma Waack zur Firma Alfred Hellmann nach Döllersheim gewechselt, wo er jetzt zusammen mit Herrn Fisek, der aus Böhmen stammte, die Firma Hellmann leitete. Schlussendlich entwickelten die beiden den Barackenbau.

Den, der unter Hitler dann für die KZs verwendet wurde. Weil mein Vater durch die Arbeit immer unterwegs war, kümmerte er sich sehr wenig um uns Kinder. Mehrfach wollte ich meinen Vater damals besuchen, doch das funktionierte nicht, denn er arbeitete im streng abgesicherten Militärbereich des Wehrkreises XVII. Und war meistens auf dem neu geschaffenen Übungsplatz Döllersheim. Dort ließ man mich nicht hinein. War der Platz doch nach dem Anschluss Österreichs für die im Wehrkreis XVII beheimateten Verbände geschaffen worden. Später hatten sich um genau diesen Militärplatz vielerlei Legenden gebildet. Eine etwas spekulative lautete, Hitler habe die Errichtung dieses Übungsplatzes höchstpersönlich befohlen, um seine Ahnen, Heimat und Abstammung auszulöschen. Eine andere Theorie besagte das Gegenteil, er habe damit gerade sie besonders verherrlichen wollen. Fakt bleibt, dass die Gegend dünn besiedelt und der Boden wenig ertragreich war. Und die Bewohner dort siedelte man vom Juni 1938 bis zum Dezember 1941 in vier Etappen um. Wobei zum Ende hin auch vor Zwangsmaßnahmen gegen die Bevölkerung nicht zurückgeschreckt worden ist.

Damit da keiner drauf kommt. Auch, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Matti beugte sich zu dem Erzählenden etwas vor.

Das soll sich in der Politik schon öfters zugetragen haben …

Hm. Das Gelände wurde einfach zum Heeresgutbezirk erklärt und basta. War damit gemeindefrei; kurz, enteignet. Je gründlicher ich nachdenke, desto sicherer bin ich, dass Hitler aus seiner Abstammung etwas verbergen wollte. Weißt du, warum? Auf Weisung des Präsidenten Roosevelt hatte der amerikanische Geheimdienst OSS (Office of Stratgic Services) 1941 einen nahezu 300 Seiten umfassenden Bericht über Hitlers Abstammung erstellt. In dem hatte er auf die Ergebnisse aus einer noch älteren, von Bundeskanzler Dollfuß in Auftrag gegebenen Untersuchung zurückgegriffen. Danach wiederum soll Hitlers Großmutter, Maria Anna, im Wiener Haushalt des Barons von Rothschild gearbeitet haben. Und soll hier von einem Mitglied der Familie schwanger geworden sein. Woraufhin die Rothschilds Maria Anna wieder in ihre Heimat zurückgeschickt hätten. Aus diesem Zusammenhang schloss man, dass Adolf Hitler selbst zu einem Viertel hätte Jude sein können. Und müssen. Unglaublich! Als gewiss gilt demzufolge auch, dass Hitler um die Möglichkeit seiner nichtarischen Abstammung wusste. Ja, dass darin womöglich die Ursache für seinen tiefen Hass, der ihn zur Vernichtung der Juden antrieb, begründet lag. Jedenfalls blieben die Verbindungen zu Vorfahren und Hitler-Verwandten aus dem Gebiet des Waldviertels in mancher Hinsicht im Dunkeln. Und ungeklärt. Adolf Hitler wollte damit nichts am Hut haben, er ging einen anderen, du weißt schon, welchen Weg. Solche verwandtschaftlichen Beziehungen hätte er da nicht brauchen können. Trotzdem wurden aber diejenigen, derer die Sowjets bei ihrem Einmarsch später habhaft werden konnten, noch mit deportiert.

Ich wünschte, er würde lieber etwas mehr bei sich selbst bleiben, dachte Matti.

Und wie ist es speziell dir in dem Ort, der vom Übungsplatz nicht weit weg war, ergangen? Welche Erlebnisse sind dir denn hängengeblieben?

Hängengeblieben ist das Stichwort. Da erzähl ich dir nachher gleich was dazu.

Soweit ich mich erinnere, muss es im Mai gewesen sein, denn es waren die Schulferien 1938, als ich in Göpfritz eintraf. Mein Vater hatte für uns ein Zimmer bei dem Dentisten Carl Pumper gemietet. Das gesamte Haus jedoch beherrschte die Haushälterin, von jedem „Anna-Tante“ genannt. Von ihr steckte ich manche Kopfnuss ein wegen meines Verhaltens, zwangsläufig, wenn der Vater Tag und Nacht nicht da ist … Zumal ich ein richtiger Rüpel war, der keine „Wucht“ scheute, wenn es darum ging, Kellerfenster mit dem Hammer „einstiegsfertig“ zu machen.

Aber wo wir wohnten war alles ziemlich eng. Und die meisten Leute arm. Irgendwann später zogen wir zu einem Bauern um, da gab es bereits ein größeres Zimmer. Und weil mein Geburtstag ins Haus stand, erkundete mein Vater: Was wünschst du dir denn?“

Ich verriet: „Ich möchte bitte einen richtigen Fußball.“

Den kriegst du.“

So geschah es. Es war ein richtiger Lederfußball. Hurra! Das konnte eine tolle Bolzerei werden! Jetzt war ich bei meinen Spielkameraden der König. Wie üblich bolzten wir paar Jungen auf der Straße, es gab keine Autos. Aber einmal, da passierte es, dass der Ball die lange Straßengosse entlang rollte und direkt in ein 50er Abflussrohr unter die Straße geriet, und – weg war er.

Hängengeblieben. Jetzt sind wir bei dem Stichwort. Genau das war mit dem Ball passiert. Was jetzt? Meine Freunde waren quasi mit dem Fußball verschwunden. So ein Mist. „Was mache ich bloß?“, grübelte ich. Es war später Vormittag. Und erst etwa kurz vor Mittag kam ich zu dem Ergebnis: Du musst da rein und den Fußball wieder herausholen!

Keiner kann sich vorstellen, was ich für Muffengang hatte; aber ich wollte es unbedingt, noch bevor mein Vater, falls er heimkam, davon Wind bekommen würde. Also machte ich mir Mut und tauchte in den etwa 50 cm breiten Kanalschacht ein, dem Fußball entgegen. Mein Körper füllte den Schacht vollkommen aus, sodass es stockfinster war. Man konnte nichts, nicht mal die Hand vor Augen sehen. Darum tastete ich mich langsam Stück für Stück vorwärts, bis ich endlich auf den Lederball stieß und ihn fühlte. Schnell ergriff ich das ersehnte Stück und robbte langsam und vorsichtig wieder zurück. Niemandem erzählte ich davon; was wohl hätte mein Vater dazu gesagt?

Wieder draußen. Ich atmete auf. Zwar galt es – um perfekt zu sein – noch mich samt Kleidung vom Dreck, der uns anhing, zu befreien. Aber da kam mir die mittägliche Trägheit der Bauern zugute. Sowie alle Welt inne und gerade Mittagsruhe hielt, nutzte ich die Gunst der Stunde. Sauste zum Dorfweiher, der eher als besserer Feuerlöschteich durchging, warf meine dreckigen Sachen vor mir ins Wasser und sprang splitternackt gleich hinterdrein. Schrubbte rasch den Dreck von Kopf, Gesicht, Armen und Beinen und behielt wie ein Erdmännchen die nähere Umgebung im Auge. Auffallen wollte ich nicht. Nachdem ich endlich die Sachen gewaschen und sie, so fest ich das konnte, ausgewrungen hatte, schleuderte ich sie in das hohe Gras vom Teichrand. Vorsichtig watete ich in gebückter Haltung aus dem Nassen heraus, kroch an den Zaun heran, hängte meine Sachen zum Trocknen darüber und verbarg mich blitzschnell wieder im Gras. Geschafft. Völlig unbeobachtet döste ich eine Weile vor mich hin. Genoss einfach, dass die Sonne schien, der Himmel wolkenlos war und sich meine Kleidung zwei Stunden später fast trocken anfühlte. Etwas klamm noch dies und das, aber bis zur Ankunft meines Vaters würde das wohl auch wieder werden.

Absolut nichts hatte dieser gemerkt, ich hatte in der Tat gut kombiniert. Als das glatt gegangen und mir bald aus dem Sinn war, bekam ich eine Hirschlederhose geschenkt, die mein Vater in Zwettl erstanden hatte, worauf ich äußerst stolz war. Die war ausgesprochen zünftig. Zum Einkaufen fuhren wir zwei mit dem Motorrad auch ab und an nach Waidhofen; einer Kreisstadt an der Thaya und in Österreich gelegen, etwa zehn Kilometer von der Tschechoslowakei entfernt.

Und wie erging dir das als Kind in Österreich? Hattest du, wenn dein Vater schon nicht immer da war, wenigstens Freundschaften mit anderen Jungs aus eurer Straße?

Oh, das war schwierig. Die Buben aus dem Ort ließen mich links liegen, die spielten überhaupt nicht gern mit mir. Schließlich war ich ein Reichsdeutscher. Ich sprach reichsdeutsch und war für sie der Fremdling. Doch ich war weit, konnte frühzeitig lesen und schreiben und bekam auf dem Zeugnis später immer sehr gute Zensuren. Aber das trat alles erst danach ein, also nachdem ich Ende 1939, nun siebenjährig, Österreich verlassen hatte und von Göpfritz nach Celle zurückgekehrt war.

Dann bist du also in Deutschland zur Schule gekommen?

Ja, gleich Anfang 1940 wurde ich in die Neustädter Schule eingeschult, bei Lehrer Kolle aus dem Allergarten. Ich weiß noch, von ihm bekam ich meine erste Abreibung mit dem Rohrstock. Geschadet hat es mir persönlich nicht, ich war eher einer von der Sorte, der sich herausgefordert fühlte, was den Willen zum Lernen stärkte. Vielleicht formte sich gerade aus jener gewissen Trotzhaltung heraus aus mir der gute und ehrgeizige Schüler?

Trotzdem muss man sich bewusst machen: Es herrschte Krieg und Lehrer Kolle musste uns nebenher in Sachen Fliegeralarm unterweisen, die Signale inbegriffen. Für uns Kinder verschmolzen die Einsätze miteinander, als ob sie Übung und Ernst in einem seien. Sowie es heulte, losging, rannten wir Schüler – was das Zeug hielt! Hin – in den Splittergraben zur Fuhse. Irgendwann bekam ich als Einziger das Privileg, während des Voralarms mit meinem Fahrrad nach Hause zu fahren. Da es ein Rennrad war. Was gleichermaßen hieß, ich musste auch dem Lehrer die gebündelten Schulhefte heimfahren.

An und für sich war ich ein Lauser. War beim Jungvolk zwar Kandidat, aber noch nicht aufgenommen, weil mir das schwarze Halstuch fehlte. Den Halstuchknoten jedoch, einen aus geflochtenen Lederbändern, durch die das Tuch dann durchzuziehen war, trug ich schon länger in meiner Brusttasche herum. Doch vielleicht wollte man den „Sommer“ gar nicht wirklich, zumindest nicht gleich, dreist, wie der immer war?

Das führte zu noch mehr Absonderlichkeiten – zu dem, dass ich später an keiner Sonnwendfeier teilnehmen musste und somit auch nie vereidigt wurde. Und all das hing eigentlich mehr mit dem unmittelbaren Fakt zusammen, dass ich eine unglaubliche Geschichte, die ich bei meinem Opa gehört hatte, für erzählenswert hielt und verbreitete …

Dir aber erzähle ich sie morgen. Weil es schon ziemlich spät geworden ist. Und jetzt will nicht mal mehr deine Kulimine mitmachen.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

€4,99
Altersbeschränkung:
0+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
22 Dezember 2023
Umfang:
123 S. 40 Illustrationen
ISBN:
9783957440747
Rechteinhaber:
Автор
Download-Format:
Audio
Средний рейтинг 4,2 на основе 968 оценок
Text
Средний рейтинг 4,9 на основе 67 оценок
18+
Text, audioformat verfügbar
Средний рейтинг 4,7 на основе 55 оценок
Entwurf
Средний рейтинг 4,6 на основе 105 оценок
Entwurf
Средний рейтинг 4,9 на основе 361 оценок
Audio
Средний рейтинг 4,6 на основе 23 оценок
Text
Средний рейтинг 4,9 на основе 41 оценок
Entwurf, audioformat verfügbar
Средний рейтинг 4,7 на основе 142 оценок
Text
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок