Buch lesen: «Belgische Finsternis»

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Stephan Haas, 1984 im belgischen Eupen geboren, hat in Aachen Neuere Deutsche Literatur, Deutsche Philologie und Geschichte studiert. Danach begann er eine Lehrtätigkeit und schloss parallel ein weiteres Studium in Betriebswissenschaften in Lüttich ab. Heute ist er in einem großen Industrieunternehmen im Personalmanagement tätig und lebt mit Frau und Kindern im deutschsprachigen Teil Belgiens.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.


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© 2020 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Roy Bishop/Arcangel.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Lothar Strüh

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-9604-1648-7

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die

Literaturagentur Kai Gathemann GbR, München.

Für Hanna

Dunkelheit kann man nicht sehen. Sie ist.

Erhard Blanck

29. Juni

Prolog

Hätte Nadja geahnt, wie heiß der letzte Schultag sein würde, ihre Wahl wäre auf den Aufsatz über »Ritter und Burgen« gefallen, den ihre Lehrerin als alternative Strafe angeboten hatte. Stattdessen stand sie mit Antoine auf dem Flur, den sie gemeinsam säubern sollten.

»Jede Ecke muss glänzen«, lautete die Anweisung der alten Königs.

Wie soll das gehen, bei Fliesen aus den Fünfzigern?

Grimmig blickte Nadja den französischen Austauschschüler an, dessen hellblaues T-Shirt bereits schweißgetränkt war.

Hätte er den Zettel einfach an Isa weitergegeben, die Königs hätte nichts gemerkt!

Doch wie so oft hatte Antoine kein Wort verstanden.

Und dafür darfst du jetzt den Dreck aus den Fugen kratzen.

Während die Freundinnen sich zum Schwimmen im Freibad trafen. Verärgert schüttelte sie den Kopf und rieb sich die vom Staub brennenden Augen. Dann blickte sie auf und wies Antoine mit dem Kinn an, in Position zu gehen. Sie begann, den massiven Eichenschrank von der Wand wegzuziehen. Mit einer Sekunde Verzögerung machte es ihr Antoine nach. Nur mühsam und unter Begleitung eines nervtötenden Quietschens bewegte sich der Holzkoloss, dessen Rückwand mit unzähligen Spinnweben benetzt war, über die unverwüstlichen Fliesen.

Inmitten des Staubes kamen etliche Stifte und Radiergummis, eine alte Sporthose von Adidas und ein Buch zum Vorschein.

»Na los, komm schon! Du sammelst auf, ich kehre!«, wies Nadja Antoine an. Der Austauschschüler hob die Sachen mit spitzen Fingern auf und legte sie in einen Karton, in dem sich schon allerhand Relikte der vergangenen fünfzig Jahre Schulgeschichte befanden. Gleichzeitig begann Nadja mit der Rechten zu kehren, während sie sich den linken Arm vor den Mund hielt.

Als Antoine gut die Hälfte der Sachen aufgehoben hatte, unterbrach er plötzlich. Gereizt schaute Nadja ihn an und hörte, was er mit zitternder Stimme sagte.

»Rie-chen.«

Sie verdrehte die Augen und schnaubte ungeduldig.

Riechen? Was will er denn jetzt riechen?

Sie hatte weder Zeit noch Lust für alberne Spielchen. Sowieso vermied sie es, mit ihm zu reden. Eigentlich wollte sie nur die Arbeit so schnell wie möglich hinter sich bringen und zu den Mädels ins Freibad. Trotzdem interessierte sie, was er meinte.

»Was redest du da?«

»Hier!«, sagte Antoine und zeigte mit der staubigen Hand auf die erste Seite des Buches, das er vor wenigen Sekunden aufgehoben hatte. »Der Junge von die Plakate.«

»Lass mal sehen«, raunte sie und riss ihm das Buch aus der Hand. Bereits im nächsten Moment stockte ihr der Atem. Denn jetzt verstand sie: Antoine wollte nichts riechen. Er hatte nur den Namen auf dem Buchdeckel vorlesen wollen – in seinem französischen Akzent.

Und zwar den Namen, der in ganz Raaffburg Gänsehaut erzeugte.

»Felix Riegen«, las sie vor, um sich selbst zu vergewissern, dass sie keiner Täuschung unterlag.

Das kann doch nicht …

Sie bekam keine Luft. Begann zu husten. Gegen die Wand gelehnt, versuchte sie einzuatmen. Doch der Sauerstoff stoppte vor der Luftröhre, als läge dort ein verstopfter Filter. Zuerst gab sie dem Staub die Schuld, der auf dem gesamten Flur der zweiten Etage aufgewühlt worden war.

Doch sie wusste, dass es etwas anderes war.

Panisch schnellte sie um die Ecke und suchte nach der Colaflasche, die sie mitgebracht hatte. Mit zitternder Hand drehte sie den Deckel los, der auf die Fliesen fiel und davonrollte. Hastig kippte sie die schwarze Brause in den Mund. Jeder Schluck schmerzte in ihrer Brust.

Dann wischte sie sich mit dem Arm den Mund ab und ging zurück an die Stelle, wo das Buch lag. Sie nahm es in die Hand und schlug die erste Seite auf. Ihre Augen sprangen direkt auf den geschwungenen Schriftzug »Felix Riegen«.

»Was machen wir jetzt?«, fragte sie.

Ihre Hände zitterten, während sie die dünnen Seiten des Buches durchblätterte. Erst überflog sie nur ein paar. Was sie las, empfand sie als merkwürdig. Die meisten Einträge waren einfache Kürzel. Leise sprach sie nach.

»LM, CS, RB.«

Was bedeuten diese Buchstaben?

Sie tastete nach Antoine, wollte sich vergewissern, dass er da war, auch wenn sie ihn nicht mochte. Doch als sie sich umdrehte, war niemand zu sehen.

»Antoine?«, fragte sie zögerlich.

Niemand antwortete.

Sie rief noch einmal, diesmal laut: »Antoooine?«

Stille.

»Dieser Idiot hat sich einfach verpisst!«

Ihre Muskeln verkrampften, und sie hatte wackelige Knie.

Ich will hier raus!

So schwach, als hätte sie ein Virus befallen, lief sie zur Tür Richtung Innenhof und drückte die Klinke hinunter.

Verschlossen.

Da, am anderen Ende des Flurs, war noch eine Tür. Sie lief los. Aber schon nach ein paar Metern stolperte sie, und ihre Shorts rissen an einer Seite auf. Doch sie rappelte sich wieder hoch. Die Angst trieb sie an.

Du hast den Schülerkalender von Felix Riegen gefunden.

Er war der Junge, der seit fünfzehn Jahren vermisst wurde. Der Junge, dessen Vater heute noch die Kleinstadt mit den Fotos seines Sohnes plakatierte. Der Junge, der verschwand, als in Raaffburg gemordet wurde.

Sie öffnete die Tür und merkte, dass sie es nicht aufhalten konnte. Sie erbrach sich vor der Eingangstreppe. Die Luft draußen war heiß und drückend. Sie wollte ihre Mutter anrufen, doch sie musste ihr Handy oben gelassen haben.

Zurücklaufen und es holen?

Nadja presste ihre zitternden Lippen zusammen, in der Hoffnung, dass sie sich dadurch beruhigten.

Sie fühlte sich schuldig, als hätte sie etwas mit dem Verschwinden von Felix Riegen zu tun. Schweiß lief an ihr hinab. An Stirn, Achseln und Kniekehlen. Ihr Kopf hämmerte so stark, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen.

Los, schnell weg von hier!

Doch zunächst zwang die Übelkeit sie zu bleiben. Abrupt neigte sich ihr Körper in brutaler Eigenregie nach vorne und ließ sie noch einmal würgen.

Nach einigen Sekunden konnte sie wieder gerade stehen, wenn auch mühsam. Nach einer Weile schaffte sie es, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Und schließlich begann sie zu laufen.

Schnell wich die Hitze in ihrem Körper einer erfrischenden Kühle, die durch einige aufziehende Gewitterwolken herangetrieben wurde. Sie rannte so schnell wie noch nie zuvor. Wie im Rausch jagte sie an Passanten vorbei, ohne Gesichter wahrzunehmen.

Blass und ausgelaugt stand Nadja schließlich vor ihrem Elternhaus. Vom Anblick ihrer Tochter geschockt, rief ihre Mutter erst die Schule an und fragte aufgebracht, ob die Schulleitung erklären könne, warum zwei Kinder ohne Aufsicht Strafarbeiten in der Schule verrichten mussten. Danach wählte sie die Nummer der Polizei und teilte mit, dass ihre Tochter den Schülerkalender von Felix Riegen gefunden habe.

Eine neue Spur in einem Fall, der seit fünfzehn Jahren ungeklärt war.

Keiner wusste zu diesem Zeitpunkt, was diese Entdeckung bedeutete.

Vor allem ahnte noch niemand, dass durch diesen Fund das Böse erst erwachte.

2. Juli

1

Ich stand mitten im Brüsseler Berufsverkehr, als mich der Anruf erreichte, der alles verändern sollte. Es war erst halb neun, doch das Thermometer zeigte bereits achtundzwanzig Grad Celsius an. Während vor den Cafés junge Banker Cappuccino schlürften und adrett gekleidete Diplomatinnen sich die Sonne ins Gesicht scheinen ließen, bescherte mir die Klimaanlage eine Niesattacke nach der anderen. Ich stand kurz vor einer Sommergrippe, wenn ich nicht schon mittendrin steckte. Laut der rau klingenden Frauenstimme im Radio sollte das Quecksilber in den kommenden Tagen nicht unter dreißig Grad sinken.

Was ich brauchte, war eine Verlängerung meiner Beurlaubung, besser noch ein paar freie Tage. Stattdessen war heute der Tag, an dem ich meine geregelte Arbeit wieder aufnehmen sollte.

Die vorangegangenen fünf Monate hatte ich damit zugebracht, das Drogennetzwerk einer algerischen Familie zu beobachten und aufzudecken. Die Familienmitglieder, wobei dieser Begriff sehr weit gefasst werden durfte, benutzten untereinander eine eigens kreierte Sprache. Unter diesen Voraussetzungen war allein die Suche nach Informationen ein Spiel mit dem Feuer. Einmal die falsche Person angesprochen oder eine falsche Form der Verschlüsselung benutzt – ich wäre direkt aufgeflogen. Die persönlichen Folgen dieses Einsatzes waren verheerend. Ich schlief schlecht, aß wenig und lebte in Isolation.

Ohne meinen Kollegen Tim de Jong hätte ich das Ganze nicht durchziehen können. Er war erst seit einem Jahr in meiner Truppe gewesen, war aber innerhalb weniger Wochen zu meinem besten Mitarbeiter avanciert. Dabei hatte er es nicht leicht gehabt unter den Kollegen, denn sein Schwiegervater war kein Geringerer als der Polizeipräsident Belgiens.

Trotz der schiefen Blicke von links und rechts war Tim immer voll bei der Sache. Ich bin mir sicher, dass er es weit gebracht hätte.

Nach vier mühsamen und relativ erfolglosen Monaten erklärte sich schließlich ein reumütiger Algerier bereit, als Kronzeuge zu fungieren. Er wollte auspacken. Vermutlich hatte der Tod seiner Tochter den Ausschlag gegeben. Alles war vorbereitet. Wir hatten bereits den Sekt kalt gestellt.

Doch dann der Schock. Eine Woche vor Verhandlungsbeginn kam unser Kronzeuge bei einem Autounfall ums Leben. Zufall oder nicht – die ganze Recherche war für die Katz. Alles in allem nur die Fortsetzung einer ziemlich frustrierenden Odyssee.

Die Wende kam unerwartet: Auf dem PC des Kronzeugen fanden wir Hinweise auf einen bevorstehenden Riesendeal am Antwerpener Hafen. Unsere Chance, an die Hintermänner zu gelangen. Und tatsächlich, die Fracht kam in Antwerpen an. Alles lief nach Plan. Wir standen kurz vor dem Zugriff, als aus einem Hinterhalt unversehens ein Dutzend Bewaffnete das Feuer eröffnete. Auch die Familie hatte ihre Hausaufgaben gemacht.

Uns blieb nur der Rückzug. Wir waren insgesamt sechzehn Leute, von denen fünf bereits getroffen waren. Ich trommelte meine Männer zusammen, mit so viel Wirbel wie möglich. Trotzdem feuerten einige weiter.

Ich schrie, so laut ich konnte.

Aber Tim hatte seinen eigenen Kopf. Er stürmte auf den Container mit den Drogen zu, hinter dem sich ein weiterer Angreifer versteckte. Während die anderen meinem Befehl folgten und nach Deckung suchten, blieb ich wie angewurzelt stehen und sah aus der Ferne das, was ich mein Leben lang nicht mehr vergessen würde.

Tim wurde von Kugeln durchsiebt, bevor sein Körper mittels eines Molotowcocktails in Brand gesetzt wurde.

Das lag nun vier Wochen zurück. Seitdem war ich beurlaubt. Mir war angeraten worden, mich zu erholen. Aber wie sollte ich mich erholen, wenn ich jeden Tag mit den gleichen entsetzlichen Bildern aufwachte, mit denen ich mich am Abend zuvor ins Bett gelegt hatte?

Als ich mich vor zwei Jahren für die Stelle des Kriminaloffiziers in Strombeek beworben hatte, waren die Resultate meines Einstellungstests gut gewesen. Aber die Stelle wurde aus Spargründen kurzerhand wieder gestrichen. Die Jury empfahl mir stattdessen den Posten als leitender Ermittler im Drogendezernat.

»So sind Sie breit aufgestellt, das wird Ihre Karriere pushen.«

Die Wahrheit ist: Dieser Job hat mein Privatleben zerstört und mich als psychisches Wrack zurückgelassen. Der Tod von Tim war nur der Höhepunkt einer Zeit, die ich am liebsten aus meinem Gedächtnis streichen würde.

Alles begann vor etwa drei Monaten – zu der Zeit sah es noch ganz gut für uns aus in der Sache mit der algerischen Familie. Elise rief mich an und teilte mir mit, dass sie sich vorübergehend von mir trennen wolle. Ich fiel aus allen Wolken und vermutete, dass ein anderer im Spiel war. Aber meine Frau stritt das ab. Vielmehr hätten wir uns auseinandergelebt. Sie brauche Zeit zum Nachdenken. Ich versuchte sie umzustimmen und argumentierte, dass der Job nicht ewig dauern würde. Aber es war nichts zu machen. Sie bestand auf eine Pause. Und die grausame Folge der Trennung war, dass ich meine Tochter Liv nicht mehr sehen durfte, wann ich wollte.

Als ich zuletzt mit ihr telefonierte, schluchzte sie, sie wüsste gar nicht mehr, wie ich aussehe. Nach einigen Minuten schaffte ich es, sie zu beruhigen. Ich versprach ihr hoch und heilig, dass wir demnächst wieder mehr Zeit miteinander verbringen würden. Auch wenn mir klar war, dass ich dazu nicht den Job weitermachen konnte, für den ich derzeit angestellt war. Ich war entschlossen, etwas zu ändern. Ich wusste nur noch nicht, wie.

Ein guter Ehemann wollte ich sein. Und noch mehr ein guter Vater. In den letzten zwei Jahren war ich weder das eine noch das andere gewesen. Das wollte ich jetzt nachholen. Wenn es nicht schon zu spät war.

Als mein Handy klingelte, hoffte ich, es wäre Liv oder Elise, die mir mitteilen wollten, dass sie mich so sehr vermissten wie ich sie. Doch auf dem Display erschien nur »Unbekannte Nummer«. Als ich abhob, vibrierte der Innenraum des Wagens, so laut und basshaltig war die Stimme des Mannes am anderen Ende der Leitung.

»Guten Morgen, Herr Donker, hier ist Harald Karls. Ich bin Oberkommissar der Gemeinde Raaffburg. Darf ich kurz stören?« Der Ton in seiner Stimme wurde zum Satzende hin immer schwächer, die letzten Worte waren fast nicht zu hören.

»Raaffburg? Das ist –«, begann ich, bevor Karls mich unterbrach.

»Raaffburg ist eine kleine Stadt im deutschsprachigen Teil unseres Landes. Genauer gesagt im Osten, nah an der Grenze zu Deutschland«, sagte er bestimmt.

Zum Glück hatte er mich unterbrochen, denn ich hätte es in Flandern angesiedelt. Mir war zwar klar, dass in Belgien neben Französisch und Niederländisch auch Deutsch gesprochen wurde, aber ehrlich gesagt wusste ich nicht, wo genau.

»Sagt Ihnen der Name Felix Riegen etwas?«

Der Mann kam direkt zum Punkt. Genau mein Fall.

Den Namen hatte ich schon mal gehört, da war ich mir sicher, konnte jedoch nicht einordnen, in welchem Kontext.

»Was ist mit ihm?«, fragte ich, während ich die Klimaanlage etwas runterdrehte.

»Felix Riegen ist seit fünfzehn Jahren verschwunden. Es gibt nun eine neue Spur. Wir hoffen, sie bringt Gewissheit.«

Einen Rhetorik-Wettstreit würde Karls heute nicht gewinnen. Er hielt sich bedeckt, immer nur eine Information nach der anderen. Ich wusste, wie mühsam eine Spurensuche sein konnte. Erst recht fünfzehn Jahre nach dem Verschwinden einer Person. Die Chancen auf Erfolg waren alles andere als rosig.

»Und was habe ich damit zu tun? Ich arbeite in Brüssel, das wissen Sie, nehme ich an?«

»Ja, das ist mir bekannt. Smets hat bereits sein Einverständnis gegeben. Er denkt, ein Tapetenwechsel könnte Ihnen guttun nach der Sache mit den Algeriern.«

Ron Smets war mein Chef. Mir fiel es schwer zu glauben, dass er das gesagt hatte, ohne mich vorher darüber in Kenntnis zu setzen. Eigentlich schätzten wir uns gegenseitig. Aber vielleicht hatte er bemerkt, wie sehr ich auf dem Zahnfleisch ging. Beruflich wie privat.

Ich blieb stumm.

»Wie ich hörte, sprechen Sie perfekt Deutsch«, legte Karls nach.

Was hat Ron denn alles über mich erzählt?

Zwar lebte ich seit meiner Kindheit in Brüssel, meine Mutter jedoch war Deutsche. Und als Deutschlehrerin hatte sie großen Wert darauf gelegt, dass ihre Kinder ihre Sprache fehlerfrei beherrschten.

»Sie sind offensichtlich gut informiert«, sagte ich in einem wenig begeisterten Ton.

»Worauf ich hinauswill, Herr Donker«, Karls räusperte sich, »ich sitze fest in Island. Komme hier auch die nächsten Tage nicht weg.«

Ich hatte im Radio von dem Vulkanausbruch in Island gehört. Dort würde in nächster Zeit sicher kein Flugzeug starten.

»Ich brauche in Raaffburg einen guten deutschsprachigen Mann, der sich durchzusetzen weiß. Hätten Sie Interesse, den Fall zu übernehmen?«

Das Angebot überraschte mich. Durch die Karrierebrille gesehen, wäre der Gang von Brüssel nach Raaffburg sicherlich ein Abstieg. Da brauchte ich mir nichts vorzumachen. Ich würde das föderale Programm der Staatspolizei verlassen, um zwischen Kühen und Schafen einem vermissten Jungen nachzuspüren, der wahrscheinlich nicht mehr aufzufinden war. Bestenfalls seine sterblichen Überreste. Andererseits würde mir ein Ortswechsel tatsächlich guttun. In den letzten Wochen war einiges auf mich eingeprasselt und bei Weitem noch nicht verarbeitet. Die Ruhe auf dem Land wäre vielleicht genau das Richtige.

Allerdings wäre ich dann anderthalb Stunden Autofahrt von Liv entfernt.

Das bist du auch, wenn du zwölf Stunden am Tag arbeitest.

Liv könnte mich ja besuchen. Und Elise würde mich vielleicht vermissen, wenn wir geografisch weiter getrennt wären.

Vermutlich spürte Karls mein Zögern.

»Nach Ihrer kleinen Auszeit wäre es vielleicht genau die Aufgabe, die Sie sich wünschen«, sprach er weiter, als läge mein Lebenslauf ausgebreitet vor ihm.

Nach den erfolglosen Aktionen im Drogenmilieu sehnte ich mich tatsächlich nach klassischen Kriminalfällen, die von Morden und Entführungen handelten – so verstörend sich das auch anhören mochte.

»Sie sprachen von einer Spur. Was für eine Spur ist das?«, fragte ich, um mir ein Bild von dem Fall machen zu können.

»In der Schule, die Felix Riegen damals besucht hat, wurde sein Schülerkalender gefunden. Am Tag seines Verschwindens ist ein Eintrag vermerkt, der zu einer Person im Umfeld passen könnte.«

»Wurde die Person bereits vernommen?«, fragte ich, um zu erkunden, wie ernst die Situation war. Außerdem erhoffte ich mir, dass Karls mit weiteren Details rausrückte.

»Das ist nicht so einfach. Sie werden vor Ort alle Informationen –«, sagte er, bevor plötzlich die Verbindung abbrach. Nur noch bruchstückhaft hörte ich seine Stimme, verstehen konnte ich lediglich das letzte Wort: »Köpfchensammler«.

Karls’ Stimme klang trocken.

Der Köpfchensammler, wiederholte ich leise. Ich erinnerte mich, den Fall erst kürzlich in einer Doku über Serienkiller gesehen zu haben. »Der Serienmörder auf dem Land« oder so ähnlich lautete der Untertitel. Die Sache war vielleicht doch größer, als ich zunächst angenommen hatte.

»Es ist vor allem wichtig, die Presse vor Ort ruhig zu halten.« Auf einmal war Karls’ Stimme wieder zu hören.

»Ich würde gern vorher mit meiner Frau sprechen. Bis wann brauchen Sie Bescheid?«

Vielleicht könnte der Fall mich auf die Schiene bringen, von der ich träumte. Bevor ich zusagte, wollte ich aber mit Elise und Liv Rücksprache halten – auch wenn nur eine der beiden Sehnsucht nach mir verspürte. Außerdem hatte ich ein Wörtchen mit Smets zu reden.

»Am besten heute. Sie brauchen auch nicht mehr nach Brüssel ins Büro. Ist schon alles mit Smets abgeklärt«, antwortete Karls trocken.

»Okay«, entgegnete ich verblüfft. Offensichtlich wurde die Sache über meinen Kopf hinweg entschieden. »Ich rufe Sie in einer Stunde zurück.«

Bis dahin sollte ich den Weg zu Elise und Liv geschafft und mit ihnen gesprochen haben. Ich hoffte nur, dass sie noch nicht ihren Ausflug in den Tierpark angetreten hatten.

»Gut, machen Sie das. Wo wohnt Ihre Frau?«, fragte Karls, bevor die Verbindung endgültig wegbrach.

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