Sternstunden der Menschheit

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[24]Und nun geschieht das Sonderbare. Seit Cicero ›De officiis‹, sein Testament seinem Sohne übermittelt hat, ist – aus Verachtung des Lebens – gleichsam ein neuer Mut über ihn gekommen. Er weiß, daß seine politische, seine literarische Karriere abgeschlossen ist. Was er zu sagen hatte, hat er gesagt, was ihm zu erleben bleibt, ist nicht mehr viel. Er ist alt, er hat sein Werk getan, was da noch diesen kläglichen Rest verteidigen? Wie ein müdgehetztes Tier, wenn es die kläffenden Rüden schon knapp hinter sich weiß, plötzlich sich umwendet und, um das Ende zu beschleunigen, sich den Hetzhunden entgegenstößt, so wirft sich Cicero mit wahrhaftem Todesmut noch einmal mitten in den Kampf und an seine gefährlichste Stelle. Der Monate und Jahre nur mehr den stummen Griffel geführt, nimmt wieder den Donnerkeil der Rede und schleudert ihn gegen die Feinde der Republik.

Erschütterndes Schauspiel: Im Dezember steht der grauhaarige Mann wieder auf dem Forum Roms, um noch einmal das römische Volk aufzurufen, sich der Ehre ihrer Ahnen, ille mos virtusque maiorum, würdig zu zeigen. Vierzehn »Philippikas« donnert er gegen den Usurpator Antonius, der Senat und Volk den Gehorsam versagt hat, vollkommen der Gefahr bewußt, die es bedeutet, waffenlos gegen einen Diktator aufzutreten, der seine marschbereiten und mordbereiten Legionen bereits um sich versammelt hat. Aber wer andere zum Mute aufrufen will, hat nur dann überzeugende Kraft, wenn er selbst diesen Mut vorbildlich erweist; Cicero weiß, daß er nicht wie einst auf diesem selben Forum müßig mit Worten ficht, sondern diesmal sein Leben für seine Überzeugung einzusetzen hat. Entschlossen bekennt er von der Rostra: »Schon als [25]junger Mann habe ich die Republik verteidigt. Ich werde sie nicht im Stich lassen, nun da ich alt geworden bin. Gern bin ich bereit, mein Leben hinzugeben, wenn die Freiheit dieser Stadt durch meinen Tod wiederhergestellt werden kann. Mein einziger Wunsch ist, daß ich sterbend das römische Volk frei zurücklassen möge. Keine größere Gunst als diese könnten die unsterblichen Götter mir gewähren.« Jetzt sei keine Zeit mehr, verlangt er nachdrücklich, mit Antonius zu verhandeln. Man müsse Octavian stützen, der, obwohl Blutsverwandter und Erbe Caesars, die Sache der Republik vertrete. Es gehe nicht mehr um Menschen, es gehe um eine Sache, um die heiligste Sache – res in extremum est adducta discrimen: de libertate decernitur – die Sache sei zur letzten und äußersten Entscheidung gekommen: es gehe um die Freiheit. Wo aber dieser heiligste Besitz bedroht sei, sei jedes Zögern verderbnisvoll. So verlangt der Pazifist Cicero Armeen der Republik gegen die Armeen der Diktatur und er, der wie sein später Schüler Erasmus den »tumultus«, den Bürgerkrieg über alles haßt –, beantragt den Ausnahmezustand für das Land und die Acht gegen den Usurpator.

In diesen vierzehn Reden findet, seit er nicht mehr Advokat zweifelhafter Prozesse ist, sondern Anwalt einer erhabenen Sache, Cicero wirklich großartige und lodernde Worte. »Mögen andere Völker in Sklaverei leben«, ruft er seine Mitbürger an. »Wir Römer wollen es nicht. Können wir nicht die Freiheit erobern, so laßt uns sterben.« Sei der Staat wirklich zu seiner letzten Erniedrigung gekommen, dann gezieme es einem Volk, das die ganze Welt beherrsche – nos principes orbium terrarum gentius que omnium –, so zu handeln, wie es selbst die versklavten [26]Gladiatoren in der Arena täten: lieber mit dem Antlitz gegen den Feind zu sterben als sich hinschlachten zu lassen. »Ut cum dignitate potius cadamus quam cum ignominia serviamus«, um lieber in Ehren zu sterben, als in Schande zu dienen.

Staunend lauscht der Senat, lauscht das versammelte Volk diesen Philippikas. Manche ahnen vielleicht, es werde für Jahrhunderte zum letztenmal sein, daß solche Worte am Markte ausgesprochen werden dürfen. Bald wird man sich dort nur mehr vor den marmornen Statuen der Imperatoren sklavisch verbeugen müssen, bloß Schmeichlern und Angebern wird ein hinterhältiges Flüstern statt der einstmaligen freien Rede im Reiche der Caesaren erlaubt sein. Ein Schauer überkommt die Hörer: halb Schauer der Angst und halb der Bewunderung für diesen alten Mann, der einsam, mit dem Mute eines Desperados, eines innerlich Verzweifelten, die Unabhängigkeit des geistigen Menschen und das Recht der Republik verteidigt. Zögernd stimmen sie ihm zu. Aber auch der Feuerbrand der Worte kann den vermorschten Stamm des römischen Stolzes nicht mehr entflammen. Und während dieser einsame Idealist am Markte Aufopferung predigt, schließen hinter seinem Rücken die skrupellosen Machthaber der Legionen bereits den schmählichsten Pakt der römischen Geschichte.

Derselbe Octavian, den Cicero als den Verteidiger der Republik gerühmt, derselbe Lepidus, für den er eine Statue für seine Verdienste um das römische Volk gefordert, weil sie beide ausgezogen waren, um den Usurpator Antonius zu vernichten, ziehen beide vor, ein privates Geschäft zu machen. Da keiner von den drei Rottenführern, nicht Octavian und nicht Antonius und nicht Lepidus stark genug [27]ist, um allein sich des römischen Reiches als einer persönlichen Beute zu bemächtigen, kommen die drei Todfeinde überein, lieber das Erbe Caesars privat unter sich zu verteilen; an Stelle des großen Caesar hat Rom über Nacht drei kleine Caesaren.

Es ist eine welthistorische Stunde, da die drei Generäle, statt dem Senat zu gehorchen und die Gesetze des römischen Volkes zu achten, sich einigen, ihr Triumvirat zu bilden und ein riesiges Reich, das drei Erdteile umspannt, als billige Kriegsbeute zu teilen. Auf einer kleinen Insel nahe von Bologna, wo der Rheno und der Lavino zusammenfließen, wird ein Zelt errichtet, in dem sich die drei Banditen treffen sollen. Selbstverständlich traut keiner der großen Kriegshelden dem andern. Zu oft haben sie sich in ihren Proklamationen Lügner, Schurken, Usurpatoren, Staatsfeinde, Räuber und Diebe genannt, um nicht einer über den Zynismus des andern genau Bescheid zu wissen. Aber Machthungrigen ist nur ihre Macht wichtig und nicht Gesinnung, nur die Beute und nicht Ehre. Mit allen Vorsichtsmaßregeln nähern die drei Partner sich einer nach dem andern dem verabredeten Platz; erst nachdem sich die zukünftigen Herrscher der Welt gegenseitig überzeugt haben, daß keiner von ihnen Waffen mit sich führt, um den allzu neuen Verbündeten zu ermorden, lächeln sie sich freundlich zu und betreten gemeinsam das Zelt, in dem das zukünftige Triumvirat beschlossen und errichtet werden soll.

Drei Tage verbleiben Antonius, Octavian und Lepidus ohne Zeugen in diesem Zelt. Sie haben dreierlei zu tun. Über den ersten Punkt – wie sie die Welt teilen sollen – [28]einigen sie sich rasch. Octavian soll Afrika und Numidien, Antonius Gallien und Lepidus Spanien erhalten. Auch die zweite Frage macht ihnen wenig Sorge: wie das Geld aufzubringen für den Sold, den sie ihren Legionen und Parteilumpen seit Monaten schuldig sind. Dieses Problem löst sich flink nach einem seitdem oftmals nachgeahmten System. Man wird einfach den reichsten Männern im Lande das Vermögen rauben und, damit sie nicht allzulaut darüber klagen können, sie gleichzeitig beseitigen. Gemächlich setzen an ihrem Tisch die drei Männer eine Proskriptionsliste auf mit den zweitausend Namen der reichsten Leute Italiens, darunter hundert Senatoren. Jeder nennt diejenigen, die er kennt, und dazu noch seine persönlichen Feinde und Gegner. Mit ein paar hastigen Griffelstrichen hat das neue Triumvirat nach der territorialen auch die ökonomische Frage vollkommen erledigt.

Nun kommt der dritte Punkt zur Sprache. Wer eine Diktatur begründen will, muß, um der Herrschaft sicher zu bleiben, vor allem die ewigen Gegner jeder Tyrannei zum Schweigen bringen – die unabhängigen Menschen, die Verteidiger jener unausrottbaren Utopie: der geistigen Freiheit. Als ersten Namen für diese letzte Liste fordert Antonius den Marcus Tullius Ciceros. Dieser Mann hat ihn in seinem wahren Wesen erkannt und bei seinem wahren Namen genannt. Er ist gefährlicher als alle, weil er geistige Kraft hat und den Willen zur Unabhängigkeit. Er muß aus dem Wege.

Octavian erschrickt und weigert sich. Als junger Mensch noch nicht ganz verhärtet und vergiftet von der Perfidie der Politik, scheut er sich, seine Herrschaft mit der Beseitigung des berühmtesten Schriftstellers Italiens zu beginnen. [29]Cicero ist sein getreuester Sachwalter gewesen, er hat ihn gerühmt vor dem Volke und Senat; vor wenigen Monaten noch hat Octavian seine Hilfe, seinen Rat demütig angesprochen und den alten Mann ehrfürchtig seinen »wahren Vater« genannt. Octavian schämt sich und beharrt in seinem Widerstand. Aus einem richtigen Instinkt, der ihm Ehre macht, will er diesen erlauchtesten Meister der lateinischen Sprache nicht dem schmählichen Dolch bezahlter Mörder hingeben. Aber Antonius beharrt, er weiß, daß zwischen Geist und Gewalt eine ewige Feindschaft ist und niemand der Diktatur gefährlicher werden kann als der Meister des Worts. Drei Tage währt der Kampf um Ciceros Haupt. Schließlich gibt Octavian nach, und so beschließt Ciceros Name das vielleicht schmählichste Dokument der römischen Geschichte. Mit dieser einen Proskription ist das Todesurteil der Republik erst richtig besiegelt.

In der Stunde, da Cicero von der Einigung der früheren drei Erzfeinde erfährt, weiß er, daß er verloren ist. Er weiß genau, daß er in dem Freibeuter Antonius, den Shakespeare zu Unrecht ins Geistige emporgeadelt hat, zu schmerzhaft die niederen Instinkte der Haßgier, der Eitelkeit, der Grausamkeit, der Skrupellosigkeit mit der Weißglut des Wortes gebrandmarkt hat, als daß er von diesem brutalen Gewaltmenschen Caesars Großmut erhoffen könnte. Das einzig Logische, falls er sein Leben retten wollte, wäre rasche Flucht. Cicero müßte hinüber nach Griechenland zu Brutus, zu Cassius, zu Cato in das letzte Heerlager der republikanischen Freiheit; dort wäre er zumindest vor den bereits ausgesandten Meuchelmördern gesichert. Und tatsächlich, zweimal, dreimal scheint der Geächtete schon zur Flucht [30]entschlossen. Er bereitet alles vor, er verständigt seine Freunde, er schifft sich ein, er macht sich auf den Weg. Aber immer wieder hält Cicero im letzten Augenblick inne; wer einmal die Trostlosigkeit des Exils gekannt, spürt selbst in der Gefahr die Wollust der heimischen Erde und die Unwürdigkeit eines Lebens in ewiger Flucht. Ein geheimnisvoller Wille jenseits der Vernunft und sogar wider die Vernunft, zwingt ihn, sich dem Schicksal zu stellen, das ihn erwartet. Nur noch ein paar Tage Rast begehrt der müde Gewordene von seinem schon erledigten Dasein. Nur noch ein wenig still nachsinnen, noch ein paar Briefe schreiben, ein paar Bücher lesen – möge dann kommen, was ihm bestimmt ist. In diesen letzten Monaten verbirgt sich Cicero bald in dem einen, bald in dem anderen seiner Landgüter, immer wieder aufbrechend, sobald eine Gefahr droht, aber niemals ihr vollkommen entflüchtend. Wie ein Fieberkranker die Kissen, so wechselt er diese halben Verstecke, nicht ganz entschlossen, seinem Schicksal entgegenzutreten und nicht auch entschlossen, ihm auszuweichen, als wollte er mit dieser Todesbereitschaft unbewußt die Maxime erfüllen, die er in seinem ›De senectute‹ niedergelegt, daß ein alter Mann den Tod weder suchen dürfe noch ihn verzögern; wann immer er komme, müsse man ihn gelassen empfangen. Neque turpis mors forti viro potest accedere: für den Seelenstarken gibt es keinen schmählichen Tod.

 

In diesem Sinne befiehlt Cicero, der schon nach Sizilien unterwegs gewesen, plötzlich seinen Leuten, noch einmal den Kiel zum feindlichen Italien zurückzuwenden und in Cajeta, dem heutigen Gaeta, zu landen, wo er ein kleines Gütchen besitzt. Eine Müdigkeit, die nicht bloß eine der [31]Glieder, der Nerven ist, sondern eine Müdigkeit des Lebens und geheimnisvolles Heimweh nach dem Ende, nach der Erde hat ihn übermannt. Nur rasten noch einmal. Noch einmal die süße Luft der Heimat atmen und Abschied nehmen, Abschied von der Welt, aber ruhen und rasten, sei es ein Tag oder eine Stunde nur!

Ehrfürchtig begrüßt er, kaum gelandet, die heiligen Laren des Hauses. Er ist müde, der vierundsechzigjährige Mann, und die Seefahrt hat ihn erschöpft, so streckt er sich hin auf das cubiculum, die Augen geschlossen, um in lindem Schlafe die Vorlust des ewigen Ausruhens zu genießen.

Aber kaum hat Cicero sich hingestreckt, so stürzt schon ein getreuer Sklave herein. Es seien verdächtige bewaffnete Männer in der Nähe; ein Angestellter seines Haushalts, dem er viele Freundlichkeiten zeitlebens erwiesen, habe um der Belohnung willen seinen Aufenthalt den Mördern verraten. Cicero möge flüchten, rasch flüchten, eine Sänfte sei bereit, und sie selbst, die Sklaven des Hauses, wollten sich bewaffnen, und ihn verteidigen während des kurzen Weges hin zum Schiff, wo er dann gesichert sei. Der alte erschöpfte Mann wehrt ab. »Was soll es«, sagt er, »ich bin müde zu fliehen und müde zu leben. Laß mich hier in diesem Lande sterben, das ich gerettet habe.« Schließlich überredet ihn doch der alte getreue Diener; bewaffnete Sklaven tragen die Sänfte auf Umwegen durch das kleine Wäldchen zu der rettenden Barke.

Aber der Verräter in seinem Hause will sich um sein Schandgeld nicht betrügen lassen, hastig ruft er einen Centurio und ein paar Bewaffnete zusammen. Sie jagen dem Zuge nach durch den Wald und erreichen noch rechtzeitig ihre Beute.

[32]Sofort scharen sich die bewaffneten Diener um die Sänfte und machen sich zum Widerstand bereit. Jedoch Cicero befiehlt ihnen abzulassen. Sein eigenes Leben ist abgelebt, wozu noch fremde und jüngere opfern? In dieser letzten Stunde fällt von diesem ewig schwankenden, unsicheren und nur selten mutigen Mann alle Angst. Er fühlt, daß er als Römer sich nur in der letzten Probe noch bewähren kann, wenn er – sapientissimus quisque aequissimo animo moritur – aufrecht dem Tode entgegengeht. Auf sein Geheiß weichen die Diener zurück, unbewaffnet und ohne Widerstand bietet er sein greises Haupt den Mördern mit dem großartig überlegenen Wort dar: »Non ignoravi me mortalem genuisse«, ich habe immer gewußt, daß ich sterblich bin. Die Mörder aber wollen nicht Philosophie, sondern ihren Sold. Sie zögern nicht lange. Mit einem mächtigen Hieb schlägt der Centurio den Wehrlosen nieder.

So stirbt Marcus Tullius Cicero, der letzte Anwalt der römischen Freiheit, heroischer, mannhafter und entschlossener in dieser seiner letzten Stunde als in den Tausenden und Tausenden seines abgelebten Lebens.

Auf die Tragödie folgt das blutige Satyrspiel. Aus der Dringlichkeit, mit der von Antonius gerade dieser eine Mord anbefohlen war, mutmaßen die Mörder, daß dieser Kopf einen besonderen Wert haben müsse – nicht natürlich seinen Wert im geistigen Gefüge der Welt und der Nachwelt ahnen sie – sondern wohl aber den besonderen Wert für den Auftraggeber der blutigen Tat. Um sich die Prämie nicht streitig machen zu lassen, beschließen sie als sprechenden Beweis des vollzogenen Befehls, den Kopf Antonius persönlich zu überbringen. So hackt der [33]Banditenführer der Leiche Haupt und Hände ab, stopft sie in einen Sack und eilt, diesen Sack, aus dem noch das Blut des Gemordeten tropft, auf den Rücken geschultert, eiligst nach Rom, um den Diktator mit der Nachricht zu erfreuen, daß der beste Verteidiger der römischen Republik auf übliche Weise erledigt worden sei.

Und der kleine Bandit, der Banditenführer, hat richtig gerechnet. Der große Bandit, der diesen Mord anbefohlen, münzt seine Freude über die begangene Untat in fürstliche Belohnung um. Nun, da er die zweitausend reichsten Leute Italiens ausplündern und morden ließ, kann Antonius endlich freigiebig sein. Eine blanke Million Sesterzen zahlt er dem Centurio für den blutigen Sack mit Ciceros abgeschlagenen Händen und geschändetem Haupt. Aber noch immer ist damit seine Rache nicht gekühlt, so ersinnt der stupide Haß dieses Blutmenschen für diesen Toten noch eine besondere Schmach, ahnungslos, daß sie ihn selbst erniedrigen wird für alle Zeiten. Antonius befiehlt, daß das Haupt und die Hände Ciceros an die Rostra, an dieselbe Rednerbühne genagelt werden sollen, von der herab er das Volk gegen ihn zur Verteidigung der römischen Freiheit aufgerufen.

Ein schmähliches Schauspiel erwartet am nächsten Tage das römische Volk. An der Rednerkanzel, der gleichen, von der Cicero seine unsterblichen Reden gehalten, hängt fahl das abgeschlagene Haupt des letzten Anwalts der Freiheit. Ein wuchtiger rostiger Nagel geht quer durch die Stirn, die tausend Gedanken gedacht; fahl und bitter verklammen sich die Lippen, die schöner als alle das metallische Wort der lateinischen Sprache geformt, verschlossen decken die bläulichen Lider das Auge, das durch sechzig Jahre über die [34]Republik gewacht, machtlos spreizen sich die Hände, die die prachtvollsten Briefe der Zeit geschrieben.

Aber dennoch, keine Anklage, die der großartige Redner gegen Brutalität, gegen Machtkoller, gegen Gesetzlosigkeit von dieser Tribüne gesprochen, spricht so beredt gegen das ewige Unrecht der Gewalt als nun sein stummes, gemordetes Haupt: scheu drängt das Volk um die geschändete Rostra, bedrückt, beschämt weicht es wieder zur Seite. Keiner wagt – es ist Diktatur! – eine Widerrede, aber ein Krampf preßt ihre Herzen, und betroffen schlagen sie die Augen nieder vor diesem tragischen Sinnbild ihrer gekreuzigten Republik.

[35]Die Eroberung von Byzanz

29. Mai 1453

Erkenntnis der Gefahr

Am 5. Februar 1451 bringt ein geheimer Bote dem ältesten Sohn des Sultans Murad, dem einundzwanzigjährigen Mahomet, nach Kleinasien die Nachricht, daß sein Vater gestorben sei. Ohne seine Minister, seine Berater auch nur mit einem Wort zu verständigen, wirft sich der ebenso verschlagene wie energische Fürst auf das beste seiner Pferde, in einem Zug peitscht er das herrliche Vollblut die hundertzwanzig Meilen bis zum Bosporus und setzt sofort nach Gallipoli auf das europäische Ufer über. Dort erst entschleiert er den Getreusten den Tod seines Vaters, er rafft, um jeden anderen Thronanspruch von vorneweg niederschlagen zu können, eine auserlesene Truppe zusammen und führt sie nach Adrianopel, wo er auch tatsächlich ohne Widerspruch als Gebieter des ottomanischen Reiches anerkannt wird. Gleich seine erste Regierungshandlung zeigt Mahomets furchtbar rücksichtslose Entschlossenheit. Um im voraus jeden Rivalen gleichen Blutes zu beseitigen, läßt er seinen unmündigen Bruder im Bade ertränken, und sofort darauf – auch dies beweist seine vorbedenkende Schlauheit und Wildheit – schickt er dem Ermordeten den Mörder, den er zu dieser Tat gedungen, in den Tod nach.

Die Nachricht, daß statt des bedächtigeren Murad dieser junge, leidenschaftliche und ruhmgierige Mahomet Sultan der Türken geworden sei, erfüllt Byzanz mit Entsetzen. [36]Denn durch hundert Späher weiß man, daß dieser Ehrgeizige geschworen hat, die einstige Hauptstadt der Welt in seinen Besitz zu bringen, daß er trotz seiner Jugend Tage wie Nächte mit strategischen Erwägungen für diesen seinen Lebensplan verbringt; zugleich aber melden auch alle Berichte einmütig die außerordentlichen militärischen und diplomatischen Fähigkeiten des neuen Padischahs. Mahomet ist beides zugleich, fromm und grausam, leidenschaftlich und heimtückisch, ein gelehrter, ein kunstliebender Mann, der seinen Cäsar und die Biographien der Römer lateinisch liest, und gleichzeitig ein Barbar, der Blut verschüttet wie Wasser. Dieser Mann mit den feinen, melancholischen Augen und der scharfen, bissigen Papageiennase erweist sich in einem als unermüdlicher Arbeiter, verwegener Soldat und skrupelloser Diplomat, und alle diese gefährlichen Kräfte wirken konzentrisch in die gleiche Idee: seinen Großvater Bajazet und seinen Vater Murad, die zum erstenmal Europa die militärische Überlegenheit der neuen türkischen Nation gelehrt, in ihren Taten noch weit zu übertreffen. Sein erster Griff aber, dies weiß man, dies fühlt man, wird Byzanz sein, dieser letztverbliebene herrliche Edelstein der Kaiserkrone Konstantins und Justinians.

Dieser Edelstein liegt für eine entschlossene Faust tatsächlich unbeschirmt und zum Greifen nahe. Das Imperium Byzantinum, das oströmische Kaiserreich, das einstens die Welt umspannte, von Persien bis zu den Alpen und wieder bis zu den Wüsten Asiens sich erstreckend, ein Weltreich, in Monaten und Monaten kaum zu durchmessen, kann man nun in drei Stunden zu Fuß bequem durchschreiten: kläglicherweise ist von jenem byzantinischen [37]Reich nichts übriggeblieben als ein Haupt ohne Leib, eine Hauptstadt ohne Land: Konstantinopel, die Konstantinstadt, das alte Byzantium, und selbst von diesem Byzanz gehört dem Kaiser, dem Basileus, nur mehr ein Teil, das heutige Stambul, während Galata schon an die Genueser und alles Land hinter der Stadtmauer an die Türken gefallen ist; handtellergroß ist dieses Kaiserreich des letzten Kaisers, gerade nur eine riesige Ringmauer um Kirchen, Paläste und das Häusergewirr, das man Byzanz nennt. Geplündert schon einmal bis auf das Mark von den Kreuzfahrern, entvölkert von der Pest, ermattet von der ewigen Abwehr nomadischer Völker, zerrissen von nationalen und religiösen Streitigkeiten, kann diese Stadt weder Mannschaft noch Mannesmut aufbringen, um sich aus eigner Kraft eines Feindes zu erwehren, der sie mit Polypenarmen von allen Seiten längst umklammert hält; der Purpur des letzten Kaisers von Byzanz, Konstantin Dragases, ist ein Mantel aus Wind, seine Krone ein Spiel des Geschicks. Aber eben weil von den Türken schon umstellt und weil geheiligt der ganzen abendländischen Welt durch gemeinsame, jahrtausendalte Kultur, bedeutet dieses Byzanz für Europa ein Symbol seiner Ehre; nur wenn die geeinte Christenheit dieses letzte und schon zerfallende Bollwerk im Osten beschirmt, kann die Hagia Sophia weiterhin eine Basilika des Glaubens bleiben, der letzte und zugleich schönste Dom des oströmischen Christentums.

 

Konstantin begreift sofort die Gefahr. Trotz allen Friedensreden Mahomets in begreiflicher Angst, sendet er Boten auf Boten nach Italien hinüber, Boten an den Papst, Boten nach Venedig, nach Genua, sie mögen Galeeren schicken und Soldaten. Aber Rom zögert und Venedig [38]auch. Denn zwischen dem Glauben des Ostens und dem Glauben des Westens gähnt noch immer die alte theologische Kluft. Die griechische Kirche haßt die römische, und ihr Patriarch weigert sich, in dem Papst den obersten Hirten anzuerkennen. Zwar ist längst in Hinblick auf die Türkengefahr in Ferrara und Florenz auf zwei Konzilien die Wiedervereinigung der beiden Kirchen beschlossen und dafür Byzanz Hilfe gegen die Türken zugesichert. Aber kaum daß die Gefahr für Byzanz nicht mehr so brennend gewesen, hatten sich die griechischen Synoden geweigert, den Vertrag in Kraft treten zu lassen: jetzt erst, da Mahomet Sultan geworden ist, siegt die Not über die orthodoxe Hartnäckigkeit: gleichzeitig mit der Bitte um rasche Hilfe sendet Byzanz die Kunde seiner Nachgiebigkeit nach Rom. Nun werden Galeeren ausgerüstet mit Soldaten und Munition, auf einem Schiffe aber segelt der Legat des Papstes mit, um die Versöhnung der beiden Kirchen des Abendlandes feierlich zu vollziehen und vor der Welt zu bekunden, daß, wer Byzanz angreift, das geeinte Christentum herausfordere.