Sternstunden der Menschheit

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[82]Unvergänglicher Augenblick

Die Überquerung der Landenge von Panama beginnt in jener Provinz Coyba, dem kleinen Reich des Kaziken Careta, dessen Tochter Balboas Lebensgefährtin ist; Nuñez de Balboa hat, wie sich später erweisen wird, nicht die engste Stelle gewählt und durch diese Unwissenheit den gefährlichen Übergang um einige Tage verlängert. Aber für ihn mußte es vor allem wichtig sein, bei einem solchen verwegenen Abstoß ins Unbekannte für Nachschub oder Rückzug die Sicherung eines befreundeten Indianerstammes zu haben. In zehn großen Kanus setzt die Mannschaft von Darien nach Coyba über, hundertneunzig mit Speeren, Schwertern, Arkebusen und Armbrüsten ausgerüstete Soldaten, begleitet von einer stattlichen Rotte der gefürchteten Bluthunde. Der verbündete Kazike stellt seine Indios als Tragtiere und Führer bei, und schon am 6. September beginnt jener ruhmreiche Marsch über den Isthmus, der selbst an die Willenskraft so verwegener und erprobter Abenteurer ungeheure Anforderungen stellt. In erstickender, erschlaffender Äquatorglut müssen die Spanier zuerst die Niederungen durchqueren, deren sumpfiger, fieberschwangerer Boden noch Jahrhunderte später beim Bau des Panamakanals viele Tausende hingemordet hat. Von der ersten Stunde an muß mit Axt und Schwert der Weg ins Unbetretene durch das giftige Dschungel der Lianen gehauen werden. Wie durch ein ungeheures grünes Bergwerk bahnen die ersten der Truppe den andern durch das Dickicht einen schmalen Stollen, den dann Mann hinter Mann in endlos langer Reihe die Armee des Konquistadoren durchschreitet, ständig die Waffen zur Hand, immer, [83]Tag und Nacht, die Sinne wachsam gespannt, um einen plötzlichen Überfall der Eingeborenen abzuwehren. Erstickend wird in der schwülen dunstigen Dunkelheit der feuchtgewölbten Baumriesen, über denen mitleidlose Sonne brennt, die Hitze. Schweißbedeckt und mit verdurstenden Lippen schleppt sich in ihren schweren Rüstungen die Truppe Meile um Meile weiter; dann brechen wieder plötzlich orkanische Regengüsse herab, kleine Bäche werden im Nu zu reißenden Flüssen, die entweder durchwatet werden müssen oder auf rasch von den Indios improvisierten schwankenden Brücken aus Bast überquert. Als Zehrung haben die Spanier nichts als eine Handvoll Mais; übernächtig, hungrig, durstig, umschwirrt von Myriaden stechender, blutsaugender Insekten, arbeiten sie sich vorwärts mit von Dornen zerrissenen Kleidern und wunden Füßen, die Augen fiebrig und die Wangen verschwollen von den surrenden Mückenstichen, ruhlos bei Tag, schlaflos bei Nacht und bald schon vollkommen erschöpft. Schon nach der ersten Marschwoche kann ein Großteil der Mannschaft den Strapazen nicht mehr standhalten, und Nuñez de Balboa, der weiß, daß die eigentlichen Gefahren ihrer erst warten, ordnet an, alle Fieberkranken und Maroden mögen lieber zurückbleiben. Nur mit den Auserlesensten seiner Truppe will er das entscheidende Abenteuer wagen.

Endlich beginnt das Terrain anzusteigen. Lichter wird der Dschungel, der nur in den sumpfigen Niederungen seine ganze tropische Üppigkeit zu entfalten vermag. Aber nun, da der Schatten sie nicht mehr schützt, glüht grell und scharf die steile Äquatorsonne auf ihre schweren Rüstungen nieder. Langsam und nur in kurzen Etappen vermögen die Ermatteten Stufe um Stufe das Hügelland zu jener [84]Bergkette emporzuklimmen, welche wie ein steinernes Rückgrat die schmale Spanne zwischen den beiden Meeren trennt. Allmählich wird der Blick freier, nächtens erfrischt sich die Luft. Nach achtzehntägigem heroischem Mühen scheint die schwerste Schwierigkeit überwunden; schon erhebt sich vor ihnen der Kamm des Gebirges, von dessen Gipfel man nach der Aussage der indianischen Führer beide Ozeane, den atlantischen und den noch unbekannten und unbenannten pazifischen, überblicken kann. Aber gerade nun, wo der zähe und tückische Widerstand der Natur endgültig besiegt scheint, stellt sich ihnen ein neuer Feind entgegen, der Kazike jener Provinz, um mit Hunderten seiner Krieger den Fremden den Durchgang zu sperren. Im Kampf mit Indios ist nun Nuñez de Balboa reichlich erprobt. Es genügt, eine Salve aus den Arkebusen abzufeuern, und wieder erweist der künstliche Blitz und Donner seine bewährte Zauberkraft über die Eingeborenen. Schreiend flüchten die Erschreckten davon, gehetzt von den nachstürmenden Spaniern und den Bluthunden. Aber statt sich des leichten Sieges zu freuen, entehrt ihn Balboa wie alle spanischen Conquistadoren durch erbärmliche Grausamkeit, indem er eine Anzahl wehrloser, gebundener Gefangener – Ersatz für Stierkampf und Gladiatorenspiel – lebend von der Koppel der hungrigen Bluthunde zerreißen, zerfetzen und zerfleischen läßt. Eine widrige Schlächterei schändet die letzte Nacht vor Nuñez de Balboas unsterblichem Tag.

Einmalige unerklärliche Mischung in Charakter und Art dieser spanischen Conquistadoren. Fromm und gläubig, wie nur jemals Christen waren, rufen sie Gott aus inbrünstigster Seele an und begehen zugleich in seinem Namen die schändlichsten Unmenschlichkeiten der Geschichte. Fähig [85]zu den herrlichsten und heroischsten Leistungen des Mutes, der Aufopferung, der Leidensfähigkeit, betrügen und bekämpfen sie sich untereinander in der schamlosesten Weise und haben doch wieder inmitten ihrer Verächtlichkeit ein ausgeprägtes Gefühl für Ehre und einen wunderbaren, wahrhaft bewundernswerten Sinn für die historische Größe ihrer Aufgabe. Derselbe Nuñez de Balboa, der am Abend zuvor unschuldige, gefesselte Gefangene wehrlos den Hetzhunden vorgeworfen und vielleicht die noch von frischem Menschenblut triefenden Lefzen der Bestien zufrieden gestreichelt, ist sich genau der Bedeutung seiner Tat in der Geschichte der Menschheit gewiß und findet im entscheidenden Augenblick eine jener großartigen Gesten, die unvergeßlich bleiben durch die Zeiten. Er weiß, dieser 25. September wird ein welthistorischer Tag sein, und mit wunderbarem spanischen Pathos bekundet dieser harte, unbedenkliche Abenteurer, wie voll er den Sinn seiner überzeitlichen Sendung verstanden.

Großartige Geste Balboas: am Abend, unmittelbar nach dem Blutbad, hat ihm einer der Eingeborenen einen nahen Gipfel gewiesen und gekündet, von dessen Höhe könne man schon das Meer, das unbekannte Mar del Sur, erschauen. Sofort trifft Balboa seine Anordnungen. Er läßt die Verwundeten und Erschöpften in dem geplünderten Dorf und befiehlt der noch marschfähigen Mannschaft – siebenundsechzig sind es noch im ganzen von den einstigen hundertneunzig, mit denen er in Darien den Marsch angetreten –, jenen Berg hinanzusteigen. Gegen zehn Uhr morgens sind sie dem Gipfel nahe. Nur eine kleine kahle Kuppe ist noch zu erklimmen, dann muß der Blick sich ins Unendliche weiten.

[86]In diesem Augenblick befiehlt Balboa der Mannschaft, Halt zu machen. Keiner soll ihm folgen, denn diesen ersten Blick auf den unbekannten Ozean will er mit keinem teilen. Allein und einzig will er für ewige Zeit der erste Spanier, der erste Europäer, der erste Christ gewesen sein und bleiben, der, nachdem er den einen riesigen Ozean unseres Weltalls, den atlantischen, durchfahren, nun auch den andern, den noch unbekannten pazifischen, erblickt. Langsam, pochenden Herzens, tief durchdrungen von der Bedeutung des Augenblicks, steigt er empor, die Fahne in der Linken, das Schwert in der Rechten, einsame Silhouette in dem ungeheuren Rund. Langsam steigt er empor, ohne sich zu beeilen, denn das wahre Werk ist schon getan. Nur ein paar Schritte noch, weniger, immer weniger, und wirklich, nun da er am Gipfel angelangt ist, eröffnet sich vor ihm ungeheurer Blick. Hinter den abfallenden Bergen, den waldig und grün niedersinkenden Hügeln, liegt endlos eine riesige, metallen spiegelnde Scheibe, das Meer, das Meer, das neue, das unbekannte, das bisher nur geträumte und nie gesehene, das sagenhafte, seit Jahren und Jahren von Columbus und allen seinen Nachfahren vergebens gesuchte Meer, dessen Wellen Amerika, Indien und China umspülen. Und Vasco Nuñez de Balboa schaut und schaut und schaut, stolz und selig in sich das Bewußtsein eintrinkend, daß sein Auge das erste eines Europäers ist, in dem sich das unendliche Blau dieses Meeres spiegelt.

Lange und ekstatisch blickt Vasco Nuñez de Balboa in die Weite. Dann erst ruft er die Kameraden heran, seine Freude, seinen Stolz zu teilen. Unruhig, erregt, keuchend und schreiend klimmen, klettern, laufen sie den Hügel empor, starren und staunen und deuten hin mit begeisterten [87]Blicken. Plötzlich stimmt der begleitende Pater Andres de Vara das Te Deum laudamus an, und sofort stockt das Lärmen und Schreien; alle die harten und rauhen Stimmen dieser Soldaten, Abenteurer und Banditen vereinigen sich zum frommen Choral. Staunend sehen die Indios zu, wie auf ein Wort des Priesters hin sie einen Baum niederschlagen, um ein Kreuz zu errichten, in dessen Holz sie die Initialen des Namens des Königs von Spanien eingraben. Und wie nun dieses Kreuz sich erhebt, ist es, als wollten seine beiden hölzernen Arme beide Meere, den Atlantischen und Pazifischen Ozean, mit allen ihren unsichtbaren Fernen erfassen.

Inmitten des fürchtigen Schweigens tritt Nuñez de Balboa vor und hält eine Ansprache an seine Soldaten. Sie täten recht, Gott zu danken, der ihnen diese Ehre und Gnade gewährt, und ihn zu bitten, daß er weiterhin ihnen helfen möge, diese See und alle diese Länder zu erobern. Wenn sie ihm weiter getreu folgen wollten wie bisher, so würden sie als die reichsten Spanier aus diesem neuen Indien wiederkehren. Feierlich schwenkt er die Fahne nach allen vier Winden, um für Spanien alle Fernen in Besitz zu nehmen, welche diese Winde umfahren. Dann ruft er den Schreiber, Andres de Valderrabano, daß er eine Urkunde aufsetze, welche diesen feierlichen Akt für alle Zeiten verzeichnet. Andres de Valderrabano entrollt ein Pergament, er hat es in verschlossenem Holzschrein mit Tintenbehälter und Schreibekiel durch den Urwald geschleppt, und fordert alle die Edelleute und Ritter und Soldaten auf – los Caballeros e Hidalgos y hombres de bien – »die bei der Entdeckung des Südmeers, des Mar del Sur, durch den erhabenen und hochverehrten Herrn und Kapitän Vasco Nuñez de Balboa, Gouverneur seiner Hoheit, anwesend gewesen sind«, zu [88]bestätigen, daß »dieser Herr Vasco Nuñez es war, der als erster dieses Meer gesehen und es den Nachfolgenden gezeigt«.

 

Dann steigen die Siebenundsechzig von dem Hügel nieder, und mit diesem 25. September 1513 weiß die Menschheit um den letzten, bisher unbekannten Ozean der Erde.

Gold und Perlen

Nun ist die Gewißheit gewonnen. Sie haben das Meer gesehen. Aber nun herab an seine Küste, die feuchte Flut fühlen, sie antasten, sie fühlen, sie schmecken und Beute raffen von ihrem Strand! Zwei Tage dauert der Abstieg, und um in Hinkunft den raschesten Weg vom Gebirge zum Meer zu kennen, teilt Nuñez de Balboa seine Mannschaft in einzelne Gruppen. Die dritte dieser Gruppen unter Alonzo Martin erreicht zuerst den Strand, und so sehr sind sogar die einfachen Soldaten dieser Abenteurertruppe schon von der Eitelkeit des Ruhms, von diesem Durst nach Unsterblichkeit durchdrungen, daß sogar der simple Mann Alonzo Martin sich sofort vom Schreiber schwarz auf weiß bescheinigen läßt, der erste gewesen zu sein, der seinen Fuß und seine Hand in diesen noch namenlosen Gewässern genetzt. Erst nachdem er so seinem kleinen Ich ein Stäubchen Unsterblichkeit eingetan, erstattet er Balboa die Meldung, er habe das Meer erreicht, seine Flut mit eigener Hand ertastet. Sofort rüstet Balboa zu neuer pathetischer Geste. Am nächsten Tage, dem Kalendertag des heiligen Michael, erscheint er, von bloß zweiundzwanzig Gefährten begleitet, an dem Strande, um selbst wie St. Michael, gewaffnet [89]und gegürtet, in feierlicher Zeremonie Besitz von dem neuen Meere zu nehmen. Nicht sofort schreitet er in die Flut, sondern wie ihr Herr und Gebieter wartet er hochmütig, unter einem Baume ausruhend, bis die steigende Flut ihre Welle bis zu ihm wirft und wie ein gehorsamer Hund mit der Zunge seine Füße umschmeichelt. Dann erst steht er auf, wirft den Schild auf den Rücken, daß er wie ein Spiegel in der Sonne glänzt, faßt in eine Hand sein Schwert, in die andere die Fahne Kastiliens mit dem Bildnis der Mutter Gottes und schreitet in das Wasser hinein. Erst wie die Wellen ihn bis zu den Hüften umspülen, er ganz eingetan ist in dies große fremde Gewässer, schwingt Nuñez de Balboa, bisher Rebell und Desperado, nun treuester Diener seines Königs und Triumphator, das Banner nach allen Seiten und ruft dazu mit lauter Stimme: »Vivant die hohen und mächtigen Monarchen Ferdinand und Johanna von Kastilien, Leon und Aragon, in deren Namen und zugunsten der königlichen Krone von Kastilien ich wirklichen und körperlichen und dauernden Besitz nehme von allen diesen Meeren und Erden und Küsten und Häfen und Inseln, und ich schwöre, wenn irgendein Fürst oder anderer Kapitän, Christ oder Heide von welch immer einem Glauben oder Stand irgendein Recht auf diese Länder und Meere erheben wollte, sie zu verteidigen im Namen der Könige von Kastilien, deren Eigentum sie sind, jetzt und für alle Zeit, solange die Welt dauert und bis zum Tage des Jüngsten Gerichts«.

Alle Spanier wiederholen den Eid, und ihre Worte überdröhnen für einen Augenblick das laute Brausen der Flut. Jeder netzt seine Lippe mit dem Meerwasser, und abermals nimmt der Schreiber Andres de Valderrabano Akt von der [90]Besitzergreifung und beschließt sein Dokument mit den Worten: »Diese zweiundzwanzig sowie der Schreiber Andres de Valderrabano waren die ersten Christen, die ihren Fuß in das Mar del Sur setzten, und alle probten sie mit ihren Händen das Wasser und netzten damit den Mund, um zu sehen, ob es Salzwasser sei wie jenes des andern Meeres. Und als sie sahen, daß dem so war, sagten sie Gott ihren Dank«.

Die große Tat ist vollbracht. Nun gilt es noch irdischen Nutzen zu ziehen aus dem heldischen Unterfangen. Bei einigen der Eingeborenen erbeuten oder ertauschen die Spanier etwas Gold. Aber neue Überraschung wartet ihrer inmitten ihres Triumphs. Denn ganze Hände voll kostbarer Perlen, die auf den nahen Inseln verschwenderisch reich gefunden werden, bringen ihnen die Indios heran, darunter eine, die »Pellegrina« genannt, die Cervantes und Lope de Vega besungen, weil sie die Königskrone von Spanien und England als eine der schönsten aller Perlen geschmückt. Alle Taschen, alle Säcke stopfen die Spanier voll mit diesen Kostbarkeiten, die hier nicht viel mehr gelten als Muscheln und Sand, und als sie gierig weiter fragen, nach dem ihnen wichtigsten Dinge der Erde, nach Gold, deutet einer der Kaziken nach Süden hinüber, wo die Linie der Berge weich in den Horizont verschwimmt. Dort, erklärt er, liege ein Land mit unermeßlichen Schätzen, die Herrscher tafelten aus goldenen Gefäßen, und große vierbeinige Tiere – es sind die Lamas, die der Kazike meint – schleppten die herrlichsten Lasten in die Schatzkammer des Königs. Und er nennt den Namen des Landes, das südlich im Meer und hinter den Bergen liegt. Es klingt wie »Birù«, melodisch und fremd.

[91]Vasco Nuñez de Balboa starrt der ausgebreiteten Hand des Kaziken hinüber nach in die Ferne, wo die Berge sich blaß in den Himmel verlieren. Das weiche, verführerische Wort »Birù« hat sich ihm sofort in die Seele geschrieben. Unruhig hämmert sein Herz. Zum zweitenmal in seinem Leben hat er unverhofft große Verheißung empfangen. Die erste Botschaft, die Botschaft Comagres, von dem nahen Meere, sie hat sich erfüllt. Er hat den Strand der Perlen gefunden und das Mar del Sur, vielleicht wird ihm auch noch die zweite gelingen, die Entdeckung, die Eroberung des Inkareiches, des Goldlandes dieser Erde.

Selten gewähren die Götter …

Sehnsüchtigen Blickes starrt Nuñez de Balboa noch immer in die Ferne. Wie eine goldene Glocke schwingt das Wort »Birù«, »Peru«, ihm durch die Seele. Aber – schmerzlicher Verzicht! – er darf diesmal weitere Erkundung nicht wagen. Mit zwei oder drei Dutzend abgemüdeter Männer kann man kein Reich erobern. Also zurück erst nach Darien und später einmal mit gesammelten Kräften auf dem nun gefundenen Wege nach dem neuen Ophir. Aber dieser Rückmarsch wird nicht minder beschwerlich. Abermals müssen die Spanier sich durch den Dschungel kämpfen, abermals die Überfälle der Eingeborenen bestehen. Und es ist keine Kriegstruppe mehr, sondern ein kleiner Trupp fieberkranker und mit letzter Kraft hinwankender Männer – Balboa selbst ist dem Tode nahe und wird von den Indios in einer Hängematte getragen –, der nach vier Monaten fürchterlichster Strapazen am 19. Januar 1514 wieder in Darien [92]anlangt. Aber eine der größten Taten der Geschichte ist getan. Balboa hat sein Versprechen erfüllt, reich geworden ist jeder Teilnehmer, der sich mit ihm ins Unbekannte wagte; seine Soldaten haben Schätze heimgebracht von der Küste des Südmeeres wie niemals Columbus und die andern Conquistadoren, und auch alle andern Kolonisten bekommen ihr Teil. Ein Fünftel wird der Krone bereitgestellt, und niemand verargt es dem Triumphator, daß er bei der Beuteteilung auch seinen Hund Leoncico zum Lohn dafür, daß er so wacker den unglücklichen Eingeborenen das Fleisch aus dem Leibe gefetzt, wie irgendeinen andern Krieger an der Belohnung teilnehmen und mit fünfhundert Goldpesos bedecken läßt. Kein einziger in der Kolonie bestreitet nach solcher Leistung mehr seine Autorität als Gouverneur. Wie ein Gott wird der Abenteurer und Rebell gefeiert, und mit Stolz kann er nach Spanien die Nachricht abfertigen, er habe seit Columbus die größte Tat für die kastilische Krone vollbracht. In steilem Aufstieg hat die Sonne seines Glücks alle Wolken durchbrochen, die bislang auf seinem Leben lasteten. Nun steht sie im Zenith.

Aber Balboas Glück hat nur kurze Dauer. Staunend drängt wenige Monate später, an einem strahlenden Junitage, die Bevölkerung von Darien an den Strand. Ein Segel hat aufgeleuchtet am Horizont, und schon dies ist wie ein Wunder an diesem verlorenen Winkel der Welt. Aber siehe, ein zweites taucht daneben auf, ein drittes, ein viertes, ein fünftes, und bald sind es zehn, nein fünfzehn, nein zwanzig, eine ganze Flotte, die auf den Hafen zusteuert. Und bald erfahren sie: all dies hat Nuñez de Balboas Brief bewirkt, aber nicht die Botschaft seines Triumphes – die ist noch nicht in Spanien eingelangt –, sondern jene frühere [93]Nachricht, in der er zum erstenmal den Bericht des Kaziken von dem nahen Südmeer und dem Goldland weitergegeben und um eine Armee von tausend Mann gebeten, um diese Länder zu erobern. Für diese Expedition hat die spanische Krone nicht gezögert, eine so gewaltige Flotte auszurüsten. Aber keineswegs hat man einen Augenblick in Sevilla und Barcelona daran gedacht, eine derart wichtige Aufgabe einem so übel beleumundeten Abenteurer und Rebellen wie Vasco Nuñez de Balboa anzuvertrauen. Ein eigener Gouverneur, ein reicher, adeliger, hochangesehener, sechzigjähriger Mann, Pedro Arias Davilla, meist Pedrarias genannt, wird mitgesandt, um als Gouverneur des Königs endlich Ordnung in der Kolonie zu schaffen, Justiz für alle bisher begangenen Vergehen zu üben, jenes Südmeer zu finden und das verheißene Goldland zu erobern.

Nun ergibt sich eine ärgerliche Situation für Pedrarias. Er hat einerseits Auftrag, den Rebellen Nuñez de Balboa zur Verantwortung zu ziehen für die frühere Verjagung des Gouverneurs und ihn, falls seine Schuld erwiesen ist, in Ketten zu legen oder zu justifizieren; er hat anderseits den Auftrag, das Südmeer zu entdecken. Aber kaum daß sein Boot an Land stößt, erfährt er, daß eben dieser Nuñez de Balboa, den er vor Gericht ziehen soll, die großartige Tat auf eigne Faust vollbracht, daß dieser Rebell den ihm zugedachten Triumph schon gefeiert und der spanischen Krone den größten Dienst seit der Entdeckung Amerikas geleistet hat. Selbstverständlich kann er einem solchen Mann jetzt nicht wie einem gemeinen Verbrecher das Haupt auf den Block legen, er muß ihn höflich begrüßen, ihn aufrichtig beglückwünschen. Aber von diesem Augenblick an ist Nuñez de Balboa verloren. Nie wird Pedrarias dem Rivalen verzeihen, [94]selbständig die Tat vollbracht zu haben, die er zu vollführen entsendet war und die ihm ewigen Ruhm durch die Zeiten gesichert hätte. Zwar muß er, um die Kolonisten nicht vorzeitig zu erbittern, den Haß gegen ihren Helden verbergen, die Untersuchung wird vertagt und sogar ein falscher Friede hergestellt, indem Pedrarias seine eigene Tochter, die noch in Spanien zurückgeblieben ist, Nuñez de Balboa verlobt. Aber sein Haß und seine Eifersucht gegen Balboa wird keineswegs gemildert, sondern nur noch gesteigert, wie nun von Spanien, wo man endlich Balboas Tat erfahren, ein Dekret eintrifft, das dem ehemaligen Rebellen den angemaßten Titel nachträglich verleiht, Balboa gleichfalls zum Adelantado ernennt und Pedrarias den Auftrag gibt, sich in jeder wichtigen Angelegenheit mit ihm zu beraten. Für zwei Gouverneure ist dieses Land zu klein, einer wird weichen müssen, einer von den beiden untergehen. Vasco Nuñez de Balboa spürt, daß das Schwert über ihm hängt, denn in Pedrarias’ Händen liegt die militärische Macht und die Justiz. So versucht er zum zweitenmal die Flucht, die ihm zum erstenmal so herrlich gelungen, die Flucht in die Unsterblichkeit. Er ersucht Pedrarias, eine Expedition ausrüsten zu dürfen, um die Küste am Südmeer zu erkunden und in weiterem Umkreis zu erobern. Die geheime Absicht des alten Rebellen aber ist, sich an dem andern Ufer des Meeres unabhängig zu machen von jeder Kontrolle, selbst eine Flotte zu bauen, Herr seiner eigenen Provinz zu werden und womöglich auch das sagenhafte Birù, dieses Ophir der neuen Welt, zu erobern. Pedrarias stimmt hinterhältig zu. Geht Balboa bei dem Unternehmen zugrunde, um so besser. Gelingt ihm seine Tat, so wird noch immer Zeit sein, sich des allzu Ehrgeizigen zu entledigen.

[95]Damit tritt Nuñez de Balboa seine neue Flucht in die Unsterblichkeit an; seine zweite Unternehmung ist vielleicht noch grandioser als die erste, wenn ihr auch nicht der gleiche Ruhm geschenkt ward in der Geschichte, die immer nur den Erfolgreichen rühmt. Diesmal überquert Balboa den Isthmus nicht nur mit seiner Mannschaft, sondern läßt das Holz, die Bretter, das Tauwerk, die Segel, die Anker, die Winden für vier Brigantinen von Tausenden Eingeborenen über die Berge schleppen. Denn, hat er einmal drüben eine Flotte, dann kann er aller Küsten sich bemächtigen, die Perleninseln erobern und Peru, das sagenhafte Peru. Aber diesmal ist das Schicksal gegen den Wagemutigen, und er findet unablässig neue Widerstände. Auf dem Marsch durch den feuchten Dschungel zerfressen Würmer das Holz, verfault langen die Bretter an und sind nicht zu brauchen. Ohne sich entmutigen zu lassen, läßt Balboa am Golf von Panama neue Stämme niederschlagen und frische Bretter anfertigen. Seine Energie vollbringt wahre Wunder – schon scheint alles gelungen, schon sind die Brigantinen gebaut, die ersten des pazifischen Ozeans. Da schwemmt ein Tornadosturm die Flüsse, in denen sie fertiggestellt liegen, plötzlich riesenhaft an. Die fertigen Boote werden weggerissen und zerschellen im Meer. Noch ein drittes Mal muß begonnen werden; und jetzt endlich gelingt es, zwei Brigantinen fertigzustellen. Nur noch zwei, nur noch drei braucht Balboa mehr, und er kann sich aufmachen und das Land erobern, von dem er träumt bei Tag und Nacht, seit jener Kazike damals mit ausgebreiteter Hand nach Süden gedeutet und er zum erstenmal das verführerische Wort »Birù« vernommen. Ein paar tapfere Offiziere noch nachkommen lassen, einen guten Nachschub [96]an Mannschaften anfordern, und er kann sein Reich gründen! Nur ein paar Monate noch, nur ein wenig Glück zu der innern Verwegenheit, und nicht Pizarro müßte die Weltgeschichte den Besieger der Inkas, den Eroberer Perus nennen, sondern Nuñez de Balboa.

 

Aber selbst gegen seine Lieblinge zeigt sich das Schicksal nie allzu großmütig. Selten gewähren die Götter dem Sterblichen mehr als eine einzige unsterbliche Tat.

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