Die spät bezahlte Schuld

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Die spät bezahlte Schuld

1  Titel Seite

Stefan Zweig
Die spät bezahlte Schuld

Dear old Ellen,

Du wirst, ich weiß es, verwundert sein, von mir nach so langen Jahren einen Brief zu erhalten; es mögen fünf oder vielleicht gar sechs Jahre sein, seitdem ich Dir zum letztenmal geschrieben habe. Ich glaube, es war ein Glückwunsch, als Deine jüngste Tochter sich verheiratete. Diesmal ist der Anlaß nicht so feierlich, und vielleicht scheint Dir sogar mein Bedürfnis sonderbar, gerade Dich zum Vertrauten einer merkwürdigen Begegnung zu machen. Aber das, was mir vor wenigen Tagen begegnet ist, kann ich nur Dir erzählen. Nur Du allein kannst es verstehen.

Unwillkürlich stockt mir die Feder, indem ich dies hinschreibe. Ich muß selbst ein wenig lächeln. Haben wir nicht genau dasselbe »Nur Du kannst das verstehen« uns tausendmal als fünfzehnjährige, als sechzehnjährige unflügge, aufgeregte Mädchen auf der Schulbank oder auf dem Nachhauseweg gegenseitig gesagt, wenn wir uns unsere kindischen Geheimnisse anvertrauten? Und haben wir uns nicht damals in unserer grünen Zeit feierlich zugeschworen, uns alles in jeder Einzelheit zu berichten, was einen gewissen Menschen betrifft? All das liegt heute mehr als ein Vierteljahrhundert weit, aber was einmal beschworen ist, möge bestehen bleiben. Du sollst sehen, ich halte getreulich, wenn auch verspätet, mein Wort.

Die ganze Sache kam so. Ich hatte in diesem Jahr eine schwere und angestrengte Zeit hinter mir. Mein Mann war als Chefarzt an das große Hospital nach R. versetzt worden, ich mußte allein die ganze Übersiedlung durchführen, zwischendurch reiste mein Schwiegersohn mit seiner Frau geschäftlich nach Brasilien und ließ uns die drei Kinder im Haus, die prompt Scharlach bekamen, eins nach dem andern, und ich mußte sie pflegen … Und noch war das letzte nicht aufgestanden, so starb die Mutter meines Mannes. Alles das ging quer durcheinander. Ich meinte zuerst, diesen wilden Betrieb tapfer getragen zu haben, aber irgendwie mußte er mich doch mehr hergenommen haben, als ich wußte, denn eines Tages sagte mein Mann zu mir, nachdem er mich lange schweigend angesehen: »Ich glaube, Margaret, Du solltest jetzt, nachdem die Kinder wieder glücklich gesund sind, selbst etwas für Deine Gesundheit tun. Du siehst übermüdet aus und hast Dich auch gründlich übernommen. Zwei, drei Wochen am Land in irgendeinem Sanatorium und Du bist wieder auf dem Damm.«

Mein Mann hatte recht. Ich war sehr erschöpft, mehr als ich mir zugestand. Ich spürte es daran, daß manchmal, wenn Leute kamen – und wir mußten schrecklich viel repräsentieren und Besuche machen, seit mein Mann hier die Stellung übernommen hatte –, nach einer Stunde nicht mehr recht zuhören konnte, wenn sie sprachen, daß ich oft und öfter im Haushalt das Allereinfachste vergaß und mir morgens Gewalt antun mußte, um aufzustehen. Mit seinem klaren, ärztlich geschulten Blick mußte mein Mann diese körperliche und auch seelische Übermüdung richtig konstatiert haben. Mir fehlten wirklich nichts als vierzehn Tage Erholung. Vierzehn Tage ohne an die Küche, die Wäsche, an Besuche, an den täglichen Betrieb zu denken, vierzehn Tage Alleinsein, sein eigenes Ich sein und nicht nur immer Mutter, Großmutter, Hausvorstand und Chefarztsgattin. Zufällig hatte meine verwitwete Schwester gerade Zeit, zu uns herüberzukommen; so war für meine Abwesenheit alles vorgesorgt, und ich hatte weiter keine Bedenken, dem Ratschlag meines Mannes zu folgen und zum erstenmal seit fünfundzwanzig Jahren allein von Hause wegzugehen. Ja, ich freute mich sogar im voraus mit einer gewissen Ungeduld der neuen Frische entgegen, die mir dieses Ausspannen gewähren sollte. Nur in einem Punkte lehnte ich den Vorschlag meines Mannes ab, nämlich die Erholung in einem Sanatorium zu suchen, obwohl er schon vorsorglich eines ausgewählt hatte, mit dessen Besitzer er von Jugend auf befreundet war. Denn dort waren wieder Menschen, Bekannte, dort hieß es weiter höflich und umgänglich sein. Aber ich wollte nichts als mit mir allein sein, vierzehn Tage mit Büchern, mit Spazierengehen, Träumereien und langem ungestörten Schlaf, vierzehn Tage ohne Telephon und ohne Radio, vierzehn Tage Schweigen, vierzehn Tage ungestörtes eigenes Ich, wenn ich so sagen darf. Unbewußt hatte ich mich seit Jahren nach nichts so sehr gesehnt als nach diesem vollkommenen Ausschweigen und Ausruhen.

Nun erinnerte ich mich aus den ersten Jahren meiner Ehe, von Bozen, wo mein Mann damals als Hilfsarzt praktizierte, einmal drei Stunden zu einem kleinen verlorenen Dorf hoch in den Bergen hinaufgewandert zu sein. Dort stand an dem winzigen Marktplatz gegenüber der Kirche eines jener ländlichen Wirtshäuser jener Art, wie sie in Tirol häufig zu finden sind, zu ebener Erde in breiten wuchtigen Steinen gequadert, das erste Stockwerk unter dem breiten überhängenden hölzernen Dach mit einer geräumigen Veranda und das ganze umsponnen mit Weinlaub, das damals im Herbst wie ein rotes und doch kühlendes Feuer das ganze Haus umglühte. Zur rechten und zur linken duckten sich wie getreue Hunde kleine Häuschen und breite Scheunen, das Haus selbst aber stand mit offener Brust frei unter den weichen wehenden Wolken des Herbstes und sah hinüber in das endlose Panorama der Berge.

Vor diesem kleinen Wirtshaus war ich damals sehnsüchtig und fast verzaubert gestanden. Du kennst das gewiß, daß man von der Eisenbahn aus oder auf einer Wanderung ein Haus sieht, und plötzlich faßt einen der Gedanke an: ach, warum lebt man nicht hier? Hier könnte man glücklich sein. Ich glaube, jeden Menschen überkommt manchmal dieser Gedanke, und wo man einmal ein Haus lange angeblickt hat mit dem heimlichen Wunsch, hier könnte man glücklich sein, dort prägt sich das sinnliche Bild mit jeder Linie dem Gedächtnis ein. Jahrelang erinnerte ich mich noch an die roten und gelben Blumenstöcke vor den Fenstern und an die Holzgalerie an dem ersten Stock, wo damals wie bunte Fahnen die Hauswäsche flatterte, und an die gemalten Fensterläden, gelb auf blauem Grund, in die kleine Herzen in der Mitte eingeschnitten waren, und an den First auf dem Giebel mit dem Storchennest. Manchmal, in einer Unruhe des Herzens, fiel mir dieses Haus ein. Dorthin für einen Tag, dachte ich in jener träumerischen und halb unbewußten Weise, wie man an Unmögliches denkt. War nicht jetzt die beste Gelegenheit, diesen alten und fast schon verschollenen Wunsch zu erfüllen? War nicht gerade dies das Richtige für übermüdete Nerven, dies bunte Haus auf dem Berg, dies Wirtshaus ohne all die lästigen Bequemlichkeiten unserer Welt, ohne Telephon, ohne Radio, ohne Besucher und Formalitäten? Schon während ich es nur mir wieder in die Erinnerung zurückrief, meinte ich den starken, würzigen Duft der Bergluft einzuatmen und das ferne Klingen der ländlichen Kuhglocken zu hören. Schon im Erinnern war ein erstes neues Mutfassen und Gesunden. Es war einer jener Einfälle, die uns ganz ohne Ursache zu überraschen scheinen, aber in Wirklichkeit nur Emanationen lang verhaltener und unterirdisch wartender Wünsche sind. Mein Mann, der nicht wußte, wie oft ich von diesem, vor Jahren einmal gesehenen Häuschen geträumt, lächelte zuerst ein wenig, aber sprach mir zu, dort anzufragen. Die Leute antworteten, alle drei Gastzimmer stünden leer und ich könnte wählen, welches ich wollte. Um so besser, dachte ich: keine Nachbarn, keine Gespräche, und fuhr mit dem nächsten Nachtzug. Am nächsten Morgen brachte mich ein kleiner ländlicher Einspänner mit meinem schmalen Koffer in langsamem Trott den Berg hinauf.

Ich fand alles so vortrefflich, wie ich es nur wünschen konnte. Das Zimmer leuchtete blank mit seinen einfachen Möbeln aus hellem Zirbelholz, von der Veranda, die mir durch die Abwesenheit jedweder Gäste allein zugedacht war, ging die Aussicht in die unendliche Ferne. Ein Blick in die blankgescheuerte, blitzend saubere Küche zeigte mir als erfahrener Hausfrau, daß ich hier auf das Beste versorgt sein würde. Nochmals bestätigte mir die Wirtin, eine hagere, freundliche, grauhaarige Tirolerin, daß ich keinerlei Störung oder Belästigung durch Besucher zu befürchten hätte. Jeden Abend nach sieben kämen freilich der Amtsschreiber, der Gendarmeriekommandant und ein paar andere Nachbarn ins Wirtshaus, um ihren Wein zu trinken, Karten zu spielen und zu plaudern. Aber das seien alles stille Leute, und um elf Uhr gingen sie wieder ihres Weges. Sonntags nach der Kirche und vielleicht auch nachmittags ginge es etwas redseliger zu, weil da von den Halden und Höfen die Bauern herüberkämen. Aber ich würde kaum etwas davon bis in mein Zimmer hören.

Der Tag leuchtete zu schön, als daß es mich lange in meinem Zimmer gehalten hätte. Ich packte die paar Sachen aus, die ich mitgebracht hatte, ließ mir ein Stück guten braunen Landbrots und paar Scheiben kaltes Fleisch mitgeben und wanderte los über die Wiesen, höher und höher. Alles lag frei vor mir, das Tal mit seinem schäumenden Fluß, der Kranz der Firnen, frei wie ich selbst. Ich spürte die Sonne bis in die Poren und ging und ging und ging, eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden lang bis zu der höchsten der Alpenwiesen. Dort streckte ich mich hin in das weiche, warme Moos und spürte, wie mit dem Summen der Bienen, dem leichten und rhythmischen Sausen des Winds eine große Ruhe über mich kam, die Ruhe, nach der ich so lange mich gesehnt. Ich schloß wohlig die Augen und geriet ins Träumen und merkte es gar nicht, daß und wann ich einschlief. Ich wachte erst durch ein Gefühl der Kälte in meinen Gliedern auf. Es war nahezu Abend, und ich mußte fünf Stunden geschlafen haben. Nun wußte ich erst, wie müde ich gewesen. Aber die Frische war schon in meinen Nerven, in meinem Blut. Mit starken, festen, beschwingten Schritten ging ich zwei Stunden den Weg nach dem kleinen Wirtshaus zurück.

 

Vor der Türe stand schon die Wirtin. Sie war ein wenig beunruhigt gewesen, ob ich mich nicht etwas verloren hätte und bot mir an, gleich das Abendessen zu bereiten. Ich war herzhaft hungrig, so hungrig wie ich mich nicht erinnern konnte, seit Jahren gewesen zu sein, und folgte ihr gern in die kleine Wirtsstube. Es war ein dunkler, niederer Raum, holzgetäfelt und behaglich mit seinen rot und blau karierten Tischtüchern, den Gemsenkrucken und gekreuzten Gewehren an der Wand. Und obwohl der mächtige blaue Kachelofen an diesem warmen Herbsttage nicht geheizt war, strömte eine behagliche eingewohnte Wärme von dem Raume aus. Auch die Gäste gefielen mir. An einem der vier Tische saßen der Gendarmerieoffizier, der Finanzer, der Amtsschreiber bei einer Kartenpartie zusammen, jeder sein Glas Bier neben sich. An dem andern lümmelten, die Ellbogen aufgestützt, ein paar Bauern mit dunkelgebräunten markigen Gesichtern. Wie alle Tiroler sprachen sie wenig und sogen nur an ihren langstieligen Porzellanpfeifen. Man sah ihnen an, daß sie tagsüber hart gearbeitet hatten und eigentlich nur ausruhten, zu müde, um zu denken, zu müde, um zu sprechen, brave, rechtliche Leute, in deren holzschnittharte Gesichter zu schauen dem Blick wohltat. Am dritten Tisch saßen ein paar Fuhrwerker und tranken mit kleinen Zügen ihren starken Kornschnaps, müde auch sie und gleichfalls still. Der vierte Tisch war für mich gedeckt und wurde bald belastet mit einem Rostbraten so riesigen Formats, daß ich ihn ansonsten nicht zur Hälfte bewältigt hätte, ohne den zehrenden, gesunden Hunger, den ich mir in der frischen Bergluft angegangen.

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