Buch lesen: «Haiders Schatten», Seite 3

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Nach der Auszählung durch unsere »Wahlkommission« war ich klarer Sieger, und Juliane Höfinger wirkte leicht pikiert. Sie dachte anscheinend, sie hätte im Unterricht etwas falsch gemacht, weil alle FPÖ wählten, eine Partei, die für sie offenbar unwählbar war. Niemand meiner Mitschüler gratulierte mir, dem Außenseiter. Mir jedoch reichte das Wissen, endlich einmal gewonnen zu haben. Gegen Klaus. Auch gegen mich selbst. Und für die FPÖ. Es gab ein Gebiet, auf dem ich, nun auch nachweislich, der Beste war.

Als in der Folge die Entscheidung über meine Zukunft nach Beendigung der Schulpflicht anstand, war Juliane Höfinger die Einzige, die mich dann in ein Oberstufenrealgymnasium schicken wollte. Alle anderen Lehrer sahen mich angesichts meiner bis zum Schluss mäßigen Schulerfolge eher in einem Lehrberuf und rieten meinen Eltern von ihrem Vorhaben ab, mich an eine höhere Schule zu schicken. Doch Höfinger hielt dagegen. »Der Stefan schafft das«, sagte sie meinen Eltern. Sie setzte sich durch und ich konnte im musischen Zweig des Gymnasiums mit neuen Mitschülern neu anfangen.

Vielleicht war es mein Sieg in der nur für mich so wichtigen »Elefantenrunde«, der mir das Gefühl gab, nicht nur in meinen Träumen, sondern auch im richtigen Leben für etwas gut sein zu können. Jedenfalls vollzog ich in der neuen Schule einen kompletten Wandel. In kürzester Zeit wurde ich von einem schüchternen Außenseiter zu einem aufgeweckten und besonders kommunikativen Jungen. Ich kompensierte jetzt, was ich vier Jahre lang an Freundschaft und Austausch verpasst hatte.

Ich musste mich zwar mit dem Unterrichtsstoff abmühen, doch jetzt war ich fester Bestandteil einer richtig gut funktionierenden Klassengemeinschaft und entwickelte das Talent, nicht nur meine Mitschüler, sondern auch meine Lehrer mit lausbübischem Charme und einem gewissen ironischen Witz für mich einzunehmen. Mich verblüffte es am Anfang selbst, wie effizient sich diese Instrumente einsetzen ließen. Einmal erklärte ich unserer Englischprofessorin anhand des wenigen, das ich über ein uns zur Lektüre aufgetragenes Theaterstück wusste, dass ich es einfach zu langweilig und die im Stück erzählte Liebesgeschichte viel zu kitschig gefunden hätte, um nach ein paar Seiten weiter zu lesen. »Für so etwas habe ich schlicht keine Zeit. Da mache ich das, was dort steht, doch viel lieber selbst«, sagte ich. Obwohl sie davor alle anderen, die es nicht gelesen hatten, mit einem »Nicht genügend« abgestraft hatte, antwortete sie mir mit einem Lachen. »Du hast recht, Stefan«, sagte sie. »Das Stück ist wirklich mies.« Auf das »Nicht genügend« verzichtete sie.

In dieser Zeit fing ich auch zu rauchen an, denn wer damals zur coolen Avantgarde der Schule gehören wollte, der hatte sich bei den Rauchern im Raucherhof einzufinden. Die Pausen zwischen den Unterrichtsstunden bedeuteten für mich beinahe schon Strapazen, weil ich längst mit der halben Schule bekannt war, und mit jedem Schüler, dessen Wege ich in den Gängen kreuzte, ein paar Worte wechselte. Ich veränderte mich auch äußerlich. Eben war ich noch blass, etwas pummelig und total out gekleidet gewesen, doch jetzt war ich schlank, sonnengebräunt und achtete sorgfältig auf mein optisches Erscheinen.

Am Ende war ich der Klassensprecher und schaffte die Matura locker im ersten Anlauf. Das bestätigte mich neuerlich in meinen jungenhaften Vorstellungen vom Politikerdasein. Der Weg zu meinem Traumberuf, den es bisher nur in meiner Phantasie gegeben hatte, schien sich vor mir aufzutun.

Haider und ich: Der Anfang

»Stefan«, sagte die Marketingverantwortliche zu mir, als ich gerade das Büro verlassen wollte, um mir einen Kaffee zu holen. »Machst du den Haider?«

Es war Dezember 2002 und die Kleine Zeitung organisierte wie jedes Jahr eine Sammelaktion im Rahmen der ORF-Spendeninitiative »Licht ins Dunkel«. Das Blatt hatte dafür einen Stand am Weihnachtsmarkt am Neuen Platz in Klagenfurt aufgebaut und bewarb die Aktion, indem sie Prominente dorthin einlud. Die kauften bei solchen Gelegenheiten Lose und warfen sie öffentlichkeitswirksam in eine Sammel-Urne aus Glas. Meine Aufgabe bestand darin, PR-Artikel über diese Begebenheiten zu schreiben.

Ich hatte nach dem Gymnasium im Herbst 1999 ein Publizistik-Studium begonnen, weil mir das Fach am nächsten an die Aufgaben des Generalsekretärs einer politischen Partei heranzureichen schien, und mir zudem einen Plan B ermöglichte: Wenn schon nicht Politik, dann wenigstens über Politik schreiben, als Journalist. Das Studium mit seinen rein theoretischen Zugängen nervte mich allerdings bald. Ich wollte Medien und Kommunikation machen, nicht darüber philosophieren. Daher besuchte ich neben meinem Studium auch eine Schauspielschule, um meine Sprache zu verbessern und meine lästige Sprachstörung endgültig loszuwerden. Meinen zwölfmonatigen Zivildienst in einem Altenpflegeheim hatte ich zwischen mein Studium eingeschoben und durch ein Ferialpraktikum nach der Matura war ich bei der Kleinen Zeitung gelandet. Über den Umweg als Mitarbeiter im Kundenservice-Center landete ich in der Marketing-Abteilung und durfte auch erste Artikel als freier Mitarbeiter für die Redaktion schreiben.

Ich war 22 Jahre alt und hatte, jeweils gemeinsam mit einem Fotografen, schon einige Termine beim Spendenstand absolviert, denn zweimal die Woche tauchten dort Prominente auf. Es waren auch schon Politiker darunter gewesen, etwa der Klagenfurter Bürgermeister Harald Scheucher und einige Landesräte. Ich hatte ihnen Fragen gestellt und mein Diktiergerät mitlaufen lassen.

Dass jetzt Haider an der Reihe war, war keineswegs selbstverständlich. Denn die in der Steiermark und in Kärnten auflagenstarke Kleine Zeitung stand ihm sehr kritisch gegenüber. Ich war davon ausgegangen, dass ihn die Marketing-Abteilung gerade nach den jüngsten politischen Turbulenzen aus der Prominenten-Berichterstattung über die Aktion ausklammern würde. Denn Haider war zu diesem Zeitpunkt politisch so gut wie tot und von allen abgeschrieben.

Noch 1999 hatte er unaufhaltbar gewirkt. Er hatte bei der Nationalratswahl sagenhafte 27 Prozent geholt und die FPÖ von einer Kleinpartei zur zweitstärksten Partei Österreichs gemacht. Gegen den Widerstand des Bundespräsidenten und unter heftigen Protesten von Teilen der Bevölkerung, die mit ihren Demonstrationen jeden Donnerstag halb Wien lahmlegten, führte er die geächtete FPÖ in eine Regierungskoalition mit der ÖVP. Die internationale Empörung und die Proteste darüber gingen so weit, dass die EU Sanktionen gegen Österreich verhängte. Haider war am Cover von Time-Magazine und Newsweek mit Schlagzeilen wie »Should Europe fear this man?« und beschäftigte die Zeitungen und TV-Sender um den halben Globus.

Als Folge der internationalen Proteste und der verhängten Sanktionen verzichtete Haider und überließ den Posten des Kanzlers unter heftigem Wehklagen aus den eigenen Reihen dem damaligen ÖVP-Obmann Wolfgang Schüssel. Er zog sich auf seine Funktion als Kärntner Landeshauptmann zurück und gab auch die Funktion des FPÖ-Parteiobmannes an seine Mitstreiterin Susanne Riess-Passer ab, die auch Vizekanzlerin wurde. Die Worte, die er bei der Amtsübergabe auf einem groß inszenierten FPÖ-Bundesparteitag mit brüchiger Stimme benutzte, wählte er mit Bedacht, doch in der allgemeinen öffentlichen Aufregung ging deren eigentlicher Sinn völlig unter. Haider verglich sich mit einem Bergführer, der kurz vor Erreichen des Gipfels an seine Bergkameraden übergibt. Er sagte: »Susanne, geh voran!« Er sagte nicht: »Susanne, geh allein!« Er machte damit klar, dass er keinesfalls vorhatte, ihr den Gipfel zu überlassen, wie alle annahmen, sondern dass er sie nur voran schickte, während er in Gipfelnähe das Vorüberziehen des politischen Sturms der Entrüstung abwarten wollte, um am Ende nachzukommen und selbst den Gipfel zu erklimmen.

Ich hatte dieses Geschehen zuhause vor dem Fernseher verfolgt und versucht, mir einen Reim auf Haiders Entscheidung, seine Beweggründe und seine dabei gezeigten Emotionen zu machen. »Haider will das eigentlich nicht. Er geht, weil er glaubt, es zu müssen. Haider ist aber kein Mann für die zweite Reihe. Das wird nicht funktionieren. Er wird da unten in Kärnten keine Ruhe geben«, hatte ich zu meinem Vater gesagt.

Tatsächlich sollte es so kommen: Haider betrieb von Kärnten aus Oppositionspolitik gegen die eigene Regierungsmannschaft in Wien und meldete sich ständig öffentlich mit immer härter werdender Kritik zu Wort. Er schoss permanent quer. So lange bis die Situation endgültig eskalierte. Bei einer Versammlung von FPÖ-Parteitagsdelegierten im steirischen Knittelfeld kam es zum offenen Bruch zwischen Haider und der Führungsmannschaft der FPÖ. Riess-Passer trat als Parteiobfrau und Vizekanzlerin zurück, der Finanzminister, Karl-Heinz Grasser, und FPÖ-Klubobmann Peter Westenthaler folgten ihr, worauf hin Schüssel die Gunst der Stunde nutzte und Neuwahlen ausrief. Bei diesen Neuwahlen Ende 2002 stürzte die FPÖ auf zehn Prozent ab und verlor damit gleich 17 Prozent ihrer Wähler. Haider hatte zerstört, was er selbst dreißig Jahre lang aufgebaut hatte. Er hatte das Aufeinanderprallen der Fronten bewusst zugelassen. Er, der Unbezwingbare, gegen den Rest der Welt.

Die Medien, die Öffentlichkeit und seine politischen Gegner hatten Haider deshalb wie gesagt abgeschrieben. Selbst in seiner einstigen Kärntner Hochburg feindeten ihn nun viele an. Auch meinem Vater, der seit 1968 Mitglied der FPÖ war, reichte es. Er trat wegen Haider aus der Partei aus. Auch ich war enttäuscht, zugleich versuchte ich, den Menschen hinter dem Politiker Haider zu verstehen und seine Psyche zu entschlüsseln.

In einem seiner Interviews in dieser Zeit waren mir seine blutunterlaufenen Augen aufgefallen. Sie sahen aus, als hätte er kurz davor geweint. Der spinnt nicht, dachte ich, als sogar mediale Spekulationen aufkamen, Haider könnte geisteskrank sein. Der ist einfach nur völlig aus dem Ruder gelaufen. Der ist verzweifelt, weil er seinen großen Moment verpasst und zu spät realisiert hat, dass er alles zerstört.

»Klar mache ich den Haider«, sagte ich zu meiner Vorgesetzten in der Marketing-Abteilung der Kleinen Zeitung.

Die schien meinen überraschten Blick bemerkt zu haben. »Immerhin ist er noch unser Landeshauptmann«, sagte sie.

»Wann kommt er denn?«

Seit meiner Kindheit hatten die Medien und die anderen Parteien Abgesänge auf Haider angestimmt und seinen endgültigen Untergang kommen sehen, etwa nachdem er sich zu der Aussage verstiegen hatte, dass es im Dritten Reich eine »ordentliche Beschäftigungspolitik« gegeben habe und in deren Folge er als Landeshauptmann zurücktreten musste. Doch immer wieder hatte er sich zurückgekämpft. So real und unabwendbar wie diesmal war Haiders politisches Ende aber noch nie erschienen. Doch eine Politik in Österreich ohne Jörg Haider war für mich unvorstellbar. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. »Er kommt wieder. Er ist noch jedes Mal zurückgekommen. Stärker als zuvor«, sagte ich bei vielen unserer Gespräche zu meinem Vater. Ich wollte Haider dabei helfen.

Trotzdem war meine Gewissheit, eines Tages FPÖ-Generalsekretär unter Jörg Haider zu sein, seit meiner Schulzeit nahezu geschwunden. Sie hatte unter den Sachzwängen meines Lebens gelitten, in dem Kindheitsträume nicht mehr so viel Platz hatten. Vielleicht traute ich mir auch die Verwirklichung meines Traumes noch immer nicht richtig zu, weshalb mein Plan B allmählich in den Vordergrund gerückt war. Ganz aufgegeben hatte ich meinen Traum aber nie. Jetzt, als ich begriff, dass ich Haider demnächst gegenüberstehen würde, kam etwas in mir in Bewegung. Ich musste an meine Zeit als Zivildiener im Altenpflegeheim denken, und an eine wesentliche Erkenntnis, die ich von dort mitgenommen hatte: dass das Leben ziemlich kurz ist, weshalb alles, das nicht mit der Verwirklichung meiner Träume zu tun hatte, Zeitverschwendung war.

Bis zu meinem Zivildienst, den ich in Neumarkt, ganz in der Nähe meines Heimatortes, absolvierte, hatte ich gedacht, alle Zeit der Welt zu haben. Als junger Mensch schien mir das Leben unendlich lang zu sein. Doch im Pflegeheim war ich mit Leid, Krankheit, Sterben und Tod konfrontiert gewesen. Das hatte etwas Schreckliches gehabt, zugleich hatte ich den Tod mit anderen Augen zu sehen gelernt, als Freund, der es in Wahrheit gut mit uns meint, und vor dem wir uns nicht zu fürchten brauchten.

Ich hatte davor noch nie jemanden leiden oder sterben gesehen, doch dieses Heim war eine der Endstationen des Lebens gewesen. Die Menschen dort hatten diesen Ort zu Fuß betreten und würden ihn im Sarg wieder verlassen. Es war ihnen bewusst und daher ließen die meisten das Ende auch nicht einfach auf sich zukommen, sondern bereiteten sich auf ihre letzte Reise vor. Ohne Furcht. Sie erzählten mir davon.

Ich hatte dort unter anderem gelernt, dass Menschen es spüren, wenn für sie die Zeit zu gehen gekommen ist. Nicht alle, aber all jene, die im Trubel des Lebens nicht verlernt hatten, die eigene innere Stimme zu hören. Ich hatte erlebt, wie Menschen, die eben noch recht rüstig gewesen waren, eine Woche, nachdem sie gemeint hatten, dass ihre Zeit gekommen sei, nicht mehr da waren. Für Putz- und Pflegedienste zuständig, hatte ich einmal eine 104 Jahre alte Frau, die sich jeden Tag ihre gewünschte, ganz spezielle Frisur machen und perfekt einkleiden ließ, gefragt, wie sie es geschafft hatte, so alt zu werden. »Ganz einfach«, hatte sie geantwortet. »Der liebe Gott hat auf mich vergessen.«

Ich hatte viele Gespräche mit den Senioren geführt, und einige dabei wiederkehrende Sätze waren bei mir hängengeblieben. Ach, ich möchte einmal noch so jung wie du sein. Du hast noch alles vor dir. Sei froh, gesund zu sein. Es ist so schön, jung zu sein. Das Leben vergeht so schnell. Genieß deine Jugend. Mach etwas aus dir. All das war mir unter die Haut gegangen, auch wenn ich vielleicht nur geahnt hatte, was diese alten Menschen offenbar mit Sicherheit gewusst hatten: Dass das Leben und die Gesundheit ein großes Geschenk waren, und alles nur einen Wimpernschlag lang dauerte.

Nach dem Gymnasium hatte ich einen Hang, in den Tag hineinzuleben, doch im Altenpflegeheim hatte ich mich an diese innere Gewissheit erinnert, die ich gespürt hatte, als mein Vater seinen Wunsch über die politische Zukunft eines seiner Söhne geäußert hatte. Der Kreis schließt sich, dachte ich jetzt, als mir klar wurde, dass meine erste richtige Begegnung mit Haider bevorstand. Wann würde ich je eine andere Gelegenheit bekommen, mit ihm persönlich zu reden? Wobei »persönlich« relativ war. Ich wusste, mir würden nur wenige Minuten bleiben.

Der Stand der Kleinen Zeitung am Klagenfurter Weihnachtsmarkt am Neuen Markt befand sich direkt vor dem Rathaus. Der Platz war fast menschenleer, als ich hinkam, und Weihnachtsstimmung hatte schon in den vergangenen Tagen nicht recht aufkommen wollen. Wegen des für die Jahreszeit untypisch warmen Wetters lag kein Schnee, dafür durchnässte ein unaufhörlicher Nieselregen jeden und alles. Die Rahmenbedingungen für mein Interview und meinen Versuch zu einer ernsthaften Kontaktaufnahme mit Haider hätten also besser sein können.

Ich lehnte mich an ein hölzernes, als Hauptpreis der Spendenaktion neben dem Stand aufgebautes Gartenhäuschen, und betrachtete den Lindwurm, der als Wahrzeichen der Stadt in der Mitte des Neuen Platzes stand. Da sah ich zwei einsame Gestalten auf mich zu wandern. Der eine trug einen schwarzen Mantel, hatte den Kragen hoch geschlagen und die Hände in den Taschen vergraben. Der andere ging hinter ihm und hielt einen schwarzen Schirm über ihn. Ich sah auf die Uhr. Haider und sein Sekretär waren fast pünktlich.

»Er kommt«, sagte ich nervös zum Photographen und zupfte an meinem Hemd. Möglichst professionell zu wirken war mir umso wichtiger, als mich Haider vielleicht wegen meiner Jugend als Interviewer nicht ernst nehmen würde. Ich hatte mir vorgenommen, etwas Besonderes zu ihm zu sagen, etwas, das zwangsläufig seine Aufmerksamkeit erregen musste, aber bisher war mir nichts Passendes eingefallen. Jetzt drängte schon die Zeit. Denn mit schnellen Schritten überquerten die beiden den Platz und näherten sich dem Stand. Einmal atmete ich noch durch, dann trat ich ihnen entgegen. »Kleine Zeitung. Grüß Gott«, sagte ich.

Haider streckte mir die Hand entgegen. Das Interview ging unverzüglich los. Meine Fragen waren einfach und er beantwortete sie routiniert. Was halten Sie von der Aktion der Kleinen Zeitung? Zum wievielten Mal sind Sie heuer hier? Was würden Sie mit dem Hauptgewinn machen? Und so weiter.

Von Anfang an redete Haiders Sekretär störend dazwischen und drängte zur Eile. Sie müssten gleich weiter, sagte er. Ich wurde nervös. Auf einmal waren wir schon bei den Fotos, die immer den Abschluss dieser kleinen Interviews bildeten.

Die spärlichen Gäste des Weihnachtsmarktes waren inzwischen auf Haider aufmerksam geworden, und ein paar von ihnen versammelten sich um ihn. Ich bewunderte ihn ein bisschen dafür, dass er es sich auch in dieser für ihn zweifellos schweren Zeit nicht nehmen ließ, ein paar Worte mit potenziellen Wählern zu wechseln. Ich beobachtete, dass der Sekretär die Kontaktdaten einiger der Menschen, mit denen Haider sprach, aufnahm.

Der Sekretär wurde immer ungehaltener, klopfte Haider von hinten im Minutentakt auf die Schulter und deutete auf seine Uhr. »Wir müssen weiter, Herr Landeshauptmann«, sagte er schließlich ultimativ. Ich wusste, mir blieben nun nur noch wenige Augenblicke und ich musste unverzüglich handeln. Tu was jetzt. Egal was, dachte ich. In einem kurzen Moment zwischen zwei seiner Gespräche mit Marktbesuchern packte ich Haider einfach an der Schulter und nahm in etwas zur Seite. »Ich wollte Ihnen nur sagen, Herr Landeshauptmann, dass Sie sich wegen des Artikels keine Sorgen machen müssen. Es wird alles passen. Ich bin ja einer von euch.«

Ich wusste, dass ich eben eine massive journalistische Grenzüberschreitung begangen hatte. Deswegen hatte ich ihn auch zur Seite genommen, damit niemand Dritter uns hören konnte. Ich setzte aber darauf, dass er diese Art der Grenzüberschreitung ausgerechnet von einem Schreiber der Kleinen Zeitung am wenigsten erwartet hätte, und eine bessere Idee hatte ich einfach nicht gehabt.

Haider sah mich überrascht an. »Woher kommst du?«, fragte er.

Es klappt, dachte ich. »Vielleicht kennen Sie meinen Vater«, sagte ich. »Er ist Gemeinderat und Ortsparteiobmann in der Steiermark. Ich bin aus Laßnitz bei Murau.«

»Wie heißt dein Vater?«

»Petzner.«

»Ah, der Hubert«, sagte er. »Ja, den kenn ich.«

Ich war fassungslos. Ich hatte schon von Haiders phänomenalem Personengedächtnis gehört, es aber noch nie erlebt.

Haiders Sekretär drängte jetzt endgültig auf sofortigen Aufbruch. Vielleicht ahnte der Typ, dass ich in seinem Job gut wäre und ihn auch übernehmen würde, dachte ich.

»Hast du eine Telefonnummer?«, sagte Haider. »Vielleicht sieht man sich wieder einmal.«

Ich wertete es als gutes Zeichen, dass Haider die Aufnahme meiner Daten nicht seinem Sekretär überließ. Er notierte meine Nummer mit einer Füllfeder auf einen kleinen Zettel, steckte den Zettel in seine Manteltasche, verabschiedete sich mit einem Händedruck und ging mit seinem Sekretär davon.

Ich blieb zufrieden stehen und sah den beiden nach, wie sie im Nieselregen verschwanden. Mehr hatte ich nicht erreichen können, dachte ich. Alles Weitere lag nicht mehr in meinen Händen.

Nach meiner anfänglichen Euphorie wurde mir aber schnell klar, dass die Wahrscheinlichkeit, von Haider zu hören, denkbar gering war. Ich glaubte aber noch immer an das Schicksal. Wenn es mein Schicksal wollte, dass ich eine politische Tätigkeit im Umfeld Haiders ausführte, würde es diese Gelegenheit benutzen, dachte ich.

Inzwischen ging ich wieder in meinem Alltag auf. Ich war an der Uni, in der Kleinen Zeitung oder fuhr in meinem rostigen Toyota Corolla zu Freunden. Als ich wenige Tage nach meiner Begegnung mit Haider gerade die Villacher Straße in Klagenfurt entlangfuhr, kam ein Anruf mit unterdrückter Nummer. »Servus, da ist der Jörg«, sagte Haider. »Wie geht’s? Was machst du?« Der Landeshauptmann wirkte völlig entspannt und begrüßte mich locker.

Das überrumpelte mich, zumal ich im Grunde nicht ernsthaft damit gerechnet hatte, dass er wirklich anrufen würde. Schon gar nicht er persönlich. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen und auf seinen Ton einzusteigen. »Mir geht’s gut. Ich fahre gerade zur Uni, weil ich eine Vorlesung habe. Wie geht’s dir?« Ich wählte bewusst das Du, während ich ihn bei unserer Begegnung am Neuen Platz noch mit »Herr Landeshauptmann« angesprochen hatte.

Haider antwortete auf meine Gegenfrage mit nur einem Wort. »Gut«, sagte er, um gleich darauf wieder selbst die Fragen zu stellen. Was ich studiere, wie mir die Universität in Klagenfurt gefalle, welchen Job ich genau bei der Kleinen Zeitung hätte. Das Gespräch bestand nur aus seinen Fragen und meinen Antworten. Nach fünf Minuten war es auch schon wieder vorbei. »Ich muss weiter«, sagte Haider. »Vielleicht hören wir uns wieder einmal.«

Das klang für mich nicht unbedingt gut, es war aber besser als nichts.

Ich ging das Telefonat gedanklich immer wieder durch. Wort für Wort. Ich fragte mich, welchen Eindruck ich wohl bei ihm hinterlassen hatte und was ich beim nächsten Mal anders oder besser machen könnte. Sofern es überhaupt ein nächstes Mal gab.

Haider meldete sich tatsächlich kurz darauf wieder. Wieder beschränkte er sich darauf, Fragen zu stellen und mir zuzuhören. Wegen seiner Einsilbigkeit versuchte ich umso lebhafter und spannender zu erzählen, obwohl mein Leben und mein Alltag nicht viel hergaben. Vor allem bemühte ich mich, keine Gesprächspausen entstehen zu lassen. Mein einziges Ziel war, den Kontakt aufrecht zu erhalten, und dabei war ich von meiner Wirkung auf ihn abhängig. Denn Haider rief auch weiterhin mit unterdrückter Nummer an. Ich konnte ihn nicht erreichen. Er behielt die Kontrolle und bestimmte die Regeln.

In den Tagen zwischen den Anrufen behielt ich mein Handy immer im Auge, selbst an der Uni, aus Angst, seinen nächsten Anruf zu verpassen, und bei jedem nächsten fürchtete ich, es könnte der letzte gewesen sein. Meinem Selbstvertrauen tat dieser Kontakt trotzdem gut. Manchmal saß ich im Hörsaal und dachte: Wenn ihr wüsstet. Als kleiner Student mit einem unbedeutenden Nebenjob habe ich es geschafft, einen Draht zum bekanntesten Politiker des Landes zu finden. Zu Jörg Haider.

Politische Themen klammerte ich bei unseren Telefonaten bewusst aus. Nach Jahrzehnten als Geächteter hatte es Haider endlich geschafft gehabt, und nun stand er vor den Trümmern seiner politischen Existenz. Was sollte ein Student wie ich mit ihm über Politik sprechen? Was könnte ich dazu beitragen, das ihn in seiner schwierigen politischen Lage helfen könnte? Wozu in seinen Wunden wühlen? Das machten ohnehin alle anderen.

Wenn ich den Politiker Jörg Haider wirklich erreichen wollte, musste ich zuerst den Menschen Jörg Haider für mich gewinnen. Deshalb sprach ich diesen privaten Menschen auch an, und mit dem wenigen, das er von sich preisgab, versuchte ich meine offenen Fragen über ihn zu beantworten. Wie tickte der Mensch Haider wirklich?

Er war verschlossen und misstrauisch, so viel stand fest. Das musste mit seiner aktuellen Situation zu tun haben. Er hatte zweifellos genügend Menschen erlebt, die nur den Kontakt zu ihm gesucht hatten, weil sie auf einen Posten, auf Macht und den einfachen, schnellen Erfolg aus gewesen waren. Menschen, denen er vielleicht gegeben hatte, was sie von ihm wollten, vielleicht auch nicht, und von denen ihn zweifellos viele verraten und ihm Stich gelassen hatten. Ich vermutete, dass er sich alleine fühlte und in Wahrheit nur eines suchte: Einen wahren, einen echten Freund. Denn echte Freundschaft, das gab es in der Politik nicht.

Umso mehr bemühte ich mich, ihm genau das zu geben. Freundschaft ohne Erwartungen. Ohne Forderungen. Ohne Gegenleistung. Ein Gegenüber, mit dem er einfach nur reden konnte, und sei es über banale Dinge. Ein Gegenüber mit dem er unbeschwert lachen konnte, und sei es über kindische Kleinigkeiten. Jemanden aus einer Art von Leben, die ihm selbst seit langem verwehrt war. Mein langfristiges Ziel blieb der Sprung in die Politik, aber ich ahnte, dass es dafür vor allem eines brauchte: sein uneingeschränktes Vertrauen.

Wochen und Monate vergingen. Erst nach mehr als einem halben Jahr hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass Haider tatsächlich langsam so etwas wie Vertrauen zu mir entwickelte. »Ich habe heute ein bisschen Stress«, sagte er an diesem Tag zu mir. »Sehr viele Termine. Ich fahre gerade von Villach zurück in die Landesregierung. Dort habe ich eine Sitzung und muss dann noch weiter zu einer Veranstaltung. Ich bin dafür zwar eigentlich schon viel zu müde, aber ich muss dort hin. Ich habe es versprochen.«

In einem anderen Umfeld wäre vielleicht auch das noch als Smalltalk durchgegangen, aber ich spürte, dass sich Haider öffnete, und dass er es bewusst tat. Der starke Landeshauptmann und Landesvater, bei dem sich die Menschen anlehnen konnten, der sich um ihre Probleme kümmerte und sich an jeden erinnerte, redete über Müdigkeit. Für einen Menschen wie Haider, der wahrscheinlich glaubte, nie Schwäche zeigen zu dürfen, weil er gewissen Erwartungshaltungen zu entsprechen hatte, musste das ein gewagter Schritt sein.

»Heute am Nachmittag habe ich die Firma Jacques Lemans besichtigt«, sagte er ein anderes Mal zu mir. »Sagt dir das etwas?«

Ich kannte das Unternehmen, das mit einem Werk in St. Veit Uhren herstellte.

»Es hat mir gefallen«, sagte Haider. »Ich sammle Uhren, vielleicht weißt du das ja.«

Ich wusste es tatsächlich aus den vielen Haider-Porträts, die ich gelesen hatte. Er sammelte Uhren und hatte eine Leidenschaft für Füllfedern. »Treffen wir uns wieder einmal?«, fragte er.

Wir vereinbarten, dass sich seine Sekretärin bei mir melden würde. Es ging also um einen offiziellen Termin, voraussichtlich bei ihm im Büro. Ich war gespannt.

Haiders Sekretärin meldete sich, als ich gerade in einer Psychologie-Vorlesung saß. Es ging im Fach »Spezielle Neurosenlehre« um Narzissmus. Wegen der seltsamen Vorwahl ahnte ich schon, wer dran war, und eilte aus dem Hörsaal. »Christine Kogler, Büro Landeshauptmann Haider.« Die Frau klang sehr freundlich. »Sie wissen vielleicht Bescheid«, sagte sie. »Ich soll mit Ihnen einen Termin ausmachen. Wann hätten Sie denn Zeit?«

»Immer«, sagte ich. »Ich bin Student. Ich kann mir das einteilen und richte mich ganz nach dem Herrn Landeshauptmann.«

»Mittwoch, 14 Uhr?«, fragte Frau Kogler.

Mein Kleidungsstil war der eines Studenten, und so fand sich in meinem Schrank kein Anzug. Da ich auch diesmal möglichst seriös wirken wollte, zog ich zu Jeans einen grauen Pullover und darüber mein einziges Sakko an. So betrat ich das von außen klobige und schmucklose Gebäude der Kärntner Landesregierung. Durch ein schweres Tor trat ich ein und orientierte mich an einer Tafel. Regierungsmitglieder – 1. Stock.

Ich ging die Steintreppe hinauf. Der Landeshauptmanntrakt lag oben links. Eine in weißem Metall gerahmte Glastür trennte diesen Bereich vom Stiegenhaus. Ich bemerkte, dass rechts neben der Glastür ein Kamera-Auge montiert war. Darüber hing ein goldenes Schild mit schwarzer Gravur. »Landeshauptmann Dr. Jörg Haider« stand darauf.

Obwohl ich wegen der Kamera nicht sicher war, ob sich die Türe von außen öffnen ließ, versuchte ich es. Ich hörte das Türschloss knacken. Sie ließ sich öffnen. Zögernd trat ich in den Empfangsbereich. Kleine, runde Tischchen mit Tischplatten aus weißem Stein und kleinen schwarz lackierten Holzstühle standen dort. Rechts vom Empfangsbereich befand sich eine weitere Tür aus Milchglas. »Büro Landeshauptmann Dr. Jörg Haider« stand auf dem Türschild. Hinter dieser Türe musste er also sein.

Ich wagte nicht zu klopfen, sondern entschied mich, im Empfangsbereich zu warten. Schließlich war ich vorsichtshalber 15 Minuten zu früh gekommen. Ich war der einzige Wartende.

Frau Kogler hatte am Telefon noch gemeint, dass sie sich melden würde, sollte dem Landeshauptmann etwas dazwischen kommen, weshalb ich auch nach einer halben Stunde ruhig blieb. Ich nützte die Zeit, um mich etwas umzusehen. Der prunkvolle Spiegelsaal, der offizielle Festsaal der Landesregierung, passte nicht zur kargen Fassade des Gebäudes, fand ich.

Gerade als ich den Spiegelsaal verließ und wieder im Gang des Empfangsbereiches stand, öffnete sich die Glastür, und federnden Schrittes kam Haider auf mich zu. »Entschuldige, dass du warten musstest«, sagte er. »Komm mit.«

Wider Erwarten befand sich hinter der Milchglastür nicht das Büro des Landeshauptmannes, sondern ein Vorraum in dem hinter einem Tresen zwei Sekretärinnen saßen. Haider lotste mich weiter in sein Büro, das sich links dieses Vorraumes hinter einer schweren, bräunlichen Polstertür befand. Es war nicht sehr groß und bis auf die Fahnen Kärntens und Österreichs nicht beeindruckend. Es wirkte vielmehr schrecklich altmodisch. Ein Teil des Raumes war mit Holz vertäfelt, wie es in den Siebzigerjahren Mode gewesen war. Vor einer kleinen Bücherwand stand ein Glastisch, der Haider offenbar als Schreibtisch diente.

Er bot mir einen Platz in einem der Ledersessel an, die rund um einen Besprechungstisch standen. Wir plauderten. Es ging um nichts Politisches, wie ich es wegen des diesmal offiziellen Termins insgeheim erhofft hatte, sondern es war wieder zwangloser Small Talk. Als einmal Stille aufzukommen drohte, erkundigte ich mich nach den Gemälden an den Wänden. Haider erklärte mir daraufhin jedes einzelne genau. Er erzählte über das Bild und über den Künstler, der es gemalt hatte. Es waren lauter Werke von Kärntner Künstlern, etwa von Werner Berg mit einem Motiv des Großglockners. Nur ein Bild fiel aus der Reihe. Es war ein abstraktes Gemälde, in rot-orangen Tönen. Ich stand auf, ging hin und strich mit meinen Fingern vorsichtig über die raue Oberfläche des Bildes. »Was ist das für ein Material?«, fragte ich.

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