Himmelfahrtskommando

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Himmelfahrtskommando
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Stefan Millius

Himmelfahrtskommando

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Teil 1 – Der Aufstieg von Gottlingen

Kapitel 1: Wie man aus einer schwarzen Null eine rote macht

Kapitel 2: Wie man seiner Tochter einen Russen vom Leib hält

Kapitel 3: Wie man sich eine Absolution holt

Kapitel 4: Wie man Feste würdig begeht

Kapitel 5: Wie man das Schicksal zur Post bringt

Kapitel 6: Wie die Bürokratie die Improvisation erlernt

Kapitel 7: Warum man in einem Zelt besser schläft

Kapitel 8: Wie man eine Gemeindebehörde aus der Fassung bringt

Kapitel 9: Wie ein Pöstler unverhofft zum Agenten wird

Kapitel 10: Wie es im völlig unbewohnten Schlohwinkel drunter und drüber geht

Kapitel 11: Wie der Gemeinderat eine Söldnerin akquiriert

Kapitel 12: Wie man eine zu enge Uniform mit Würde ausfüllt

Kapitel 13: Wie der Krieg die Romantik verhindert

Kapitel 14: Wie der Gemeinderat sein blaues Schlohwinkel-Wunder erlebt

Kapitel 15: Wie ein Hauch Exotik nach Bächigen kommt

Kapitel 16: Wie sich der Gemeinderat durch das Schlohwinkel-Universum kämpft

Teil 2 – Der Niedergang von Gottlingen

Dank

Impressum neobooks

Prolog

Eine der Gestalten löst sich aus der Gruppe und geht mit schweren Schritten durch den Gewölbekeller in die Mitte des Raums. Auf dem schmucklosen, schweren Steintisch steht eine kleine Vase. Dort angekommen, streift sich die Gestalt die Kapuze vom Kopf. Der massige, haarlose Schädel glänzt im Kerzenlicht. Der Mann hebt die Hände und blickt zur Decke hoch. Von dort starrt ein Gesicht zurück. Es ist das Antlitz eines Raben, kunstvoll eingearbeitet in die Skulptur einer Sonne, die über dem Steintisch hängt. Der Mann hält dem Blick des Raben kurz stand, bevor er sich langsam auf die Knie fallen lässt, ohne die Arme zu senken. Hinter ihm knien nun auch die anderen Gestalten nieder, schlagen ihre Kapuzen zurück, breiten die Arme aus und lassen sich langsam nach vorne sinken, bis sie auf allen Vieren kauern, das Gesicht zum Boden. Nur der Mann beim Tisch blickt weiterhin nach oben und durchbricht erstmals die Stille.

«Aurinko.»

Er wiederholt das Wort, leise, intensiv.

«Aurinko.»

Nun setzt er zu einer Kaskade an, wird immer lauter, die Stimme schneidend.

«Aurinko. – Aurinko. Aurinko. – Aurinko!»

Erst als das Echo völlig verhallt ist, setzen seine Gefährten ein. Im Gleichschritt skandieren sie es immer und immer wieder.

«Pelastaja.»

Der Mann am Tisch erhebt sich, greift die Vase, streckt sie der Sonne mit dem Raben entgegen und beginnt wieder mit seinem Mantra.

«Aurinko. Aurinko. Aurinko.»

Die Frauen und Männer, die am Boden kauern, beginnen, in ihrer demütigen Haltung Richtung Tisch zu kriechen. Der Rabe in der Sonne starrt reglos auf sie nieder, als sie sich hinter ihrem Führer zusammenscharen.

«Aurinko - Pelastaja» – immer und immer wieder und immer lauter.

Als die Worte schon fast wie ein Donnerschlag durch den Gewölbekeller hämmern, hebt der Mann am Tisch die kleine Vase so nahe zur Sonnenskulptur hoch wie nur möglich, hält kurz inne und schleudert das Gefäss schliesslich auf den Steintisch. Ein roter, dickflüssiger Sprühregen ergiesst sich über ihn und seine Gefährten, die sich in diesem Moment ganz zu Boden fallen lassen, während ihr Anführer kraftlos über dem Steintisch zusammen sinkt.

* * *

Der Pfarrer lässt den Blick über das Kirchenschiff wandern. Natürlich, er hat schon mehr Leute zum wöchentlichen Rosenkranzgebet empfangen. Es sind aber andererseits auch schon weniger gewesen. Der Altersschnitt, zugegeben, zeigt steil nach oben. Die vier oder fünf Frauen, die sich im hinteren Teil murmelnd in die Bänke drücken, gehen unverkennbar gegen die 80 oder haben sie schon überschritten. Dasselbe gilt für die drei Männer, die ihre Lippen bewegen, aber knapp das Vater Unser auswendig kennen, geschweige denn die Litanei des Rosenkranzes. So traurig es ist, aber Gemeinderätin Liliane Aemisegger ist mit ihren 55 Jahren deutlich die Jüngste an diesem Abend.

Der Pfarrer merkt, dass er einen Moment zu lang in Gedanken versunken war und er schon wieder an der Reihe ist.«… und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes Jesus», improvisiert er und atmet erleichtert auf, als die Gemeinde – ein grosszügiges Wort für das halbe Dutzend in der riesigen Kirche - ohne zu zögern weiterfährt:

«… der für uns am Kreuz gestorben ist.»

Seit zwölf Jahren ist er in der Gemeinde, der Pfarrer Nyffenegger, und seit der ersten Woche hält er dieses Rosenkranzgebet regelmässig ab. Deshalb fällt es ihm leicht – nun, da er den Faden wieder gefunden hat – die Litanei fortzusetzen und gleichzeitig seine Gedanken abschweifen zu lassen. Es zieht ihn fort, den Pfarrer, nach zwölf Jahren in diesem Kaff, in dem er seine Gottesdienste vor einer schwindenden Menge abhält und es sonst nicht gerade viel an Seelsorge zu tun gibt. Verschlossen sind sie, die Menschen in Gottlingen, verschlossen bis hin zur Verstocktheit, ersticken würden sie lieber an dem, was sie plagt, als dass sie sich einem Fremden offenbaren würden, und ein Fremder ist er geblieben, der Nyffenegger. Denn er ist nicht hier aufgewachsen, sondern spät dazu gestossen, und mag er noch so viele Jahre hier verbringen – was der Herr hoffentlich zu verhüten weiss –, so bleibt er doch ein fremder Fötzel, dem keiner sagt, was ihn beschäftigt, denn, so denken die Leute im Dorf, wer weiss, wohin dieser Fremde, der seit bescheidenen zwölf Jahren hier gastiert, die Gedanken danach tragen mag.

Der Pfarrer legt die Hände auf den Altar und setzt die Litanei fort.

* * *

Sie treten nach draussen, blinzelnd, zögerlich, fast ängstlich, als wäre alles ausserhalb des Gewölbekellers unter dem aufmerksamen Blick des Raben Feindesland. Draussen wartet ein weisser Kleinbus, der schon bessere Tage gesehen hat, ein Gefährt für die wenigen Gelegenheiten, an denen die Gemeinschaft ihr Haus verlässt. Zwei oder drei Anlässe sind es pro Jahr, die das nötig machen. Nach der Opfergabe an den Sonnenraben, deren Spuren alle noch auf ihren weissen Gewändern tragen, müssen sie nun nach altem Brauch zum Ende des Regenbogens fahren – wo auch immer ein solcher gerade zu finden ist. Nicht selten ist die Gemeinschaft dafür einige Tage unterwegs, um dann jeweils unter lautem Wehklagen festzustellen, dass der Regenbogen kein Ende hat, kein sichtbares jedenfalls.

Der hinterste in der Reihe schert aus und zieht an seinen Gefährten vorbei, geht zum Bus, öffnet die Schiebetür unter lautem Knarren und wartet geduldig, bis sich seine Brüder und Schwestern gesetzt haben. Er rutscht hinters Steuer und fährt nach einem letzten Kontrollblick in den Rückspiegel los. Die versammelte Gemeinschaft ist an Bord.

Sie ist an Bord, als der Mann losfährt, sie ist an Bord, als es gemächlich aus der Ausfahrt vor dem Haus auf die Zufahrttrasse geht, sie ist an Bord, als der Kleinbus an Fahrt gewinnt, sie ist an Bord, als er auf die erste Kurve zugeht – und sie ist an Bord, als sich in dem alten Gefährt alle Instrumente seinem Fahrer verweigern und der Bus aus der Kurve eine schnurgerade Linie macht, direkt auf die Wiese zu, über diese hinweg, durch einen Zaun, über ein weiteres Wiesenstück, unaufhaltsam dem Abhang entgegen.

Und darüber hinaus.

* * *

Unterhalb der Klippe stehen die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr und durchsuchen die Überreste des Wracks. Noch immer steigt Rauch auf. Das halbe Dorf ist zusammengekommen, um das Spektakel zu verfolgen.

Das Spektakel, mit dem alles begann.

Teil 1 – Der Aufstieg von Gottlingen

Kapitel 1: Wie man aus einer schwarzen Null eine rote macht

Gottlingen hat alles, was eine anständige Gemeinde braucht: Eine Schule, eine Kirche, einen Dorfplatz, eine Beiz, einen Dorfladen, ein Altersheim, einen Sportplatz. Es mangelt den Menschen hier an nichts, vorausgesetzt, sie sind mit dem Minimum zufrieden. Denn natürlich: Die Schule ist veraltet, der Sportplatz bietet nicht allen Vereinen Raum, die ihn gerne benützen würden, im Altersheim muss etappen- und etagenweise geduscht werden. Grosse Sprünge machen kann die Gemeinde nicht, man kommt gerade mal so durch. Der Gemeinderat trifft sich zwar regelmässig zur Sitzung, ist aber in seiner Kreativität ziemlich beschnitten, denn für grosse Visionen fehlt das Geld. Jeder Franken fliesst in das, was ohnehin gerade unumgänglich ist, und so segnet der Rat eben das ab, was zu tun ist.

 

So auch an diesem Abend. Die Schulkommission hätte gerne einen neuen Belag auf dem verwitterten Tartanplatz, aber die Kostenschätzung, die sie dem Gemeinderat vorlegt, ruft dort nur einen verzweifelten Heiterkeitsanfall und ein deutliches Nein hervor. Dasselbe gilt für die Anfrage des Altersheimverwalters, der eine Sanierung der sanitären Anlagen fordert. Solange die alten Leute fliessend Wasser über dem Gefrierpunkt haben, erklärt Gemeindepräsident Guido Frei seinen Kollegen, muss das reichen, denn für alles andere ist kein Geld in der Kasse. Zumal es Nachbargemeinden gebe, die noch schlimmer dran sind, weil sie regelmässig Bittgänge zum Kanton unternehmen müssen. So gesehen ist Gottlingen schon beinahe ein Musterknabe. Eine Null kann schwarz oder rot sein, und hier ist sie schwarz, Gottlingen kommt aus eigenen Kräften durch, zwar nur gerade mit dem Nötigsten, aber es reicht knapp, solange nichts Unvorhergesehenes passiert. Und die Region ist arm an Unvorhergesehenem.

In aller Regel.

Guido Frei diktiert dem Gemeindeschreiber Erwin Bitterli gerade eine höflich formulierte Absage an den Altersheimverwalter ins Protokoll, während die Gemeinderatskollegen Toni Muff, Liliane Aemisegger, Martin Knorr und Alfredo Pedrutto dem Ende der Sitzung entgegen fiebern, als das Telefon von Erwin Bitterli klingelt. Dem würde es im Grunde nie einfallen, während einer Gemeinderatssitzung einen Anruf entgegen zu nehmen, aber wer auch immer am anderen Ende der Leitung ist – er scheint nicht aufgeben zu wollen. Guido Frei verdreht mitten im Satz die Augen und fordert seinen Gemeindeschreiber auf, den Anruf eben in Gottes Namen anzunehmen, damit man danach wieder mit den ordentlichen Geschäften fortfahren könne. Bitterli zuckt entschuldigend mit den Schultern und klemmt sich das Handy ans Ohr, während er ungerührt das Protokoll weiter führt.

«Bitterli. – Wer? – Wann ist das passiert? – Aber wie… - Alle? Alle zusammen?»

Jetzt hat der Bitterli – beziehungsweise sein unbekanntes Gegenüber – die ungeteilte Aufmerksamkeit des Gemeinderates. Der Gemeindeschreiber ist nicht gerade als nervöse Person bekannt, aber nun ist sein Gesicht weisser als das der Bettlaken im Hotel Rössli in guten Zeiten. Und daran ändert sich auch nichts, als er den Anruf beendet hat und seine Kollegen zunächst einmal anschweigt.

«Erwin. Wer war das? Was stimmt nicht? Ist etwas mit deiner Familie?» Liliane Aemisegger klingt ehrlich mitfühlend – und gleichzeitig um sich selbst besorgt. Sollte etwas sein mit der Familie vom Bitterli, wäre das sicherlich traurig, aber dann betrifft es wenigstens nicht sie.

Der Gemeindeschreiber starrt an die gegenüberliegende Wand, wo es rein gar nichts anzustarren gibt, bis er endlich die Fassung wieder gewinnt.

«Die Sekte. Oben im Schlohwinkel. Mit dem Bus. Ein Unfall. Weiss nicht genau, wie.»

Nun starrt der Gesamt-Gemeinderat den Bitterli an wie einen Geist, was gut zu seiner Gesichtsfarbe passt. Allen ist klar, dass da noch etwas nachkommen muss, alle wissen, dass das noch nicht alles ist, aber keiner wagt es, nachzufragen. Alle warten sie, als liesse sich das Unvermeidliche gewissermassen zu Tode schweigen.

«Es hat keiner überlebt. Die sind alle mausetot. Die ganze Belegschaft. Der Schlohwinkel ist leer. Kein Mensch mehr dort.»

Der Gemeindepräsident schaut auf seine Akten, wo aus der schwarzen Null mit einem Mal eine rote geworden ist – oder schlimmer. Viel schlimmer.

Kapitel 2: Wie man seiner Tochter einen Russen vom Leib hält

Manchmal starrt der Elias Grunder seine Tochter einfach an und fragt sich, wie er so etwas eigentlich zuwege bringen konnte. Natürlich, seine Frau war attraktiv gewesen, keine Frage, und selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, hätte der Elias Grunder das weder gesagt noch halblaut gedacht, denn von den Toten nur Gutes, das hat er schon als Kind gelernt, aber die Schönheit seiner Tochter kann auch das nicht erklären. Manchmal findet der Grunder, das Mädchen sei schon fast von überirdischer Schönheit, aber mit einem solchen Gedanken versündigt man sich ja gewissermassen, und er lässt ihn schnell fallen. Und ausserdem ist sie kein Mädchen mehr, die Franziska, nein, eine junge Frau ist sie inzwischen, was ihre Schönheit nur noch offensichtlicher und in einem gewissen Sinn offiziell macht. Das erlaubt es jedem, sich an dieser Schönheit zu laben, sie anzuschauen, anzustarren trifft es wohl eher. Selbst im Dorf, wo man seine Tochter ja nun wirklich lange genug kennt, fällt so manchem Mann noch die Kinnlade herunter, wenn sie die Einkäufe erledigt. Er hat gelernt, damit zu leben, der Elias Grunder, auch wenn es ihm zuwider ist, es lässt sich ja doch nicht ändern. Aber wenn Franziska hier, in seinem Haus, an seinem Tisch, angestarrt wird, dann ist das etwas ganz anderes, dann ist das ungebührlich und unanständig und er muss ein Machtwort sprechen, er muss diesem Russen nun endlich einmal –

Aber der Russe starrt eben gar nicht. Das ist es ja gerade. Da kann der besorgte Vater noch so geschickt sein, er kann noch so verstohlen auf den Teller schauen und dann urplötzlich den Kopf hochreissen und den Russen fixieren, nicht ein einziges Mal erwischt er diesen dabei, dass er Franziska anstarren würde. Im Gegenteil, schon fast demonstrativ hält dieser Ivan seinen Kopf Richtung Teller gebeugt. Wenn der Bauer Grunder ganz ehrlich ist mit sich selbst, dann ist er schon fast so weit, dass er diesen Russen an den Schultern packen und ihn schütteln und fragen will, was zur Hölle nicht in Ordnung ist mit ihm, er ist doch ein junger Mann, was fällt ihm ein, die wunderschöne Tochter des Hauses mit keinem Blick zu würdigen?

Aber das zu tun, und der Grunder weiss es, wäre sehr seltsam. Der Ivan, dieser Russe, der ihm beim Heuen hilft und bei allen anderen Arbeiten und der eigentlich gar kein Russe ist, sondern von irgendwo sonst aus dieser Ecke stammt, was dem Bauern egal ist, solange er arbeitet, dieser Fast-Russe also ist von so ausgesuchter Höflichkeit und Zurückhaltung, dass es kaum zu fassen ist. Aber wie soll man einem temporären Arbeitsgast solche vorbildlichen Charakterzüge vorwerfen, nur weil sie einem unheimlich vorkommen? Und vor allem: Wie soll er sie ihm vorhalten? Der Ivan spricht kaum ein Wort Deutsch, jedenfalls muss der Bauer das annehmen, denn er sagt so gut wie nie ein Wort. Andererseits versteht er jede Anweisung auf dem Feld, aber das mag daran liegen, dass er zuhause schon auf einem Bauernhof gearbeitet hat, und Heuen ist Heuen, ob nun hier im Appenzellerland oder in Russland oder irgendwo neben diesem Russland.

«Schmeckt es dir, Ivan?»

Der Bauer versucht sein Glück, Ivan schaut kurz auf, schüchtern, fast ängstlich, der Bauer deutet auf seinen Teller und versucht, aufmunternd zu schauen, ein Lächeln bringt er nicht zuwege. Aber das liegt nicht am Ivan, der hat ihm nichts zuleide getan. Im Gegenteil, nur ist es eben so, dass sich der Bauer das Lächeln schon lange abgewöhnt hat, aber Ivan versteht auch so, was gemeint ist, er lächelt und hält einen Daumen hoch, eine Art Kompliment wohl für die Köchin des Hauses, und die lächelt nun ebenfalls. Im Gegensatz zu Ivan starrt sie nicht in die Tiefe des Tellers, sondern schaut Ivan offen an, und der fängt den Blick kurz auf, bevor er sich ohne erkennbare Reaktion wieder hinter die Suppe macht.

Zwei junge Leute unter einem Dach, denkt sich der Bauer, das Natürlichste der Welt wäre es, aber er wüsste es zu verhindern, auf jeden Fall und zum Besten seiner Tochter, denn der Ivan, der wird nach der Saison wieder sein Bündel schnüren und zurück nach Russland oder diese andere Ecke gleich daneben ziehen. Wenn er seiner Tochter eines nicht wünscht, der Bauer, der sonst wenig auf Gefühle gibt, dann ist es ein gebrochenes Herz.

Der Gedanke löscht ihm den Appetit aus wie der Zugwind eine Kerze. Der Bauer lässt den Löffel sinken, schiebt den Stuhl laut knarrend zurück und steht auf, während ihm der Blick der Tochter folgt, nur Ivan löffelt ruhig weiter, ohne den Kopf zu heben. Recht so. Wer arbeitet, soll auch essen. Der Bauer geht zum Fenster, er schaut auf sein Land hinaus, viel ist es nicht. Er kann seinen ganzen Grund mit einem leichten Drehen des Kopfes überblicken, er sieht bis hin zum Strässchen, das sich hoch windet Richtung Schlohwinkel, wo Gemeindeland liegt, darunter ein recht grosses Stück Wiese, das man ruhig auch ihm hätte verpachten können zum Bewirtschaften. Aber nein, die Gemeinde gibt das Land lieber diesen komischen Brüdern, die das Schlohwinkel-Anwesen gepachtet haben, ein bisschen Umschwung sozusagen für die Sekte, und jetzt, wo von denen keiner mehr hier ist, seit eine Busladung voll mit ihnen zum Schöpfer abkommandiert wurde, zum richtigen Schöpfer und nicht zu einem Sektengötzen, sähe es vielleicht anders aus mit dem Land. Der Elias Grunder könnte sicher mal nachfragen bei der Gemeinde, der Boden um das Haus verwittert schon, aber er hat wenig Lust, mit denen von der Verwaltung zu diskutieren, ausserdem kommt er ja durch, wozu also mit diesem Beamtenpack verhandeln. Er hat alles, was er braucht.

Und ein bisschen mehr obendrauf. Der Bauer lächelt still in sich hinein, wie immer, wenn sich Prinz Leopold in seine Gedanken schleicht. Ein Prachtskerl ist das, treu, seit er ihn auf dem Markt gekauft hat, erledigt seine Arbeit ohne zu murren und macht so manchen anderen Züchter neidisch. Die Suppe dürfte inzwischen ohnehin kalt sein, da spricht nichts dagegen, dass er kurz beim Prinzen im Stall nach dem Rechten sieht. Er hat das Gefühl, dass dieser seine Besuche zu schätzen weiss, dass er aufblüht, wenn er nach ihm sieht. Das mag jeder andere Bauer als Spinnerei abtun, aber so viel ist sicher, Prinz Leopold ist kein gewöhnlicher Hahn.

Wie er sich vom Fenster abwendet, um Richtung Stall zu gehen, sieht der Bauer, dass der Ivan nicht mehr länger in die Suppe starrt, sein Kopf ist nicht mehr gesenkt, kerzengerade sitzt er da, dieser Russe oder was auch immer er ist und schaut der Franziska in die Augen, was genau genommen ja nur deshalb möglich ist, weil die Franziska zurück schaut, ebenfalls kerzengerade und mit einem verträumten Blick, den ihr Vater in den über 20 Jahren, in denen sie nun in seinem Haus lebt, so noch nie gesehen hat.

«Franziska. Der Abwasch. Ich schaue nach den Hühnern.» Der Bauer wartet, bis seine Tochter den Blick wieder senkt, sich dann erhebt und mit ihrem Teller Richtung Küche geht.

In ein paar Wochen, denkt Elias Grunder, ist der Spuk vorbei. Dann ist der Russe wieder in Russland oder wo auch immer das Land heisst, aus dem er kommt.

Kapitel 3: Wie man sich eine Absolution holt

Einen kurzen Moment lang – nur ganz kurz, wirklich, aber eben doch für einen Moment – muss der Pfarrer Nyffenegger darüber nachdenken, wo denn genau der Beichtstuhl in seiner Kirche ist. Wer beichtet denn heute noch? Die letzte Beichte, die er abgenommen hat, dürfte gut und gerne fünf oder sechs Jahre her sein. Deshalb stutzt er für den Bruchteil einer Sekunde, als der späte Gast in der Kirche auftaucht, kurz vor Torschluss.

Abschlagen kann der Nyffenegger die Bitte um eine Beichtgelegenheit schlecht. Zum einen wird ein Pfarrer ja nicht nach Stunden honoriert, sondern hat permanent Bereitschaft. Zum anderen fragt hier nicht irgendeiner nach einer Beichte, sondern der Gemeindepräsident persönlich. Und drittens ist der Pfarrer viel zu neugierig, um Nein zu sagen. Also geleitet er den Guido Frei zum Beichtstuhl, den er schliesslich doch noch findet.

Der Gemeindepräsident wirkt nervös. Aber das ist nicht weiter erstaunlich, denn wenn einer kurz vor dem kirchlichen Feierabend beichten kommt, muss ihm etwas auf der Seele liegen. Der Pfarrer deutet auf die linke Seite des Stuhls, wartet, bis das Gemeindeoberhaupt hinter dem Vorhang verschwunden ist, huscht dann noch einmal kurz in die Sakristei, um sich ein wenig Messwein und einige Hostien als Zwischenmahlzeit zu holen und klettert mit dem Proviant in der Hand in seinen Teil des Stuhls.

 

Auch wenn er seinen Beruf nun doch einige Jahre ausübt, heute Abend wird der Pfarrer auf dem linken Fuss erwischt. Wie sieht die Prozedur bei der Beichte aus? Wo dieses Wissen sein sollte, wartet nur ein schwarzes Loch auf den Nyffenegger, aber er hat das Gefühl, dass der Gemeindepräsident heute ebenfalls nicht viel Wert legt auf Formalitäten. Also verliert der Geistliche keine unnötige Zeit.

«Was liegt euch auf dem Herzen, Herr Gemeindepräsident?»

Nur schemenhaft kann der Nyffenegger durch das Holzgitter hindurch sein Gegenüber erkennen. Der Frei hat den Blick gesenkt, gelegentlich hebt er den Kopf kurz, um durch den schmalen Schlitz im Vorhang ins Kirchenschiff zu spähen. Was hat denn der ausgefressen, denkt sich der Pfarrer in wohliger Vorfreude und greift zum Messbecher.

«Pfarrer, was sagt Gott, der Herr, über Betrug?»

Der Pfarrer verschluckt sich um ein Haar am Messwein. Ist der Frei gekommen, um zu beichten, dass er die Gemeindekasse geplündert hat? Nur gut, dass er, der Pfarrer, seinen Lohn von der Kirchgemeinde bezieht und nicht von der politischen Gemeinde. Aber darüber kann er sich später Gedanken machen, nun muss er sich um sein Schäfchen kümmern – korrupt oder nicht.

«Der Herr sagt uns unmissverständlich, dass wir nicht begehren sollen, was dem Nächsten gehört. Er hat uns die zehn Gebote geschenkt, in denen er festhält: Du sollst nicht stehlen. Und er sagt uns an vielen Stellen im Buch der Bücher, dass uns das Streben nach irdischen Gütern den Weg zum Himmelreich versperrt.»

So, denkt der Pfarrer, nun, wo er den Beichtstuhl doch noch gefunden hat, wieder ganz in seinem Element, damit sollte es klar sein, was Gott, der Herr, von Betrug hält, nämlich nichts. Der Nyffenegger hofft allerdings insgeheim, dass die deutlichen Worte nicht dazu führen, dass der Gemeindepräsident ohne die Preisgabe weiterer Details die Flucht ergreift.

Daran scheint dieser im Moment nicht zu denken, auch wenn die Worte des Pfarrers ganz offensichtlich nicht zu seiner Beruhigung beigetragen haben. Nun späht er noch ein bisschen gehetzter ins Kirchenschiff, der Guido Frei, bevor er schliesslich doch weiterspricht.

«Wenn aber, mein Hirte, kein Einzelner sich bereichert hat in diebischer Absicht, sondern die ganze Gemeinschaft profitiert? Und wenn keiner mit bösem Willen gelogen und betrogen hat, wenn… wenn der Betrug nur darin liegt, dass einer nichts gesagt hat? Gar nichts?»

Das ist dem Pfarrer Nyffenegger ein bisschen zu hoch. Wie kann man betrügen, ohne etwas zu tun, einfach mit blossem Schweigen? Wieso die ganze Gemeinschaft? Hat der versammelte Gemeinderat die Kasse geplündert und die Beute an die Armen und Kranken verteilt? Und warum hat die Kirche nichts gekriegt? Vor allem aber: Wächst sich das hier zu einer theologischen Moraldebatte aus? Der würde sich der Nyffenegger nun nicht gerade gewachsen fühlen. Andererseits: Endlich eine Herausforderung im tristen Leben eines Dorfpfarrers.

«Manchmal entsteht aus gutem Willen Böses. Dann gilt es, das zu erkennen und einen neuen Weg einzuschlagen, das Geschehene ungeschehen zu machen oder, wenn das nicht möglich ist, es wenigstens zu bereuen.»

Der Gemeindepräsident lässt ein gequältes Stöhnen hören. Offenbar ist das nicht die Antwort, die er hören wollte. Der Pfarrer hat das sichere Gefühl, dass ihm noch einige wesentliche Informationen fehlen, um hier einer armen Seele Erleichterung zu verschaffen – oder sie in die ewige Verdammnis zu schicken, was auch immer.

«Wollt ihr mir nicht sagen, was es ist, das ihr getan habt, Herr Gemeindepräsident?»

Der Frei seufzt, den Blick weiter zum Boden gesenkt, und der Pfarrer hat das Gefühl, es könnte die Situation auflockern, wenn er einen Schluck Messwein nimmt, dass er damit vielleicht eine Art Wirtshausatmosphäre schaffen kann, auch wenn das nicht ganz stimmt, denn der bedauernswerte Frei auf seiner Seite des Beichtstuhls hat ja nichts zu trinken. Aber es wirkt offenbar dennoch, nun spricht er endlich, der Frei, wenn auch zögerlich und mit belegter Stimme.

«Die Leute im Schlohwinkel oben. Die Glaubensgemeinschaft. Sie erinnern sich, Herr Pfarrer?»

Eine recht überflüssige Frage, findet der Pfarrer, denn wenn sich eine Sekte im Dorf niederlässt, so ist das durchaus ein Thema, das einen Geistlichen umtreibt. Etwa zwei Jahre ist es her, als diese seltsame Truppe hier aufgetaucht ist, offenbar eine Art Schweizer Ableger einer finnischen Sekte. Genaueres ist nie klar geworden, denn die Leute haben dort sehr zurückgezogen gelebt. Das war auch ein Grund dafür, dass sich der Pfarrer nach ersten sorgenvollen Gedanken später nicht mehr damit beschäftigt hat – ganz sektenuntypisch gab es keine Missionierungsversuche im Dorf, das Grüppchen von neun Frauen und Männern ist stets für sich geblieben, nur ganz selten hat man einen von ihnen im Dorf gesehen. Hin und wieder hat er sich überlegt, dort oben mal einen Augenschein zu nehmen, der Pfarrer, auch wenn er nie genau gewusst hat, wofür das gut sein sollte. Hin zum Christentum führen lässt sich eine Sekte ja selten, nur weil der Dorfpfarrer die Nase zur Tür herein hält. Aber irgendwie schien es ihm, als wäre es seine Pflicht, es wenigstens zu versuchen. Doch bevor er sich dazu durchringen konnte, war der Schlohwinkel wieder verlassen und die Sektenbrüder zuhause beim Schöpfer – natürlich beim richtigen und nicht bei der Fantasiefigur, die diese Exil-Finnen vermutlich anbeteten. Ein bedauerlicher Unfall, sicher, aber irgendwie auch ein schönes Zeichen von oben, fand der Nyffenegger damals. Und der zweite Gedanke war: Problem gelöst.

«Ich erinnere mich, Frei. Natürlich erinnere ich mich. Was ist damit? Da ist ja jetzt schon einige Zeit keiner mehr oben. Bedrückt euch das tragische Unglück immer noch? Ist es das? Träumt ihr schlecht?»

Der Frei lässt ein Lachen hören, aber kein fröhliches, eher ein verzweifeltes.

«Da habt ihr Recht, Herr Pfarrer, ich schlafe nicht besonders gut. Aber nicht wegen des Unglücks. Ich kann ja nichts dafür, dass diese Leute sich kein anständiges Fahrzeug besorgt haben, das eine Kurve machen kann, wenn eine Kurve kommt. Das ist es nicht, nein. Es ist nur… Wisst ihr, dass wir nicht schlecht gelebt haben von dieser Gemeinschaft?»

Oh ja, das weiss der Pfarrer. Er erinnert sich lebhaft an die Diskussion damals an der Gemeindeversammlung, als es um die Frage ging, ob das grosse Haus mit Umschwung dort oben im Schlohwinkel an eine dubiose finnische Sekte verpachtet werden soll oder nicht. Über eine Stunde lang hatten sich die verschiedenen Redner das Mikrofon weitergereicht und gewettert über den Vorschlag des Gemeinderates, der fand, man solle das tun. Das ganze Dorf war in heller Aufregung gewesen. Dann hatte der Gemeindepräsident einige weitere Argumente zum Besten gegeben, und die Stimmung war gekippt.

Argument Nummer 1: Den Schlohwinkel einfach leer stehen zu lassen, sei schade, das Haus sei soweit eigentlich gut beieinander, und wenn man es nicht verpachte, dann werde früher oder später der Kanton kommen und einem dort eine Meute Flüchtlinge aufs Auge drücken, wie er es eben immer tut, wenn irgendwo auf dem Land ein paar Räume frei sind. Das wiederum war nun auch nicht im Sinn der Leute im Dorf. Und Argument Nummer 2: Diese Finnen hatten den Schlohwinkel besichtigt, waren begeistert und hatten der Gemeinde ein Angebot unterbreitet, das einiges über dem lag, was dieser sich zu fragen getraut hätte. Mit anderen Worten: Die Verpachtung des Schlohwinkels an diese seltsamen Leute war ein sehr willkommener Zustupf in die Gemeindekasse. Sogar eine Art Ankunftsprämie hatte die Sekte in Aussicht gestellt. Diese Details waren es, die an der denkwürdigen Gemeindeversammlung kurz darauf zu einem grossmehrheitlichen Ja zur Verpachtung führten, gegen die Stimmen einiger ewiger Nörgler.

Jedenfalls, der Pfarrer weiss Bescheid, und in seiner Antwort balanciert er geschickt zwischen himmlischen und irdischen Werten.

«Ja, gewiss, und auch wenn ich das Streben nach dem schnöden Mammon als Mann Gottes verurteile, so weiss ich doch, dass ihr als Gemeindepräsident eure Mittel braucht. Es sei euch gegönnt, Frei. Habt ihr das Gefühl, dass ihr euch zu Unrecht bereichert habt? Es war doch ein ordentlicher Pachtvertrag.»

Nun schaut der Frei erstmals auf, sieht dem Pfarrer ins Gesicht, als der gerade wieder zum Messwein greift und eine Hostie in den Wein tunkt und versonnen daran knabbert, bevor ihm auffällt, dass ihn der Frei anschaut.

«Herr Pfarrer, der Pachtvertrag war in Ordnung. Rechtlich ist alles einwandfrei. Und Gott weiss, wir haben das Geld von dieser Glaubensgemeinschaft ordentlich eingesetzt, zum Wohle aller. Es gibt noch viele Projekte, die wir gerne umsetzen wollen im Dorf. Und dank dem Geld der Sekte können wir das auch tun. Weiterhin. Es kommt ja, Monat für Monat.»

Der Pfarrer verschluckt sich ein wenig an den letzten Krümeln der Hostie und hustet. Als er sich wieder erholt hat, rückt er näher ans trennende Holzgitter.

«Wie meint ihr das, Frei? Da oben ist doch seit Monaten kein Mensch mehr. Da gibt es doch keine Pacht mehr zu holen.»

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