Von der Magie zur Mystik

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Von der Magie zur Mystik
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Stefan Jürgens

Von der Magie zur Mystik

Der Weg zur Freiheit im Glauben

Patmos Verlag

Inhalt

Vorwort

Von Kindern und Zwergen

Geistliche Entwicklung in der Bibel

Erfahrung und Deutung

Altes Testament

Neues Testament

Negative Theologie: die analoge Rede von Gott

Entwicklung im Alten Testament

Entwicklung im Neuen Testament

Was den Kinder- vom Erwachsenenglauben unterscheidet

Beten und Bitten

Sakramente und Sakramentalien

Religion versus Glauben

Engel und Schutzengel

Teufel und Dämonen

Himmel oder Hölle

Maria mit dem Kinde lieb

Magische Orte und heilige Zeiten

Zeichen und Wunder

Ursachen für das Verharren im Kinderglauben

Misstrauen und Minderwertigkeitsgefühl

Fehlende Reflexionsbereitschaft

Klerikalismus

Wege zum erwachsenen Glauben

Spiritualität und Identität

Pastorale Wegmarken

Es geht um Freiheit

Kindlich, nicht kindisch

Österlich leben

Buße und Beichte

Hierarchie

Kontemplation

Das Beispiel Bonhoeffer

Konkrete Schritte

Einladung

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Vorwort

Das Thema »Von der Magie zur Mystik« zieht sich wie ein roter Faden durch mein seelsorgliches Handeln. Bereits die Glaubens- und Kirchenerfahrung meiner Kindheit und Jugend war davon geprägt. Ich habe Menschen erlebt, getaufte Christinnen und Christen, die im Glauben nicht reifen konnten, die zeit­lebens in religiösen Kinderschuhen steckten und deshalb an magischen, meistens angstbesetzten Vorstellungen hingen, ja, diese sogar vehement als den angeblich wahren Glauben verteidigten. Seitens der Gemeindeleitung wurde wenig dagegen unternommen, da die kirchlichen Machtstrukturen auf Autorität und Gehorsam angelegt waren.

Erst während des Theologiestudiums bin ich meinem eigenen Kinderglauben entwachsen. Bei einer Vorlesung über den Römerbrief des Apostels Paulus ist mir aufgegangen: Gott liebt mich nicht, weil ich gut bin, sondern weil er gut ist. Mit einem Mal ist mir klargeworden, dass mein kindlicher Glaube nicht nur naiv und magisch, sondern auch eine finstere Leistungs­religion gewesen war. Hatte ich bei meinen Eltern gelernt, lieb und artig zu sein, so war die Religiosität meiner Heimatpfarrei darauf angelegt, Gott – oder wen man dafür hielt – durch fromme Leistung gnädig zu stimmen. Ich wurde zu Hause mit unendlicher Geborgenheit beschenkt, wodurch ein starkes Urvertrauen entstehen und sich mein Glaube trotz eines gewissen Jesus-Defizits entwickeln konnte. Dieses Defizit bestand darin, dass der Gott meiner Kindertage im Grunde genommen eine Schutzgottheit war, »Herrgott« genannt, der gemeinsam mit dem »lieben Heiland« die Aufgabe hatte, angepasstes Verhalten mit persönlichen Vorteilen zu vergelten. In der Pfarrei glaubte man ebenfalls nicht an Jesus Christus und die befreiende ­Botschaft seines Evangeliums, sondern an die Autorität des Pfarrers.

In 25 Jahren seelsorglicher Praxis ist mir bei vielen Menschen nur wenig Glaube begegnet, dafür aber viel Magie; wenig Gottvertrauen, dafür aber viel Angst; wenig Entwicklung, dafür aber viel Tradition. Ich behaupte, stets die frohe Botschaft, das Evangelium, gepredigt zu haben; dennoch entdecke ich gerade bei vielen älteren Menschen ein Bestehen auf der alten Angst, ein Verharren in kindlich-naiven Vorstellungen von der Bibel, den Sakramenten und der Kirche. Selbst junge Menschen, die ansonsten mitten im Leben stehen, beharren auf magischen, geradezu grotesken Ansichten. Theologische Aufklärung jedenfalls wird immer noch scharf bekämpft, ja, die gesamte Theologie steht bei vielen Christen unter dem Generalverdacht der Häresie. Wer beispielsweise die Bibel historisch-kritisch auslegt, gilt oftmals als nicht fromm genug, da er ja »nicht mehr alles glaubt«, was angeblich darin geschrieben steht.

Ein Großteil der Christen, so scheint mir, glaubt an einen Gott, den es gar nicht gibt, nämlich an das mit der jeweils herrschenden (weltlichen und auch kirchlichen) Macht verwechselbare und von der Religionskritik längst als Projektion entlarvte Über-Ich, das kontrolliert und beschützt, belohnt und bestraft, verflucht und segnet. Das ist wohl der Grund, warum mittlerweile die meisten Christen ihren Glauben mitsamt ihrer ambivalenten Kirchenerfahrung loswerden wollen, warum sie ihn einfach vergessen oder bewusst verdrängen. An den Vater Jesu Christi, der herausfordert zu entschiedener Nachfolge und leidenschaftlicher Liebe, glauben offenkundig nur die wenigsten.

Mit einem Wort: Die Magie hat es leicht, denn jeder Mensch ist von Natur aus religiös. Der Glaube aber hat es schwer, denn er braucht, um wachsen und reifen zu können, nicht nur fromme Gefühle, sondern intellektuelle Anstrengung, nicht nur das Mitmachen von Ritualen, sondern deren kritische Reflexion – psychologisch gesprochen: nicht nur Regression, sondern vor allem Individuation. Magisch empfinden faktisch zunächst alle Menschen; mystisch sind sie erst dann, wenn sie sich um eine verbindliche, aufgeklärte und handlungsbereite Spiritualität bemühen: Ora et labora. Interessant ist, dass Menschen gerade im Ringen um einen reifenden Glauben jeden Leistungsgedanken über Bord werfen und sich von Gott beschenken lassen können wie ein Kind. Ihr Glaube wird von selbst zur Nachfolge Christi; sie können gar nicht mehr anders, als auf seine Liebe und Hingabe zu antworten.

Ich bin davon überzeugt, dass die Weltgeschichte anders verlaufen wäre, wenn es mehr gereifte und erwachsen gewordene Christinnen und Christen gegeben hätte. Wie hätten sonst zwei Weltkriege von einem Land ausgehen können, dessen Kirchen zur selben Zeit noch zum Bersten voll waren? Nur wenige waren damals couragiert, reflektiert, mutig; die meisten waren gefangen in alten Gehorsamsstrukturen oder haben einfach weggeschaut. Ich bin davon überzeugt, dass die Kirche reformfähiger wäre, wenn die leitenden Persönlichkeiten wirklich erwachsen wären. Die Zugangsbedingungen zum Amt beispielsweise verhindern geradezu, dass wirklich gereifte Menschen in hohe Ämter kommen. Durch den Pflichtzölibat werden Beziehungsunfähigkeit und Infantilität faktisch gefördert und spiritualisiert. Die Auftritte mancher Kirchenoberer jedenfalls machen einen durchaus kindlich-selbstverliebten Eindruck, wenn es hauptsächlich darum geht, Papa Papst und Mutter Kirche zu gefallen; man regiert autoritär, tut dabei fromm und zieht eine Schleimspur angepasster Kirchenfrömmigkeit hinter sich her. Reformen werden verhindert, weil man selbst – wie übrigens alle Traditionalisten – an seiner eigenen Kinderkirche festhält. Die wahren Krabbelgottesdienste, so scheint mir manchmal, finden in den Hochchören unserer Kathedralen statt. Schließlich bin ich davon überzeugt, dass die heutige Weltpolitik anders liefe, wenn die darin machthabenden Christ­innen und Christen im Glauben weiter gereift wären; denn dann würden sie religiöse Gefühle nicht nationalistisch missbrauchen, sondern die kritische Kraft und Herausforderung des Evangeliums entdecken.

 

An der persönlichen Entwicklung von der Magie zur Mystik führt deshalb kein Weg vorbei. Dazu möchte ich allen Christinnen und Christen Mut machen, denn dafür ist es nie zu spät. Ich bin davon überzeugt: Gott will keine infantilen Angsthasen, die nur perfekt gehorchen, sondern erwachsene Töchter und Söhne, die sich entwickeln zu mehr Freiheit und Verantwortung, herausgefordert zu Hingabe und Liebe.

Um eine bessere Lesbarkeit zu ermöglichen, verzichte ich an den meisten Stellen im Buch auf die Nennung beider Geschlechter sowie auf das Gender*sternchen. Gemeint sind aber immer alle (w/m/d).

Von Kindern und Zwergen

Glaube ist kein Zustand, sondern ein Weg. Der Glaube entwickelt sich im Laufe des Lebens. Bleibt ein Mensch auf einer bestimmten, meist frühen religiösen Stufe stehen, spricht man vom Kinderglauben. Wenn ein Kind nicht wächst, wird aus ihm weder ein erwachsenes Kind noch ein kleiner Erwachsener, sondern ein Zwerg. Ich betone, dass es sich hierbei um eine Metapher handelt: Mit dem Zwerg ist selbstverständlich nicht die physiologische Kleinwüchsigkeit gemeint, sondern eine ver­zögerte oder gar zum Stillstand gekommene religiöse Entwicklung. Man sollte den Kinderglauben deshalb nicht romantisieren, so als habe eine solche Entwicklungsstufe mit unver­dorbenem Vertrauen zu tun, gar mit unverbrauchter und unangezweifelter Gottunmittelbarkeit. Es ist ein Zwergenglaube, der bei der erstbesten Lebenskrise wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt. Wer aus seinen religiösen Kinderschuhen nicht herausgewachsen ist, wird bald aus allen Latschen kippen.

Nach meiner Erfahrung gehen menschliche und geistliche Reife Hand in Hand, Beziehungsfähigkeit und Spiritualität sind ein und dasselbe. Wer mit einem Menschen keine verlässliche Beziehung leben kann, wird auch Gott nicht die Treue halten; wen das Schicksal von Menschen unberührt lässt, der lässt sich auch von Gott nicht berühren; an der Nächstenliebe kann man die Gottesliebe exakt ablesen – und umgekehrt. Insofern sorgen autoritäre Strukturen einerseits und kindliche Frömmigkeit andererseits in der Kirche dafür, dass Menschen, insbesondere Amtsträger, nicht reifen können und dann später selbst die Entwicklung anderer Christen behindern. Sie sind selbst nicht beziehungsfähig, was auch noch spirituell überhöht wird. Pastoraltheologen sprachen schon vor Jahrzehnten von der Infantilität des Gottesvolkes und dessen Unmündigkeit im Glauben.

Wie sieht er denn aus, der Glaube in Kinderschuhen? Wenn Erwachsene ihren Kinderglauben nicht abgelegt haben, dann glauben sie meistens mehr an Magie als an Jesus. Gott ist dann ein Wundertäter, der zuständig ist für alles, was ich nicht verstehe, und der überall dort anzutreffen ist, wovon ich noch nichts weiß. Der Gott, der in dieser Lücke sitzt, wird zwar der liebe Gott genannt, aber man traut seiner Liebe doch nicht so recht über den Weg. Deshalb muss man sich bei ihm absichern, denn für gute Taten gibt es Lohn, für schlechte eben Strafe. So lieb ist der liebe Kindergott also doch nicht! Er ist nur ein Buchhalter, der zusammenrechnet und später im Himmel auszahlt, was man für sich selbst erarbeitet hat. Der Glaube in Kinderschuhen findet niemals wirklich zu Jesus Christus. Es geht zumeist bloß um irgendeinen Naturgott – »Herrgott« genannt –, nicht aber um den Vater Jesu Christi.

Johannes vom Kreuz, der große spanische Mystiker, sagt es so: »Nur ein Mensch, der seine hergebrachten religiösen Gewissheiten verloren hat, ist fähig zur Begegnung mit dem lebendigen Gott.« Mit anderen Worten: Nur wer seinen Kinderglauben in Frage stellt, wer ganz bewusst vor und mit Gott zu leben beginnt, findet zu einer persönlichen Gottesbeziehung. Ich bin davon überzeugt: Wer sich wirklich auf Jesus einlässt, gelangt zu einer ganz neuen Freiheit. Wer in dieser Freiheit lebt, kann fröhlich seinen Glauben bezeugen.

Der Kinderglaube ist für Kinder durchaus wichtig, man soll ihn deshalb nicht von vornherein schlechtmachen. Erwachsene können von Kindern viel lernen: Vertrauen haben, die Zeit vergessen, absichtslos neugierig sein, ganz bei einer Sache bleiben, nicht nach Anerkennung und Erfolg schielen, sich nicht mit anderen vergleichen. Der Kinderglaube ist für Kinder durchaus wichtig, denn ohne natürliche Religiosität findet niemand zum Glauben. Im Erwachsenenalter jedoch ist der Kinderglaube kontraproduktiv, denn einen Zwergenglauben will man irgendwann nicht mehr haben, sondern unbedingt loswerden.

Die religiöse Entwicklung vom Kinder- zum Erwachsenenglauben ist der Weg von der Magie zur Mystik. Wie jeder Mensch im Mutterleib Stufen der biologischen Evolution durchläuft, so durchlebt und durchleidet er biografisch den Fortgang der geistig-geistlichen Evolution der Menschheit von einer naiv-magischen Religiosität hin zum aufgeklärt-mystischen Glauben. Es gibt ja nicht nur die biologische, sondern auch die geistige und spirituelle Evolution. In der Frühzeit der Menschheit geht es ums nackte Überleben und entsprechend um die Befriedigung von Urbedürfnissen. Erst später entstehen Rituale, vor allem um die Ereignisse der Lebenswenden herum: Geburt, Heirat, Tod. Solche Rituale geben Sicherheit und Halt, sie verleihen Identität. Denn die Welt wird als magisch empfunden, sie ist unberechenbar und bedrohlich. Deshalb muss man sich wehren gegen böse Geister und gegen ein schlimmes Schicksal. Erst mit der Erfindung der Schrift entstehen Gesetze und Regeln; Könige sorgen für Ordnung, Moralvorstellungen und Traditionen für ein reibungsloses Zusammenleben. Das verheißene ­Jenseits bringt den Lohn für ein moralisch gutes Leben, entsprechend wird Ausreißern und Bösewichten die Hölle heiß gemacht. Durch die Wissenschaft lernt die Menschheit erst sehr viel später, sich von einer religiös legitimierten Ordnung zu emanzipieren; seit der Aufklärung muss niemand mehr an Gott glauben, um einen gesellschaftlich anerkannten Platz einzunehmen. Die Welt ist mündig geworden, sie braucht Gott nicht mehr, weder als Welterklärungsmodell noch als Moralinstanz; kein Machthaber ist mehr »von Gottes Gnaden«, kein Problem wird mehr mit der Hypothese eines Gottes, der in der Lücke menschlicher Begrenztheiten oder wissenschaftlich noch ungeklärter Probleme sitzt, zu lösen versucht.

Mit dieser kurz skizzierten geistigen Evolution ist jeweils auch ein Wandel im Gottesbild verbunden. Ist Gott zunächst der Versorger von Urbedürfnissen, so stehen später Stammesgötter am Ahnenhimmel. In kriegerischen Gesellschaften, die sich durch Abgrenzung definieren, sind Macht- und Kriegsgötter gefragt, in Königreichen eher göttliche Vaterfiguren, Gesetzgeber und Richter. Erst mit der Hinwendung zum Diesseits durch die Naturwissenschaften wird das Gottesbild transzendent und mystisch; jetzt geht es um einen verborgenen Urgrund in der Tiefe des Seins. Nach der Erfahrung der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert wurde Gott häufig als Freund bezeichnet, er war jetzt barmherzig und lahm wie ein zahmer Tiger, »er« war jetzt eine »Sie«, nicht mehr nur Vater, sondern auch Mutter. Jede Zeit hat also ihr Gottesbild, das zugleich ­Inbegriff einer großen Sehnsucht und Legitimation des Bestehenden oder auch Kritik daran ist. Diese Entwicklung, die über mehr als 50.000 Jahre geht, ist ein Weg von der Magie zur Mystik, also von den allerersten religiösen Stufen bis heute. Und diese Entwicklung muss jeder Mensch durchlaufen, will er nicht im Kinderglauben, also in den ganz frühen Stufen, steckenbleiben.

Magie ist dabei die archaische Vorstellung, dass alles mit allem zusammenhängt und man nur die richtigen Mittel anwenden muss, um das Göttliche nach eigenem Gutdünken zu beeinflussen. Da diese Mittel jedoch auch anderen zur Verfügung ­stehen, geht mit der Magie immer auch die Angst einher, das Göttliche könne einem Schaden zufügen. Magische Vorstellungen sind demnach immer angstbesetzt und von großer existenzieller Unsicherheit geprägt – das Göttliche erscheint einerseits unheimlich groß, dann aber wieder nützlich und brauchbar und damit klitzeklein, es bleibt unberechenbar und ambivalent.

Mystik ist demgegenüber kein Feld für religiöse Hochleistungssportler oder besonders begabte Gläubige, sondern schlichtweg die konsequente Pflege einer persönlichen Gottesbeziehung. Der Mystiker, die Mystikerin erfährt Gott als ein liebendes, aber auch herausforderndes Du, dem er/sie sich in Freiheit anvertrauen kann. In der Mystik ist Gott der immer Größere, er spricht und hört, er zwingt zu nichts, lässt sich aber auch nicht für eigene Zwecke gebrauchen und damit kleinmachen. Gott ist geheimnisvoll, aber nicht unheimlich; er ist eindeutig, nicht ambivalent. Jeder Mensch, der betet, ist in diesem Sinn ein Mystiker, da er sich auf eine persönliche Beziehung zu Gott einlässt und aus dieser heraus lebt und handelt. Wie gesagt: Beziehungsfähigkeit und Spiritualität sind im Grunde genommen ein und dasselbe, Mystik ist Gottesbegegnung auf Augenhöhe und per Du.

Geistliche Entwicklung in der Bibel
Erfahrung und Deutung

Die Bibel ist voll von Erzählungen und Bildern einer stufenweisen Glaubensentwicklung. Gott offenbart sich so, wie die Menschen ihn erfahren und vielleicht begreifen können; er geht ihren Lebensweg mit, fordert sie heraus, überfordert sie dabei aber nicht. Er ist ein Gott der Geschichte, nicht der zeitlosen Mythen. Dieser Gott macht in der Bibel selbst eine Evolution durch, er entwickelt sich vom Wüsten- und Wettergott zum universalen Gott aller Menschen; kämpft er zunächst im Kreis der Götter noch eifersüchtig um Vorherrschaft, so zeigt er sich später als Gott für alle. Von Zebaoth bis zum Abba-Vater Jesu Christi ist es ein weiter Weg, der Menschen Mut machen kann, diesen Gott auch auf ihrem eigenen Lebensweg immer besser zu verstehen und tiefer zu erfassen.

Entsprechend gibt es auch und gerade in der Bibel magische und mystische Elemente: die Furcht vor Gott und die Liebe zu ihm, einen machtvollen Kriegsgott und einen ohnmächtigen Gottessohn am Kreuz. Mit einzelnen Bibelsprüchen, aus dem Zusammenhang gerissen, kann man deshalb so ziemlich jeden Unsinn beweisen. Die Bibel zeigt eine geistig-geistliche Evolution von der Magie zur Mystik: Anthropomorphe (menschen­ähnliche) Gottesbilder lösen sich zugunsten transzendenter Vorstellungen und Gotteserfahrungen, die zur Liebe herausfordern, auf. Das Verständnis der Bibel wächst ebenfalls mit der menschlichen Erkenntnis; wir verstehen die Bibel heute besser als vor hundert oder tausend Jahren.

Wenn ich in Gemeinden oder Bildungshäusern eine kleine Bibelschule anbiete, wundere ich mich jedes Mal darüber, wie kindlich-naiv viele ansonsten gebildete Menschen mit der Bibel umgehen, so als müssten sie durch ein naives Aufnehmen ihrer Geschichten die Erinnerung an ihren Kinderglauben bewahren. Insofern ist ein aufgeklärt-mystischer Umgang mit heiligen Texten, ja, überhaupt das Zulassen von Hermeneutik, also die Reflexion der Bedingungen des Verstehens, unabdingbar für die Entwicklung eines erwachsenen Glaubens (und des inter­religiösen Dialogs).

Die meisten Christen kennen die Bibel nicht, jedenfalls nicht ausreichend. Sie haben zu Hause eine Bibel, aber sie lesen nicht darin. Die Bibel ist der absolute Weltbestseller, kein Buch erreicht höhere Auflagen. Und doch kennen die meisten Christen die Bibel, wenn überhaupt, nur aus dem Gottesdienst. Und auch dort wird häufig nur über die einfachen Stellen, vielleicht über das Evangelium, nicht aber über die Lesungen gepredigt. Oftmals enthalten Predigten auch heute noch eher moralische Appelle als eine Erschließung biblischer Inhalte. So bleibt das meiste fremd. Den Älteren hat man die Bibel nicht zugetraut, zugemutet; im Religionsunterricht wurden noch vor wenigen Jahrzehnten Katechismusantworten abgefragt; aus der Bibel gab es nur ausgewählte Geschichten, Gedanken, Sprüche. Das Alte Testament galt sogar als gefährlich, eben weil es nicht nur erbauliche Geschichten enthält, sondern das ganze Leben: Scheitern und Versagen, Mord und Totschlag, Sex and Crime. Es spricht eben nicht von guten Menschen, sondern von einem guten Gott. Noch heute schalten viele bei der Ersten Lesung ab. Die Bibel, besonders das Alte Testament, ist gleichbedeutend mit »schwer verständlich«. Jugendliche, die es ja anders haben könnten, ­denen heute alle Möglichkeiten offenstehen, finden die Bibel langweilig.

Die evangelische Kirche galt immer als Kirche des Wortes, die katholische Kirche als Kirche der Sakramente. In der evangelischen Kirche wurde mehr gelesen und gepredigt, in der katholischen Kirche wurde mehr gefeiert und verehrt. Martin Luther wollte zurück zu den Quellen des Glaubens; »sola scriptura, allein die Schrift« hieß einer seiner Grundsätze. So kam es unter Protestanten zu einer Abwehr gegen Zeichen; diese gerieten allesamt unter Magieverdacht. Unter Katholiken kam es zu einer unausgesprochenen Abwehr gegen das Wort, also gegen die Bibel, die zusehends vernachlässigt wurde. Die einen erfuhren Jesus im Wort, die anderen hatten ihn auf dem Altar. Das Zweite Vatikanische Konzil wollte die Bibelangst der Katholiken aufbrechen. Christus ist ja nicht nur im Sakrament wirklich gegenwärtig, sondern auch in jedem Getauften, in der Versammlung, in seinem Wort, in den Werken der Liebe. Deshalb wollte man, wie es damals hieß, dass der »Tisch des Wortes Gottes« reicher gedeckt würde. Wer vor dem Konzil die heilige Messe besuchte, hörte immer dieselben wenigen ausgewählten Geschichten und Sprüche. Kein Wunder, dass man keinen Spaß an der Bibel bekam. Wer heute den Lesejahren der Kirche folgt, bekommt in drei Jahren einen Großteil der Bibel vorgelesen, verkündet, gefeiert. Dennoch tun sich auch heute noch Gruppen, die Gottesdienste vorbereiten, mit der Bibel schwer. Sie erliegen oft der Versuchung, das Bibelwort durch Kurzgeschichten mit einfachsten moralischen Pointen oder durch sogenannte Meditationen, die allein dadurch schön klingen, dass sie ruhig und langsam vorgetragen werden, zu ersetzen. Bibelkreise sind zumeist überaltert oder haben aufgegeben.

 

Die Bibel ist Gottes Wort in Menschenwort. Sie ist nicht vom Heiligen Geist diktiert. Vielmehr sind hier Glaubens- und Lebenserfahrungen von Menschen aufgeschrieben, die ernst gemacht haben mit Gott. Die Bibel ist Menschheitsgeschichte, gedeutet aus gläubiger Perspektive; sie ist das Leben Gottes, gedeutet von Menschen, die etwas von ihm erfahren haben, die ihren Glauben nicht für sich behalten wollten. Christen glauben also nicht an Verbalinspiration – das Christentum ist in diesem Sinne keine Buchreligion –, aber wenn ein Bibelwort wirkt, dann ist das durchaus inspirierend. Inspiration ist kein Vorgang bei der Abfassung, sondern beim Lesen der Texte, insofern sie vom Hirn ins Herz rutschen und konkretes Handeln bewirken.

Über Jahrhunderte wurde heftig um die Bibel gestritten: Muss man alles wörtlich nehmen? Ist alles wirklich so gewesen? Hat Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen? Waren Adam und Eva die ersten Menschen oder nur Symbolgestalten? Hat Jesus wirklich Wunder gewirkt? War sein Grab leer? Kann man aus der Offenbarung die Zukunft dieser Welt ablesen?

Ich kenne Menschen, die schwer enttäuscht sind. Als Kinder haben sie alles geglaubt, was ihnen aus der Bibel vorgelesen wurde. Als Erwachsenen hat man ihnen gesagt, man dürfe nicht alles wörtlich nehmen, auf den Sinn käme es an. Plötzlich halten sie alles für ein Märchen, ihre ganze religiöse Welt fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Solche Menschen sind im Glauben Kinder geblieben. Sie unterscheiden nicht zwischen Wirklichkeit und Wahrheit, sie unterscheiden nicht zwischen Geschichte und Botschaft, zwischen den Wörtern der Menschen und dem Wort Gottes. Zumeist haben sie sich niemals kritisch mit ihrem Glauben auseinandergesetzt.

Solche Menschen findet man in manchen Freikirchen, bei den Zeugen Jehovas, in christlichen Sekten, aber auch bei ängstlichen katholischen und evangelischen Christen. Man klammert sich furchtsam an das geschriebene Wort, an vorgeblich historische Tatsachen oder einzelne Bibelsprüche, und geht dabei am Ganzen, am Sinn der Botschaft vorbei. Dabei kommt man häufig zu sehr fragwürdigen theologischen Aussagen und zu einem Glauben, der nicht Freiheit, sondern Angst bedeutet. Statt den Glauben aus dem Wort Gottes herauszulesen, liest man seine eigenen kindlichen und naiven Vorstellungen in das Bibelwort hinein.

Die Bibel ist Gottes Wort in Menschenwort. Sie ist nicht in allem wirklich, aber sie ist wahr. Sie erzählt die Geschichte von Menschen, um in unser heutiges Leben hineinzusprechen. Nicht um Wörter geht es, sondern um das Wort. Deshalb sagt der jüdische Theologe Pinchas Lapide zu Recht: »Man kann die Bibel entweder wörtlich nehmen oder ernst.« Es gibt nur das eine oder das andere. Wer alles wörtlich nimmt, geht garantiert am Sinn vorbei. Die Bibel sagt es selbst: »Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig!« (2 Kor 3,6). Wer die Bibel ernst nimmt, wer den Geist Gottes aus ihr herauslesen kann, wird sie lieben und aus ihr zu leben versuchen. Er wird gewahr werden: Das Judentum und in dessen Folge das Christentum ist ein Offenbarungsglaube. Niemand kann sich ausdenken, wer Gott ist, niemand kann ihn aus der Natur herauslesen. Dass Gott existiert, mag man an der Schöpfung erkennen, aber wer und wie er ist, nicht. Dazu muss er sich selbst offenbaren, alles andere wäre Naturreligion und damit ein Konstrukt von Menschenhand. Gott offenbart nicht etwas über sich, nicht irgendwelche Wahrheiten und Lehrsätze, sondern sich selbst, seine Wahrheit und sein Wesen.

Die historisch-kritische Exegese hat gelehrt, Texte aus ihrer Entstehungszeit heraus zu verstehen. Das ist meistens ganz einfach; man braucht dafür kein Theologiestudium, sondern nur Aufmerksamkeit und Geduld. Wer beispielsweise den ersten Schöpfungshymnus (Gen 1,1–2,4a) mit dem zweiten Schöpfungsbericht (Gen 2,4b–24) vergleicht, dem springen die Unterschiede buchstäblich ins Auge; man bekommt eine Ahnung vom Umfeld der Abfassung, von der Lebenswirklichkeit der Autoren und deren Intention. Ähnlich ist es bei den Evangelien. Wer die drei synoptischen Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas miteinander vergleicht und dann das Johannesevangelium liest, kann vernünftigerweise nicht mehr behaupten, alles habe genauso stattgefunden. Vielmehr wird sofort auffallen, dass hier verschiedene Schwerpunkte enthalten sind und dass jeder Autor durch seine eigene theologische Brille von Ostern her auf die jeweils unterschiedliche Lebenssituation seiner Leser schaut. Für alle weiteren zum Verständnis notwendigen Informationen (Textkritik, Literarkritik, Form- und Redaktionsgeschichte) genügt meistens ein kurzer Blick in die Anmerkungen der gerade vorliegenden Bibelübersetzung. Nach meiner Erfahrung können auch Christen ohne theologische Vorbildung schnell erfassen, dass bestimmte Autoren für bestimmte Zielgruppen schreiben, zum Beispiel Matthäus für Judenchristen, Markus und Lukas für Heidenchristen, und Johannes, der Christus-Mystiker, für Christen in der Verfolgung, die eine starke Ermutigung durch die Einheit mit ihrem Herrn nötig hatten.

Dass alle alten Texte, ob weltlich oder geistlich, ob historisch oder frei erfunden, einer Deutung bedürfen, mache ich gern anhand einer Metapher klar. Wenn heutzutage Volkswagen und Daimler fusionieren würden, so könnte man in der Zeitung folgende Schlagzeile lesen: »Elefantenhochzeit in Wolfsburg und Stuttgart«. Denn jeder weiß, dass mit dem Sprachbild »Elefantenhochzeit« die Fusion von zwei großen Konzernen gemeint ist. Und weil die meisten wissen, wo diese Konzerne ihren Hauptsitz haben, wäre bei der genannten Überschrift jedem sofort klar: VW und Daimler schließen sich zusammen.

Nehmen wir an, fünfhundert oder tausend Jahre später würde in einem alten Archiv ein Exemplar der besagten Zeitung gefunden. Allerdings wüsste niemand mehr, was in unseren Tagen mit der Metapher »Elefantenhochzeit« gemeint war. Die Archäologen würden wohl in Wolfsburg und Stuttgart so lange graben wollen, bis sie Elefantenknochen gefunden hätten. Weil sie aber keine finden würden, wäre es höchst wahrscheinlich, dass sie die Zeitungsmeldung als blanken Unsinn, als Märchen oder Fake-News bezeichnen würden. Es sei denn, in fünfhundert oder tausend Jahren fänden Historiker und Literaturwissenschaftler heraus, welche sprachlichen Metaphern in unserer Zeit gebräuchlich waren.

Genauso müssen wir die Bibel verstehen, auch viele andere überlieferte Texte wie zum Beispiel das Glaubensbekenntnis: Welchen Sinn hatten die Aussagen ursprünglich? Was bedeuteten bestimmte Begriffe, Bilder und Metaphern, als die Texte verfasst wurden? Die Bibel ist nicht für uns geschrieben worden, sondern für die Zeitgenossen der jeweiligen Autoren, also für deren Adressaten. Ihre Umwelt und ihre Gedanken zu begreifen ist entscheidend dafür, ob wir ihre Texte überhaupt verstehen können. Deshalb ist die historisch-kritische Exegese für einen reifen Glauben unbedingt notwendig.