Buch lesen: «Moderner Fundamentalismus»
Der Autor
Stefan Breuer, geb. 1948, seit 1984/85 Professor für Politikwissenschaft im Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Hamburg, anschließend Professor für Soziologie, zunächst an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (HWP), ab 2005 der Universität Hamburg. Seit 2014 emeritiert. Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. Max Weber, die politische Rechte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die (prä)historischen Ursprünge von Herrschaft und Staatlichkeit. Zahlreiche Veröffentlichungen.
Stefan Breuer
Moderner
Fundamentalismus
© E-book-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2020
© 2002 Philo Verlagsgesellschaft mbH, Berlin /Wien
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagfoto: Alfred Eisenstaedt, A dealer in antiques offers
weather vanes for sale in Vermont, 1940
Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)
eISBN 978-3-86393-556-6
Auch als gedrucktes Buch erhältlich, ISBN 978-3-86393-095-0
Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im
Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de
Inhalt
Einleitung: Moderner Fundamentalismus
I.Moralischer Fundamentalismus
1.Rousseau und die Folgen
2.Worstward Ho! Schopenhauer oder die Inversion des moralischen Fundamentalismus
II.Ästhetischer Fundamentalismus
1.Vom ästhetischen Idealismus zum ästhetischen Fundamentalismus
2.Richard Wagners musikalische Soteriologie
3.Träume vom PLASTISCHEN GOTT: Stefan George
Exkurs: George-Kreis und Gnosis
4.Goethe oder Hölderlin? Varianten des ästhetischen Fundamentalismus
III. Erotischer Fundamentalismus
1.Eros als Erlösungsmacht
2.Fremderlösung und Autoerotismus: Ludwig Klages
3.Erotische Selbsterlösung: Otto Gross, Herbert Marcuse
IV. Arnold Böcklin und der moderne Fundamentalismus
V.Nietzsches Transformation des Fundamentalismus
Literaturverzeichnis
Einleitung: Moderner Fundamentalismus
I.
Fundamentalismus ist eines jener Worte, die zur rechten Zeit sich einstellen, wo Begriffe fehlen. Schon in den siebziger Jahren diente es nicht nur zur Kennzeichnung radikaler Strömungen im Islam, sondern auch zur Unterscheidung des intransigenten Flügels der Grünen von den Pragmatikern. Inzwischen hat sich sein Bedeutungsgehalt so sehr erweitert, daß er die unterschiedlichsten Positionen abdeckt. Mit ihm belegt man die Gegner der Abtreibung ebenso wie deren feministische Befürworterinnen, die Kritiker der Marktwirtschaft ebenso wie die Wachstumsideologen und Verfechter der Superindustrialisierung, den romantischen und völkischen Antimodernismus ebenso wie den ‚Fundamentalismus der Moderne‘1. Inhalte, so scheint es, sind sekundär; Fundamentalismus ist nur noch ein anderes Wort für Haltungen, die man früher mit Ausdrücken wie radikal, extrem oder absolut bezeichnete. Und dies gilt nicht nur für die Alltagssprache, sondern auch für den elaborierten Code der Wissenschaft. In der Soziologie Talcott Parsons’ beispielsweise steht Fundamentalismus für Wertabsolutismus, eine Art Unfähigkeit, die für den Umgang mit modernen, hochkomplexen und pluralistischen Wertordnungen erforderliche Flexibilität aufzubringen. Fundamentalismus, so Parsons, sei ein „Prototyp deflationären Druckes auf das Commitment-System“, ein Versuch, „das Angebot weiten Freiheitsraumes auf Dinge zu beschränken, die – nach strengest möglicher Anforderung –‚solide‘ sind, wie das Gold in monetären Systemen oder die Sicherheitskraft überlegener Gewalt in politischen Systemen“2.
Gegenüber diesem Sprachgebrauch ist zunächst an die Einsicht eines anderen Soziologen zu erinnern, daß die Tendenz zur Verabsolutierung von Werten zur ‚religiösen Form‘ als solcher gehört. In seinen verschiedenen Beiträgen zur Soziologie der Religion unterscheidet Georg Simmel zwischen der Religion als ausdifferenziertem sozialen Gebilde mit je eigenen Inhalten und Institutionen und der Religiosität als kategorialer Bewußtseinsform, die prinzipiell jeden Inhalt aufzunehmen vermag. Religiosität – „ein an sich gegenstandsloser Zustand oder Rhythmus der Innerlichkeit“ (Simmel, GSG 10, 69) – bestimme sich durch die Tendenz, Gefühle und Impulse, die schon das soziale Leben entwickelt, zur Einheit zusammenzuschließen und ins Absolute zu steigern (ebd., 54); nicht notwendig und ausschließlich ins Transzendente hinein, aber doch so weit, daß eine gewisse Hierarchie der Werte und damit eine Ordnung entsteht. „Wo die Ideale und Forderungen der Religion nicht nur mit Trieben niederer Art, sondern auch mit Normen und Werten geistigen und sittlichen Wesens in Widerspruch geraten, da ist der Ausweg aus solchen Verschiebungen und Verwirrungen oft nur so gefunden worden, daß jene ersteren Ansprüche ihre relative Rolle immer weiter und bis zu einer absoluten steigerten; erst indem die Religion den entscheidenden Grundton für das Leben gab, gewannen dessen einzelne Elemente wieder das rechte Verhältnis zueinander oder zum Ganzen“ (ebd., 41).
Nimmt man Simmels Einsicht ernst, daß es in der Eigenart des religiösen Lebens liegt, „sich in der Form des Absoluten zu objektivieren“ (ebd., 112), dann verbietet es sich, das Wesensmerkmal des Fundamentalismus im Wertabsolutismus zu sehen. Gewiß ist es richtig, daß der Begriff nur dann präzise Konturen behält, wenn man ihn für religiöse oder wenigstens religionsartige Phänomene reserviert, für das Bestreben, das Religiöse in der Gesellschaft zu verteidigen und zu restaurieren (Marty/Scott Appleby 1996, 24). Soll jedoch nicht jede Religion schon als solche fundamentalistisch sein, ist es unumgänglich, eine spezifische Differenz auszumachen, die die fundamentalistische Art der Religiosität von der nichtfundamentalistischen unterscheidet.
Der überzeugendste Vorschlag hierzu kommt von der an Max Weber orientierten Religionssoziologie. Nach Martin Riesebrodt handelt es sich beim Fundamentalismus um ein vor allem in Heilsund Erlösungsreligionen vorkommendes Phänomen, das immer dann entsteht, wenn die überlieferte, religiös verbürgte Ordnung bedroht wird: wobei diese Bedrohung nicht unbedingt in der Form provokativer Abwertungen traditioneller Werte auftreten muß, vielmehr schon dadurch gegeben ist, daß durch die Prozesse der Rationalisierung und funktionalen Differenzierung das religiöse Weltbild in Frage gestellt, die religiös verankerte Moral relativiert und die Religion insgesamt aus der Öffentlichkeit verdrängt und privatisiert wird. In einer solchen Lage ist es wahrscheinlich, daß es zu einer „Reinterpretation der religiösen Tradition“ kommt, die diese einseitig auf eine „weltablehnende Haltung“ festlegt (Riesebrodt 1990, 2, 11, 20 f., 27).
Man mag dieser Sichtweise entgegenhalten, daß Weltablehnung, auch und gerade bei Max Weber, ein typisches Merkmal aller Erlösungsreligionen sei, so daß Fundamentalismus wiederum nur ein anderes Wort für eine religiöse Grundeinstellung wäre. Und bis zu einem gewissen Grad ist dies auch zutreffend: das frühe Christentum und der frühe Buddhismus sind in der Tat Religionen, die sich in ihrer negativen Haltung zur Welt schwerlich überbieten lassen. Dennoch hat es Max Weber aus guten Gründen vermieden, in der Weltablehnung das Wesensmerkmal der Erlösungsreligionen zu sehen. Er hat statt dessen wesentlich vager von ‚Spannung gegen die Welt‘ gesprochen und darauf bestanden, daß diese Spannung ein ganzes Spektrum von möglichen Weltverhältnissen zuläßt, je nachdem, wie groß der Anteil des Ritualismus, der intellektuellen Systematisierung und der gesinnungsethischen Verinnerlichung ist, wie stark die charismatischen Einschläge oder die Ansätze zu einer ‚organischen‘ Ethik sind (Weber 1976, 348 f., 709, 360; ders. 1972, 551). Wenn aber Erlösungsreligionen nicht eindeutig und pauschal als weltablehnend charakterisiert werden können, vielmehr stets durch eine komplexe Gemengelage weltverneinender und weltbejahender Tendenzen gekennzeichnet sind (Kippenberg 1991, 440 ff.), dann ist es durchaus ein Gewinn an definitorischer Präzision, die Verengung auf Weltablehnung mit einem speziellen Terminus zu belegen – eben dem des Fundamentalismus. Womit zugleich angedeutet ist, daß Fundamentalismus nicht bloß ein Phänomen der jüngsten Gegenwart ist, sondern eine religionsgeschichtliche Erscheinung, mit der immer dann zu rechnen ist, wenn die ‚Depotenzierung der Religion‘ (Tyrell 1993) durch kognitive Rationalisierung und strukturelle Pluralisierung eine bestimmte Schwelle überschreitet.
II.
Mit diesem begrifflichen Rüstzeug läßt sich der Fundamentalismus sans phrase erfassen, und damit auch: der Fundamentalismus in der Moderne: jener mobilisierte und radikalisierte Traditionalismus, der die Religion aus dem Zustand der Depotenzierung herauszuführen und ihr den ursprünglichen Rang wiederzugeben bestrebt ist – durch Depotenzierung und virtuell Eliminierung aller nichtreligiösen, ‚profanen‘ Orientierungen und Institutionen. Martin Riesebrodt hat dies in seiner vergleichenden Studie über den fundamentalistischen Protestantismus in den USA und die iranische Schia eindrucksvoll demonstriert. Was aber ist demgegenüber unter modernem Fundamentalismus zu verstehen?
Doch wohl zunächst und vor allem dies: eine Erscheinung, die den Grundtatbeständen der Moderne Rechnung trägt. Die beiden wichtigsten sind, nach dem Befund der modernen Soziologie, die funktionale Differenzierung, in deren Gefolge die Religion aus dem Rang einer führenden Lebensmacht zu einer Lebensordnung neben anderen herabsinkt (der Politik, der Wirtschaft, der Kunst etc.), und die Umstrukturierung der so entstandenen Handlungsfelder nach den Maßgaben formaler Rationalität, die durchweg ohne den Bezug auf religiöse Transzendenz auskommen. Moderner Fundamentalismus im Unterschied zum genuinen, religiösen Fundamentalismus müßte eine Erscheinung sein, die zwar auf Erwartungs- und Handlungsmustern aufruht, wie wir sie aus der religiösen Lebensordnung kennen, gleichwohl an andere Handlungsfelder als das religiöse anknüpft und mit rein innerweltlichen Maßstäben operiert.
Wichtige Hinweise in dieser Richtung lassen sich wiederum der Soziologie Max Webers entnehmen. Ihr zufolge kann sich mit zunehmender Disprivilegierung der Religion das von ihr monopolisierte Erlösungswissen verselbständigen und auf andere Handlungsfelder verlagern, die den Sinnbedarf mit rein innerweltlichen Mitteln befriedigen (vgl. Weber 1976, 299). Von Fundamentalismus allerdings sollte man in diesem Fall erst dann sprechen, wenn auch das zweite Begriffsmerkmal – die Weltablehnung – in wie immer gearteter Form noch gegeben ist. Innerweltliche Erlösungskonzepte, die sich an eine ideologische Verklärung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts heften, fallen nicht in diese Kategorie, weil sie die Welt nicht ablehnen, sondern lediglich verbessern wollen, wie dies etwa (aber keineswegs allein) für die „sozialistische Eschatologie“ mit ihrer „fast superstitiösen Verklärung der ‚Wissenschaft‘ als möglicher Produzentin oder doch als Prophetin der sozialen gewaltsamen oder friedlichen Revolution im Sinn der Erlösung von der Klassenherrschaft“ gilt (ebd., 313).
Eine Kombination von Erlösung und Weltablehnung ist dagegen erkennbar bei jenen „innerweltlichen Mächten des Lebens, deren Wesen von Grund aus arationalen oder antirationalen Charakters ist“, vor allem der Kunst und der Erotik. Von der ausdifferenzierten, d.h. zu einem „Kosmos immer bewußter erfaßter selbständiger Eigenwerte“ gestalteten Kunst meint Weber, sie könne „die Funktion einer, gleichviel wie gedeuteten, innerweltlichen Erlösung vom Alltag und, vor allem, auch von dem zunehmenden Druck des theoretischen und praktischen Rationalismus“ übernehmen und dadurch „in direkte Konkurrenz zur Erlösungsreligion“ treten. In gleicher Weise könne die geschlechtliche Liebe „als eine Pforte zum irrationalsten und dabei realsten Lebenskern gegenüber den Mechanismen der Rationalisierung“ aufgefaßt und hierdurch zum Medium einer „innerweltlichen Erlösung vom Rationalen“ werden (Weber 1972, 554 ff.).
Es hieße diese Überlegungen allzu wörtlich nehmen, wollte man sie zu der Behauptung zuspitzen, Kunst und Erotik seien in der Moderne nur a- oder antirational. In seiner Musiksoziologie etwa oder in der Vorbemerkung zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie stellt Weber ganz im Gegenteil den hohen Rationalitätsgehalt der harmonischen Musik und anderer Eigentümlichkeiten der okzidentalen Kunst heraus (ebd., 2 f.). Gemeint ist nicht so sehr ein Wesenszug als ein Potential: Kunst und Erotik können zu Gegeninstanzen gegen die rationalen Ordnungen werden, sie können das Erbe der religiösen Erlösungsethik übernehmen und zu Trägern einer „antipolitischen“, „antiökonomischen“ oder auch „antiszientifischen“ Weltablehnung werden. Und nicht nur sie allein: hinzufügen kann man auch jene Ethiken, die sich von der Religion abgekoppelt haben und den Protest gegen die versachlichten Ordnungen von der Position einer rein innerweltlich begründeten Moral aus formulieren.
Von innerweltlicher Weltablehnung zu reden, ist freilich paradox. Da, wer sich auf Kunst, Erotik oder Moral beruft, zumindest diese Sphären bejahen muß, kann von genereller Weltablehnung nicht die Rede sein. Die Negation gilt denn auch zumeist, anders als bei der Erlösungsreligion, weniger der Welt als solcher als einem bestimmten Zustand derselben, der Form, die sie durch funktionale Differenzierung und formale Rationalisierung angenommen hat. Heinrich Heines Wort über Goethe als das „Genie der Zeitablehnung“ gibt hierfür die angemessene Bezeichnung: Weltablehnung ist im modernen Fundamentalismus zur Zeitablehnung geworden. Moderne Fundamentalisten wollen nicht, wie religiöse Fundamentalisten, aus der Welt heraus, in die unvordenkliche Gnade Gottes oder das Nirwana. Sie wollen aber in der Zeit zurück, in jenes Stadium, in dem es noch all das gibt, was sich in der Moderne zusehends verflüchtigt: Einheit, Ganzheit, Sinn, in dem die sozialen Beziehungen noch primär persönliche Beziehungen sind und nicht sachlich-rational3. Sie wollen dies entweder nur für den kleinen Kreis der Auserwählten, der Virtuosen, der perfecti, in welchem Fall man in Analogie zur religiösen Weltflucht von Zeitflucht sprechen kann; oder für die Gesamtgesellschaft, die von den Leiden erzeugenden Strukturen befreit und gleichsam kollektiv auf den Stand der Virtuosen angehoben werden soll. Und sie wollen dies in Anlehnung an jene innerweltlichen Mächte, die dies in großer Intensität versprechen: die Kunst, die Erotik, die Moral, die je auf ihre Weise in Kontrast zu den unpersönlich-sachlichen und zugleich die Einheit des Individuums zerreißenden Lebensordnungen der Moderne stehen. Entsprechend präsentiert sich der moderne Fundamentalismus als ästhetischer, erotischer oder moralischer Fundamentalismus.
III.
Moderne Fundamentalismen lassen sich nach den Mächten differenzieren, von denen sie Erlösung erwarten. Sie können aber auch danach unterschieden werden, wie sie das Verhältnis der jeweils geforderten Handlungen zu diesen Mächten bestimmen. Nach der Religionssoziologie Max Webers ist dies grundsätzlich nur auf zwei Wegen möglich, die sich allerdings noch einmal verästeln. Die Erlösung kann entweder allein durch Eigenaktivität, ohne alle Beihilfe überirdischer Mächte angestrebt werden (Selbsterlösung); oder sie kann den zu Erlösenden von seiten eines begnadeten Heros oder eines inkarnierten Gottes zuteil werden (Fremderlösung). Als mögliche Eigenaktivitäten kommen in Frage: rituelle Handlungen, soziale Leistungen und Heilsvergewisserung qua Selbstvervollkommnung. Der zuletzt genannte Weg, bei dem das Heil zunächst über Ekstase angestrebt wird, wird von Weber am ausführlichsten behandelt. Hat die Ekstase den Charakter einer akuten Entrücktheit, dann manifestiert sie sich in Erscheinungen wie Orgie, Rausch, Euphorie. Hat sie den Charakter eines chronischen Habitus, dann tendiert sie zur Selbstvergottung. Ist der Platz Gottes jedoch bereits durch einen überweltlichen allmächtigen Gott besetzt, so ergeben sich zwei Möglichkeiten als Substitute:
Zum einen ein Selbstverständnis, bei dem sich der Handelnde als ‚Gefäß‘ Gottes auffaßt – der Fall der Kontemplation oder der Mystik. Zum andern ein Selbstverständnis als ‚Werkzeug‘ Gottes – der Fall der Askese. Von dieser heißt es weiter, sie könne in Gestalt eines förmlichen Ausscheidens aus der Welt auftreten und sei dann ‚weltablehnende Askese‘. Sie könne aber auch die Bewährung innerhalb der Welt verlangen und sei dann ‚innerweltliche Askese‘. Dieselbe doppelte Erscheinungsform muß nach Weber der Mystik zugesprochen werden. Schlägt die Gottinnigkeit des Mystikers um in Gottbesessenheit, so kann sich dies als Mystagogentum oder revolutionäre Chiliastik äußern. Auch bei der innerweltlichen Askese ist eine revolutionäre (oder auch nur: reformistische) Wendung möglich, neben der sonst anzutreffenden Bewährung innerhalb der gegebenen Ordnungen der Welt (Weber 1976, 321 ff.).
Der Weg der Fremderlösung kennt drei Möglichkeiten. Die Gnadengüter können, erstens, auf magisch-ritualistischem Wege angeeignet werden, wobei als Träger der charismatischen Gnadenspendung Mystagogen oder Priester fungieren. Sie können, zweitens, über das Medium der Glaubensreligiosität angeeignet werden, die entweder die Form einer Heilsaristokratie der intellektuell Wissenden oder die einer vornehmlich auf Vertrauen gestützten Massenreligiosität annehmen kann. Als dritte Möglichkeit nennt Weber den Prädestinationsglauben, bei dem die Erlösung als grundloses, freies Gnadengeschenk eines nicht zu beeinflussenden Gottes gedacht wird (Weber 1976, 337 ff.).
Nicht alle dieser Erlösungswege kommen für den modernen Fundamentalismus in Betracht. Der Prädestinationsglaube ist an die Bedingung eines transzendenten und personalen Gottes gebunden und dadurch unvereinbar mit einer rein innerweltlich gedachten Erlösung; dasselbe gilt für viele Formen der Glaubensreligiosität, der Mystik und der Askese. Immerhin ist der Begriff der Glaubensreligiosität so weit, daß er auch Erscheinungen einschließt, die nicht auf die Annahme eines überweltlichen Gottes gegründet sind, wie etwa verschiedene metaphysische Systeme rein philosophischer Art (ebd., 340 f.). Und was die Mystik betrifft, so hat Ernst Troeltsch gezeigt, daß sie ebenfalls nicht notwendig theistisch sein muß, vielmehr auch im Rahmen eines kosmozentrisch-immanenzbezogenen, unter Umständen sogar pantheistischen Weltbildes auftreten kann. In diesem Fall erfahren dann freilich auch die Grundhaltungen der Weltflucht oder Weltindifferenz eine Modifikation. Denkbar sind hier ebensowohl fundamentalistische Wendungen, die sich aus der „Verwachsung der vollendeten religiösen Innerlichkeit und Individualität mit der ästhetischen Individualitätsidee“ speisen, als auch das genaue Gegenteil eines weltverklärenden, spiritualisierten Evolutionismus, wie er sich etwa in der panpsychistischen Naturphilosophie des 19. Jahrhunderts und ihren diversen künstlerischen Ausdrucksformen artikuliert hat. Die „heimliche Religion der Gebildeten“, als die Troeltsch die in romantische Religiosität transformierte Mystik bezeichnet hat, kann also sowohl zeitablehnende als auch zeitbejahende Formen annehmen4.
In dieser abgewandelten Form ist die Webersche Typologie durchaus von Relevanz für die Benennung wichtiger Differenzierungen innerhalb des modernen Fundamentalismus. Der moralische Fundamentalismus setzt eine Herauslösung der Moral aus dem traditionellen Bündnis mit Religion voraus, in deren Gefolge die moralische Kommunikation unabhängig wird von religiös begründeten Normen und Verhaltenserwartungen, damit aber auch von allen Instanzen, die Fremderlösung bewirken könnten. Es geht in der Moral nur noch um Interaktionen, bei denen sich die Individuen „als unterscheidbare Personen behandeln und ihre Reaktionen aufeinander von einem Urteil über die Person statt über die Situation abhängig machen“ (Luhmann 1997, 244). Die Instrumentalisierung solcher moralisch koordinierter Interaktionsformen für soteriologische Zwecke kann in einer mehr offensiven, auf das gesellschaftliche Ganze gerichteten Weise erfolgen, oder in einer mehr defensiven, auf das Individuum und seinen Nahbereich beschränkten Weise. Das erstere ist im Rousseauismus der Fall, der die Folgeprobleme der Modernisierung sowohl mithilfe einer elargierten Mitleids- und Brüderlichkeitsmoral (also auf dem Erlösungsweg der sozialen Leistungen) als auch im Wege der Selbstvervollkommnung zu bewältigen versucht; das letztere bei Schopenhauer, der eine Form der innerweltlichen Mystik bevorzugt. Auch an Ansätzen zur Verbindung dieser beiden entgegengesetzten Einstellungen hat es nicht gefehlt, wie man am Beispiel Tolstois studieren könnte, bei dem die innerweltliche Mystik in eine rousseauistische Attacke gegen Arbeitsteilung, Technik, Wissenschaft, Staat und Wirtschaft umschlägt (Hanke 1993).
Für die Erotik ist nach Weber speziell „auf dem Boden intellektualistischer Kulturen“ ein dem mystischen ‚Haben‘ gleichartiger Erlebnismodus charakteristisch, der sich als Sprengung der Individuation, als volle Einswerdung der Liebenden unter Aufgabe ihrer Differenz artikuliert (Weber 1972, 560). Eine fundamentalistische Wendung in Richtung der revolutionären Chiliastik ist bei Herbert Marcuse zu erkennen; eine andere Variante, die mehr an den Erlösungsweg der Selbstvervollkommnung anknüpft, bei Otto Gross. Die Affinität, in der die Mystik zur Glaubensreligiosität steht, hat aber auch einen Umschlag in die Fremderlösung möglich gemacht, wie er am Beispiel von Ludwig Klages studiert werden kann.
Für die ästhetische Sphäre nimmt Weber ein besonders starkes Spannungsverhältnis zur Mystik an, die in ihrem innersten Wesen formfeindlich sei (Weber 1972, 556). Dieser Befund steht indes nicht nur zu seinen eigenen Aussagen, etwa über Rilke, in Widerspruch, sondern auch zu anderen Untersuchungen, die gerade die Analogie von ästhetischer und mystischer Erfahrung betonen (Margreiter 1997, 30 f.). In der Musik ist das herausragende Beispiel, mit dem wir uns hier begnügen müssen, Richard Wagner, der seinen Kompositionen die Kraft zuschrieb, die Erscheinungen der Zivilisation aufzuheben wie das Tageslicht den Lampenschein. In der Literatur käme tatsächlich vor allem Rilke in Frage, dessen späte Dichtungen Affinitäten zur Mystik aufweisen, sich von der christlichen Gestalt derselben allerdings durch das Eingeschlossensein in einer Immanenz unterscheiden (Kunisch 1979). Eher ungewöhnlich und deshalb in dieser Form wohl auch singulär ist die Akzentuierung der Fremderlösung, wie sie der George-Kreis zelebriert hat, der sich um die vom Gründer entworfene Figur eines ‚plastischen Gottes‘, des früh verstorbenen Knaben Maximin, organisierte und die charismatische Gnadenergießung u.a. im liturgisch-psalmodierenden Lesen von Gedichten erfuhr.