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Violet - Die 7. Prophezeiung - Buch 1

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Kapitel 8

Den ledernen Ohrensessel habe ich an die große Glasfront geschoben. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne krallen sich an der Skyline von Zone eins fest, doch schließlich zieht der Sog der bevorstehenden Nacht auch sie hinfort.

Zurück bleibt der atemberaubende Ausblick auf das Lichtermeer der unter mir liegenden City. Das künstliche Licht macht auf seine Art die Nacht zum Tag. Es wird mich diese Nacht nicht alleine lassen. In dieser Nacht, in der ich nicht vorhabe, eine Sekunde zu schlafen.

Ich nehme mir das oberste Buch vom Stapel.

„Kampf um New York.“

Ich habe den Wälzer einmal gelesen, vor zwei Jahren. Der Inhalt ist mir noch einigermaßen gegenwärtig. New York war eine der Städte, in der alles begann. Die Bestien haben sie überrannt und innerhalb weniger Tage eingenommen. In diesem Buch wird auf mehr als dreihundert Seiten in allen Einzelheiten beschrieben, wie grausam und unbarmherzig sie dabei vorgegangen sind. Straße für Straße, Häuserblock für Häuserblock, bis sie alle Menschen getötet hatten. Alle Menschen?

Natürlich nicht! Nicht alle, nur die jungen und die, die wie ich sind. Die Sehenden.

Die Nunbones hatten keine Ahnung, warum so viele Kinder und Jugendliche an Herzversagen sterben konnten. Sie hatten es auf irgendeinen Virus geschoben. Aber es war kein Virus. Es waren die Bestien. Die Bestien, die für alle Nunbones unsichtbar sind, genauso wie die Wunden, die sie hinterlassen, unsichtbar sind.

Ich lese nur die ersten beiden Kapitel komplett durch und dann konzentriere ich mich auf Abschnitte, in denen beschrieben wird, was der Unterschied zwischen den Nunbones und uns ist. Denn das war der Anfang.

Es gab Menschen denen bewusst wurde, dass sie anders waren, weil sie wussten, dass es kein Virus war. Weil sie die Bestien sehen konnten. Und die Bestien hatten ihre Vorlieben. Sie pickten die Sehenden aus der Menge der Menschen, wie Tauben, die das beste Korn unter tausenden aufpicken und runterschlucken.

In den ersten beiden Kapiteln wird beschrieben, wie sie uns aufspüren und erledigen. Wie schrecklich muss das gewesen sein. Kinder und Jugendliche wurden getötet. Niemand von ihnen war älter als 18. Als sie die Bestien kommen sahen, hatten manche nicht einmal mehr die Zeit zu schreien. Alle tot, das Leben ausgesaugt, vor 47 Jahren, als alles begann.

Ich schlage das Buch zu und hebe meinen Kopf, schaue auf die Skyline von New York, auf Zone 1. Die sichere Zone. Wie viele gibt es dort unten, die so sind wie ich, Asha und die anderen. Sie wissen von allem nichts, haben nie so ein Buch gelesen. Manche von ihnen verlassen diese Zone ein ganzes Leben nicht. Gut so. Andere schon. Betritt jemand Zone vier oder sogar fünf, dann kann er sie sehen. Vorher wäre es schon ein totaler Zufall.

Ich erinnere mich daran, als ich zum ersten Mal eine Bestie gesehen habe. Es war auf der Schultoilette. Heute weiß ich, dass es kein Zufall war, die Bestien riechen uns über sehr große Entfernungen.

Riechen?

Ich mache mir eine Notiz auf meinem Flexscreen, unter der Überschrift: Themen, die ich noch nachlesen muss. Ich schreibe: Können Bestien riechen? Ich weiß, sie riechen nicht. Aber es funktioniert so ähnlich. So ähnlich, wie bei einem Haifisch, der über hunderte Meter Blut im Meer wittern kann und so seine Beute aufspürt.

Blut!?

Meine Erinnerung setzt sich wieder fort. Ich stehe wieder vor dem Spiegel, in der Mädchentoilette. Ich habe keine Erinnerungen, wie ich dorthin gelangt bin. Es kommt mir heute so vor, als hätte mich dort jemand von einer auf die andere Sekunde ausgesetzt. Ohne jegliche Vergangenheit.

Ich war die Beute und wusch mir gerade die Hände, als ich die Kälte spüren konnte, die den Raum plötzlich überschwemmte, als ob jemand eine gewaltige Klimaanlage eingeschaltet hätte. Und dann sah ich sie. Wie ein Bluthund, nur viermal größer. Nackt, kein Fell. Anstatt Ohren sah ich nur dunkle schmierige Öffnungen in ihrem Schädel. Ihre gelben ekelhaften Augen gierten nach mir und sie fletschte ihre Zähne und dann vergrub sie die Zähne in meinen Rücken. Ich stand da und sah mir selbst beim Sterben zu.

Für den Bruchteil einer Sekunde bewegte sich niemand. Und im nächsten Augenblick alle außer mir. Zwei Jungs standen plötzlich in der Damentoilette. Teenager.

Der eine hatte blonde, kurz geschorene Haare, grüne Augen und eine riesenhafte Armbrust in der Hand, aus der er im nächsten Moment drei Bolzen abfeuerte, direkt in das Genick der Bestie. Der andere hatte braune Haare, die wild unter einer Baseballmütze hervorlugten. Er hatte einen riesigen Dolch in der Hand und trieb ihn der Bestie in die Seite. Überall sah ich das Blut der Bestie, es verteilte sich in der ganzen Toilette, mischte sich mit meinem eigenen Blut. Die Bestie verschwand, war nicht mehr zu sehen und dann verließ mich mein Bewusstsein. An mehr kann ich mich nicht mehr erinnern.

Ein Polizeihelikopter trägt mich zurück in die Gegenwart. Er fliegt keine hundert Meter vor dem Fenster vorbei. Seine Suchschweinwerfer strahlen in die Häuserschluchten unter ihm. Fliegen sollte man können, dann wäre man vor den Bestien sicher. Ich lege den Kampf um New York zur Seite und fasse den Inhalt in meinen Gedanken zusammen: Niemand hat je eine fliegende Bestien gesehen. Sie riechen uns wie Haifische das Blut. Sie töten die jungen Menschen und sie töten uns, die Sehenden. Nunbones können die Bestien nicht sehen, nicht hören oder sonst irgendwie wahrnehmen. Moment. Manche Nunbones können die Kälte spüren, korrigiere ich mich. Die Körper der Bestien verschwinden spurlos, wenn sie getötet werden. Niemand kennt dafür eine Erklärung.

Das Buch endet mit der Gründung des ersten Widerstands und der Manifestierung der Sieben Gebote. Ich gehe meinen Bücherstapel durch und ziehe „Der Widerstand“ heraus.

Der Widerstand?

Ich zähle dazu, bin eine der Widerstandskämpferinnen, seit dem Tag in der Mädchentoilette, vor fünf Jahren. Mir wurde das Leben gerettet, aber alles andere wurde mir genommen. Ich erinnere mich nicht an mein Zuhause, meine Familie, meine Eltern, Freunde. Ich gehörte seit jenem Tag zum Widerstand und das Erste, das mir der Widerstand genommen hat, war meine Vergangenheit.

Das, was ich bekam, war eine Zukunft, in der ich hunderten von Tests unterzogen wurde und hunderte von Trainings absolvieren musste, bis ich eine voll ausgebildete Nahkämpferin war und meinem Team hier in Zone eins zugeteilt werden konnte.

Zwei Jahre Ausbildung und 3 Jahre Team Sektion 13, wie ich es nenne. Das ist es, an was ich mich erinnern kann. Das ist meine Vergangenheit. Aber ich will mich nicht beklagen. Ich lebe und ich lebe für eine gute Sache.

Wären damals in der Mädchentoilette die zwei Typen nicht aufgetaucht, wäre ich jetzt tot. Ich bin jetzt eine von ihnen. Und jede Bestie, die ich erledige, kann kein kleines Mädchen aufspüren und es kaltblütig umbringen. Ja, der Widerstand und die Sieben Gebote machen Sinn, denke ich und lege das Buch zur Seite, ohne es ein einziges Mal aufgeschlagen zu haben. Vielleicht brauche ich gar nicht alles zu lesen.

Vielleicht reicht es aus, mich nur genau an alle Einzelheiten zu erinnern. An alles, das ich erlebt habe, um die Prüfungen doch bestehen zu können. Aber ich bin schon müde und meine Gedanken sind nicht mehr klar und strukturiert, sondern schwer wie Blei. Das Schmerzmittel, das mir Asha verschrieben hat, macht es auch nicht einfacher und ich beschließe, mir ein Nickerchen zu gönnen, bevor ich mir das nächste Buch vornehme. „Neue Bestienerscheinungen und ihre Verhaltensweisen.“

Kapitel 9

Als ich meine Augen wieder öffne, stelle ich fest, dass es noch Nacht ist. Gut, ich habe nicht zu lange geschlafen. Ein Blick auf die Uhr verrät mir die Zeit. Drei Uhr morgens. Die Lichter unter mir in Zone eins sind weniger geworden. Auch die Nunbones gehen irgendwann zu Bett, denke ich. Die „Neuen Bestienerscheinungen und ihre Verhaltensweisen“ muss mir vom Schoß gefallen sein.

Bin ich so schnell eingeschlafen, dass ich nicht einmal mehr die Zeit gefunden habe, es wegzulegen?

Ich hebe es hoch, es ist aufgeschlagen und ich betrachte die Bestie, die mich aus dem Buch heraus anschaut. Die Zeichnung ist wirklich sehr gut gelungen, als wäre die Bestie echt und nicht nur Farbe auf Papier. So eine Bestie habe ich noch nie gesehen. Der blaue schimmernde Panzer, große fast schwarze Augen und die Form eines Teddybären erinnern mich mehr an ein Plüschtier für Kinder, als an ein gefährliches Monster.

Ich blättere die Seite um, weil ich den Text über diese neue Bestienform lesen möchte. Plötzlich halte ich die Seite in meiner Hand. Ein loses Blatt Papier? Wer hat es da hinein getan? Ist das überhaupt eine neue Bestie? Ich nehme das Blatt heraus, lege es zur Seite, blättere weiter und finde nur ein Foto einer weiteren angeblich neu, entdeckten Bestie. Ich blättere zwei Seiten vor. Auch nur wieder ein Bild? Wie soll ich denn nur mit Bildern etwas über die Bestien erfahren? Ich nehme das Blatt zurück in meine Hand, studiere wieder die blaue Teddybärenbestie. Fast schon unschuldig schaut sie mich an. Was der Grafiker wohl damit bezwecken wollte, sie so süß zu gestalten? Gouch hat mir einmal so ein Grafikprogramm gezeigt. Die Möglichkeiten sind verblüffend. Innerhalb weniger Minuten hat er ein Bild von mir und Asha so verändert, dass es aussah, als kämpften wir beide, anstatt nur ich allein.

Ich weiß intuitiv, dass mit dem Bild etwas nicht stimmt, aber verflucht noch einmal, ich kann nicht sagen, was es ist. Wieder sehe ich mir jede Einzelheit an.

Ich habe noch nie so eine Bestie gesehen und doch hat sie etwas Vertrautes. Vielleicht saß früher genauso ein Teddybär auf meinem Bett. Damals, als ich noch klein war, als ich noch Eltern und ein echtes Zuhause hatte, als ich noch nichts von den Sieben Geboten wusste.

 

Ja, das kann es tatsächlich sein. Der Augenblick macht mir bewusst, dass mit mir etwas nicht stimmt. Es ist nicht richtig, dass ich mich nicht an meine Eltern, an mein früheres Leben erinnern darf.

Ich lege das einzelne Blatt und das ganze Buch vor mir auf den Boden, schaue aus dem Fenster. Irgendwo da draußen sind sie, meine Eltern. Irgendwo da unten in Sektor 13 vermissen sie seit fünf Jahren ihre Tochter. Vermissen mich. Ich vermisse sie auch, meinen Vater, meine Mutter.

Ich verstoße gegen das 4. Gebot und es ist mir egal. Niemand kann mich sehen, meine Tränen, meine Wünsche. Niemand kann meine Gedanken hören. Sieht meine Mutter aus wie ich? Sehe ich ihr ähnlich? Habe ich die Beine meines Vaters? Nein, bestimmt nicht, kichere ich, wische mir die Tränen aus den Augen und greife mir das nächste Buch vom Stapel.

„Die Geschichte der Gesandten!“

Das ist kein Zufall! Wer sind sie, wer gibt ihnen das Recht, diese Gebote aufzustellen, so über uns zu befehlen? Ich erinnere mich an die Gesandten, die ich kenne, die kommen, um unsere Fähigkeiten zu überprüfen. Sie waren eigentlich immer ganz in Ordnung, passen gar nicht zu den Geboten und den schrecklichen Konsequenzen, die sie einfordern würden, falls einer von uns versagen würde.

Oh Gott, manche sind mir sogar irgendwie sympathisch. Und doch muss ich sie dafür hassen, was sie von uns verlangen, und dafür, was sie uns allen genommen haben.

Unsere Vergangenheit.

Und dafür, was sie uns nicht geben können. Eine Zukunft, für die es sich lohnt, all die täglichen Gefahren und Ängste auf sich zu nehmen. Ängste? Du sollst keine Schwäche zeigen. 7. Gebot. Wer sind die Gesandten wirklich? Steht es vielleicht in diesem Buch? Irgendwo verborgen auf den über 700 Seiten? Wohl kaum, sonst würden sie es uns bestimmt nicht zum Lesen geben.

Was habe ich also zu erwarten, wenn ich es lesen würde? Ich denke nur Lügen. Lügen, damit wir gehorchen.

Ich lege das Buch auf die Seite, ohne es auch nur einmal aufgeschlagen zu haben. Wenn ich so weiter mache, dann bin ich heute Nacht mit allem, was ich lernen wollte, durch. Nicht schlecht für eine lernfaule und begriffsstutzige junge Frau, wie ich eine bin.

Rebellisch schaue ich auf den nächsten Einband. Ein kleines Buch, weiß wie Schnee, und in der Mitte prangt ein goldener Stern. Darüber steht in goldenen Lettern:

„Das Ende!“

Was ist denn das? Das Buch habe ich gar nicht ausgewählt. Gehört das überhaupt zum Lernstoff für die Prüfungen? Vielleicht hat es Jesse drunter geschmuggelt. Falls dem so ist, gehört es zum Stoff und dann sollte ich es mir zumindest einmal anschauen.

Ich nehme es hoch. Das weiße Leder fühlt sich angenehm an. Es liegt in meiner Hand wie ein kleines Gebet, das darauf wartet, ausgesprochen zu werden. Ich habe das Buch noch nie in unserer Bibliothek gesehen. Na ja, das ist eigentlich nicht sonderbar. Ich halte mich hier wirklich nicht besonders oft auf, da kann es schon mal sein, dass ich nicht alle Bücher kenne. Ich muss über meinen eigenen Humor kichern. Trotzdem, wo kommt es her, das kleine weiße Ding?

Ich versuche seine Geheimnisse zu entlocken, so wie ich es schon mit „Dem Kampf um New York“, „Dem Widerstand“ und „Der Geschichte der Gesandten“ getan habe. Aber so sehr ich auch will, mir fällt nichts Brauchbares dazu ein.

„Das Ende!“

Von was denn? Ich muss schon zugeben, du machst mich neugierig. Jetzt rede ich schon mit Büchern. Himmel, vielleicht sollte ich doch besser ins Bett gehen und eine Runde schlafen. Morgen hat Flavius seine Prüfung. Er würde sich bestimmt freuen, wenn ich ihm zuschauen würde. Zuschaue, wie er die Aufgaben problemlos meistert und erst Trish und dann mir ein Lächeln zuwirft.

Ja, das werde ich machen. Ich werde ihm zuschauen, werde bald ins Bett gehen, habe heute Nacht eh schon viel gelernt, wenn man das so nennen darf. Aber vorher schaue, schlage ich zumindest die Erste Seite auf.

Oder? Ich überlege.

Sollte ich in einem Buch, das den Titel „Das Ende“ trägt, zuerst mal nachsehen, was auf der letzten Seite steht? Schauen, wie das ganze endet und dann entscheiden, ob mich die erste Seite überhaupt noch interessiert. Ja, so mache ich es. Ich wende das Buch auf meinem Schoß, schaue die Rückseite an.

Mir stockt der Atem. Ich frage mich, ob man zugleich wach und doch ohnmächtig sein kann.