Der Hund der Baskervilles

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5. KAPITEL

Drei gerissene Fäden

Sherlock Holmes besaß in ungewöhnlichem Maß die Fähigkeit, seine Gedanken von momentanen Problemen ab- und auf andere Dinge hinzulenken. Während der nächsten zwei Stunden hatte er den geheimnisvollen Fall, in den wir verwickelt waren, scheinbar völlig vergessen. Er war in die Betrachtung von Gemälden der modernen belgischen Schule vertieft, und auch auf dem Weg von der Galerie zum Hotel sprach er ausschließlich über moderne Kunst, von der er die absurdesten Vorstellungen hatte.

»Sir Henry Baskerville erwartet Sie oben«, sagte der Concierge. »Er bat mich, Ihnen auszurichten, Sie möchten so-gleich heraufkommen.«

»Dürfte ich erst einen Blick in Ihr Fremdenbuch tun?« fragte Holmes.

»Selbstverständlich.«

Das Gästebuch wies unterhalb des Namens Baskerville nur zwei Eintragungen auf. Die eine lautete »Theophilus Johnson mit Familie, aus Newcastle«, die zweite »Mrs Oldmore mit Zofe, von High Lodge, Alton«.

»Das ist bestimmt der Mr Johnson, den ich von früher kenne«, sagte Holmes. »Ein Rechtsanwalt, nicht wahr? Grauhaarig und leicht hinkend?«

»Nein, Sir, Mr Johnson ist Besitzer eines Kohlebergwerks, ein sehr rüstiger Herr, und nicht älter als Sie.«

»Ich glaube doch, Sie irren sich bezüglich seines Berufes.«

»Bestimmt nicht, Sir, er logiert seit vielen Jahren hier, wir kennen ihn sehr gut.«

»Aha, dann war ich im Irrtum. Aber Mrs Oldmore – ich erinnere mich dunkel an diesen Namen. Entschuldigen Sie meine Neugier, aber es kommt ja oft vor, dass man einen Freund besucht und unverhofft einen anderen wiederfindet.«

»Sie ist eine kränkliche Dame, Sir. Ihr Gatte war früher Bürgermeister von Gloucester. Sie steigt regelmäßig bei uns ab, wenn sie in London ist.«

»Danke sehr. Ich glaube, ich habe nicht die Ehre ihrer Bekanntschaft. – Wir haben durch diese Fragen etwas sehr Wichtiges geklärt, Watson«, fuhr er mit leiser Stimme fort, während wir die Treppe hinaufstiegen. »Wir wissen jetzt, dass die Leute, die sich so auffällig für Sir Henry interessieren, nicht in diesem Hotel wohnen. Was wiederum bedeutet, dass sie sich allergrößte Mühe geben, ihn zu überwachen, ohne dass sie selbst bemerkt werden. Sehr vielsagend!«

»Was sagt uns das denn?«

»Es besagt – hallo, mein guter Mann, was um Himmels willen ist denn los?«

Auf dem oberen Treppenabsatz wären wir beinahe mit Sir Henry Baskerville zusammengestoßen. Sein Gesicht war zornig gerötet, und er hielt einen alten staubigen Schuh in der Hand. Er war so wütend, dass er kaum sprechen konnte, und als er endlich Worte fand, trat sein breiter amerikanischer Akzent viel deutlicher hervor als am Vormittag.

»Die wollen mich hier im Hotel wohl für dumm verkaufen!« rief er. »Aber sie werden schon merken, dass sie mit ihren dämlichen Späßen an den Falschen geraten sind. Sie sollen sich in Acht nehmen! Teufel nochmal, wenn der Kerl nicht sofort meinen Schuh wiederfindet, gibt es Ärger! Ich kann einen Spaß vertragen, Mr Holmes, aber das geht zu weit.«

»Sie suchen immer noch Ihren Schuh?«

»Ja, Sir, und ich werde ihn finden!«

»Aber Sie sagten doch, es sei ein neuer hellbrauner Stiefel.«

»War es auch. Und jetzt ist es ein alter schwarzer Schuh.«

»Was? Wollen Sie etwa sagen …«

»Jawohl, das will ich sagen. Ich habe drei Paar Schuhe – die neuen braunen, die alten schwarzen und die Lackschuhe hier, die ich anhabe. Gestern hat jemand einen brauen Stiefel geklaut, heute lassen sie einen schwarzen verschwinden. – Na, haben Sie ihn endlich? Raus mit der Sprache, Mann, glotzen Sie mich nicht so blöd an!«

Ein aufgelöster deutscher Hausdiener war am Schauplatz erschienen.

»Leider nicht, Sir. Ich habe überall im Hotel gefragt, aber niemand weiß etwas.«

»Also, entweder der Schuh ist bis heute Abend wieder hier, oder ich beschwere mich beim Direktor und verlasse umgehend dieses Haus!«

»Der Schuh wird sich einfinden, Sir, das versichere ich Ihnen, bitte haben Sie noch ein wenig Geduld.«

»Strengen Sie sich gefälligst an, Mann. Das ist das letzte Mal, dass mir in dieser Räuberhöhle etwas abhanden kommt. Entschuldigen Sie, Mr Holmes, dass ich mich über eine Kleinigkeit so aufrege.«

»Ich glaube, die Sache ist eine gewisse Aufregung wert.«

»Wieso? Sie machen ja plötzlich ein ganz ernstes Gesicht.«

»Wie erklären Sie sich selbst diese Vorfälle?«

»Ich versuche gar nicht erst, sie zu erklären. Es ist das dämlichste, verrückteste Ding, das mir je vorgekommen ist.«

»Verrückt, ja, vielleicht«, sagte Holmes nachdenklich.

»Und was halten Sie davon?«

»Nun – ich will nicht vorgeben, dass ich viel Licht in dieser Angelegenheit sehe. Ihr Fall ist sehr komplex, Sir Henry, vor allem, wenn man ihn in Verbindung mit dem Tod Ihres Onkels betrachtet. Ich glaube nicht, dass unter den fünfhundert größeren Fällen, mit denen ich bisher zu tun hatte, einer von solcher Abgründigkeit war. Aber wir haben mehrere Fäden in der Hand, und die Chancen stehen gut, dass einer davon zur Lösung des Rätsels führt. Vielleicht werden wir etwas Zeit verlieren, indem wir einem falschen Faden folgen, aber früher oder später müssen sie uns den richtigen Weg weisen.«

Wir genossen unseren Lunch in heiterer Stimmung, und unser Gespräch berührte kaum das Thema, das uns zusammengeführt hatte. Erst als wir nach dem Essen in Sir Henry Baskervilles Privatsalon beisammen saßen, fragte Holmes ihn nach seinen Plänen.

»Ich fahre nach Baskerville Hall.«

»Und wann?«

»Ende der Woche.«

»Alles in allem«, sagte Holmes, »denke ich, das ist ein guter Entschluss. Ich habe ausreichend Beweise dafür, dass Sie hier in London beschattet werden, und in dieser Millionenstadt ist es schwierig herauszufinden, wer diese Leute sind und was sie wollen. Wenn sie verbrecherische Absichten haben, können sie Ihnen Schaden zufügen, ohne dass wir die Möglichkeit hätten, das zu verhindern. Sie haben wohl nicht bemerkt, Dr Mortimer, dass Sie heute Vormittag nach dem Verlassen meines Hauses verfolgt worden sind?«

Dr Mortimer schrak heftig zusammen. »Verfolgt? Von wem?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Gibt es unter Ihren Nachbarn und Bekannten in Dartmoor einen Mann mit einem schwarzen Vollbart?«

»Nein – oder warten Sie mal – doch, natürlich. Barrymore, Sir Charles’ Butler, trägt einen schwarzen Vollbart.«

»Aha! Und wo ist Barrymore jetzt?«

»Er besorgt Baskerville Hall.«

»Wir sollten uns vergewissern, ob er wirklich dort ist oder ob er vielleicht in London ist.«

»Wie wollen Sie das herausfinden?«

»Reichen Sie mir bitte ein Telegrammformular. ›Alles bereit für Sir Henry?‹ Das genügt. Adresse: Mr Barrymore, Baskerville Hall. Welches ist das nächstgelegene Telegraphenamt? Grimpen. Sehr gut; wir schicken eine zweite Depesche an den Postvorsteher von Grimpen: ›Telegramm an Mr Barrymore nur zu eigenen Händen bestellen. Falls abwesend, bitte Drahtantwort an Sir Henry Baskerville, Northumberland Hotel.‹ Damit dürften wir bis zum Abend erfahren, ob Barrymore auf seinem Posten in Devonshire ist oder nicht.«

»Ausgezeichnet«, sagte Baskerville. »Übrigens, Dr Mortimer, wer ist dieser Barrymore eigentlich?«

»Er ist der Sohn des vorigen, inzwischen verstorbenen Verwalters. Die Familie bekleidet diese Stellung schon seit vier Generationen. Soweit ich weiß, sind er und seine Frau ein sehr respektables Ehepaar.«

»Aber es ist auch klar«, fiel Baskerville ein, »dass diese Leute in einem tollen Haus leben und kaum Arbeit haben, solange das Herrenhaus verwaist ist.«

»Das stimmt.«

»Hat Sir Charles Barrymore in seinem Testament bedacht?« fragte Holmes.

»Ja, er und seine Frau bekamen je fünfhundert Pfund Sterling.«

»Oh! War ihnen bekannt, dass sie diese Summe erben würden?«

»Ja, Sir Charles hat ausgesprochen gern über seine letztwilligen Verfügungen gesprochen.«

»Das ist ja interessant.«

»Ich will doch hoffen«, sagte Dr Mortimer, »dass Sie nicht jeden für verdächtig halten, dem Sir Charles ein Vermächtnis ausgesetzt hat, denn ich habe ebenfalls eintausend Pfund geerbt.«

»Was Sie nicht sagen! Wer wurde in dem Testament noch bedacht?«

»Kleinere Summen gingen an verschiedene Einzelpersonen sowie an Wohlfahrtseinrichtungen. Das gesamte restliche Vermögen fiel an Sir Henry.«

»Und wie hoch ist dieses Vermögen?«

»Siebenhundertvierzigtausend Pfund.«

Holmes zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Mir war nicht bewusst, dass die Summe so riesig ist.«

»Sir Charles galt als reich, aber wir wussten auch nicht, wie ungeheuer reich er war, bevor wir seine Effekten gesichtet haben. Der Gesamtwert des Besitzes beläuft sich auf fast eine Million.«

»Gütiger Himmel! Für so einen Gewinn lohnt sich allerdings ein riskantes Spiel. Noch eine Frage, Dr Mortimer. Angenommen, unserem jungen Freund hier stieße etwas zu – verzeihen Sie diese unfreundliche Hypothese, Sir Henry! – wer würde dann das Vermögen erben?«

»Da Rodger Baskerville, Sir Charles’ jüngster Bruder, unverheiratet gestorben ist, würde der Besitz an die Desmonds gehen, entfernte Vettern. James Desmond ist ein älterer Geistlicher, er lebt in Westmorland.«

»Danke, diese Details sind von großer Bedeutung. Sind Sie Mr James Desmond je persönlich begegnet?«

»Ja, er kam einmal nach Devon, um Sir Charles zu besuchen. Er ist ein ehrwürdiger Mann mit frommem Lebenswandel. Ich erinnere mich, dass er sich weigerte, von Sir Charles eine Rente anzunehmen, obwohl dieser sie ihm geradezu aufdrängte.«

 

»Dieser bescheidene, fromme Mann würde also Sir Charles’ riesiges Vermögen erben?«

»Er würde auf alle Fälle den Grundbesitz erben, da dieser Fideikommiss ist. Er würde ebenfalls das Geld erben, falls der derzeitige Eigentümer nicht anderweitig darüber verfügt, wozu er natürlich das volle Recht hat.«

»Und haben Sie schon Ihr Testament gemacht, Sir Henry?«

»Nein, Mr Holmes, das habe ich nicht. Ich hatte bisher gar keine Zeit dazu, und ich habe überhaupt erst gestern erfahren, wie die Verhältnisse liegen. Aber ich meine doch, das Vermögen, der Titel und der Grundbesitz gehören zusammen. Das war auch der Wunsch meines armen Onkels. Wie soll denn der Hausherr den alten Glanz der Baskervilles wieder aufleben lassen, wenn er nicht genug Geld hat, den Besitz instand zu halten? Nein, Herrenhaus, Grundbesitz und Dollars müssen zusammenbleiben.«

»Ganz recht. Nun, Sir Henry, ich stimme Ihnen zu, dass es ratsam wäre, wenn Sie unverzüglich nach Devonshire aufbrechen. Nur einen Vorbehalt habe ich: Sie dürfen auf keinen Fall alleine reisen.«

»Dr Mortimer fährt mit mir zusammen.«

»Aber Dr Mortimer hat seine Praxis zu besorgen, und sein Haus liegt etliche Meilen von Ihrem entfernt. Er wäre auch beim besten Willen nicht imstande, Ihnen rasch zu Hilfe zu kommen. Nein, Sir Henry, Sie müssen einen anderen Begleiter haben, einen zuverlässigen Mann, der stets an Ihrer Seite ist.«

»Wäre es möglich, dass Sie selbst mitkommen, Mr Holmes?«

»Sollte der Fall eine dramatische Wendung nehmen, werde ich alles tun, um persönlich anwesend zu sein. Aber Sie werden verstehen, dass es mir bei meiner ausgedehnten Tätigkeit und in Anbetracht der Hilfegesuche, die fortwährend von verschiedensten Seiten an mich herangetragen werden, unmöglich ist, London auf unbestimmte längere Zeit zu verlassen. Gerade in diesem Augenblick ist einer der geachtetsten Namen Englands in Gefahr, von einem Erpresser besudelt zu werden, und niemand anders als ich kann einen schrecklichen Skandal verhindern. Sie begreifen gewiss, dass ich unmöglich nach Dartmoor reisen kann.«

»Wen würden Sie dann empfehlen?«

Holmes legte die Hand auf meinen Arm.

»Wenn mein Freund hier diese Aufgabe übernehmen würde, so können Sie keinen besseren Mann finden, der Ihnen in der Stunde der Not zur Seite steht. Niemand kann das besser beurteilen als ich.«

Dieser Vorschlag kam für mich völlig überraschend, und ich hatte noch gar keine Worte gefunden, da ergriff Baskerville schon meine Hand und schüttelte sie herzlich.

»Also, das ist wirklich riesig nett von Ihnen, Dr Watson! Sie kennen meine Situation und wissen von der Geschichte genauso viel wie ich. Wenn Sie mit nach Baskerville Hall kommen und mir beispringen wollen, werde ich Ihnen das nie vergessen.«

Die Aussicht auf ein Abenteuer hatte immer große Anziehungskraft auf mich gehabt, und überdies fühlte ich mich durch Holmes’ anerkennende Worte und durch die Begeisterung, mit der der Baronet mich als Begleiter akzeptierte, sehr geschmeichelt.

»Ich begleite Sie mit Vergnügen«, versicherte ich. »Ich wüsste nicht, was ich Besseres mit meiner Zeit anfangen könnte.«

»Und Sie werden mir gewissenhaft Bericht erstatten«, sagte Holmes. »Sollte es zu einer Krisis kommen – und das wird es früher oder später – werden Sie von mir genaue Weisungen erhalten. Ich nehme an, Sie haben Ihre Geschäfte in London bis Samstag erledigt, Sir Henry?«

»Würde Ihnen das passen, Dr Watson?«

»Ausgezeichnet.«

»Dann treffen wir uns, falls Sie nichts Gegenteiliges von mir hören, am Samstag am Bahnhof Paddington und nehmen den Zug um zehn Uhr dreißig.«

Wir waren aufgestanden und wollten uns gerade verabschieden, da stieß Baskerville plötzlich einen Triumphschrei aus, stürzte in eine Zimmerecke und zog unter dem Schrank einen braunen Schuh hervor.

»Mein vermisster Stiefel!« rief er.

»Mögen sich alle Probleme so leicht beheben lassen«, bemerkte Sherlock Holmes.

»Aber das ist doch wirklich höchst sonderbar«, sagte Dr Mortimer. »Ich habe erst vor dem Lunch dieses Zimmer sorgfältig durchsucht.«

»Ich auch!« sagte Baskerville. »Jeden Zollbreit.«

»Aber da war ganz bestimmt kein Schuh hier.«

»Dann muss der Hausdiener ihn gebracht haben, während wir beim Lunch saßen.«

Der Deutsche wurde gerufen, beteuerte aber, nichts von der Sache zu wissen, und auch alle weiteren Erkundigungen verliefen ergebnislos. So war die Serie scheinbar sinnloser Ereignisse, die so rasch aufeinander folgten, durch ein weiteres ergänzt worden. Abgesehen von dem düsteren Geheimnis um Sir Charles’ Tod hatte es innerhalb von nur zwei Tagen eine ganze Reihe unerklärlicher Zwischenfälle gegeben: der anonyme Brief, der schwarzbärtige Beschatter in der Droschke, das Verschwinden des neuen braunen Stiefels, das Verschwinden des alten schwarzen Schuhs, und nun das Wiederauftauchen des neuen braunen Stiefels. Während wir in einer Droschke zurück in die Baker Street fuhren, hüllte Holmes sich in Schweigen, und ich sah an seinen zusammengezogenen Brauen und seiner konzentrierten Miene, dass sein Geist damit beschäftigt war, den Plan zu erkennen, der hinter diesen bizarren und scheinbar zusammenhanglosen Ereignissen steckte. Den ganzen Nachmittag verbrachte er in dicke Tabakwolken gehüllt und tief in Gedanken versunken.

Kurz vor dem Abendessen kamen zwei Telegramme. Das erste lautete:

»Soeben erfahren, dass Barrymore in Baskerville Hall ist. – Baskerville.«

Das zweite meldete:

»Weisungsgemäß dreiundzwanzig Hotels aufgesucht, zerschnittene Seite der Times leider nicht gefunden. – Cartwright.«

»Da reißen zwei Fäden, Watson. Nichts ist so stimulierend wie ein Fall, in dem alles schief geht. Wir müssen uns nach einer neuen Spur umtun.«

»Wir haben noch den Kutscher, der den Spion gefahren hat.«

»Allerdings. Ich habe die Registrierungsstelle telegraphisch um seinen Namen und seine Anschrift gebeten. Und ich glaube, hier kommt die Antwort auf meine Anfrage.«

Das Läuten der Türglocke brachte sogar noch etwas Besseres als ein Antworttelegramm. In der Türöffnung erschien ein derb aussehender Mann, offensichtlich der Kutscher selbst.

»Ich hab Bescheid gekriegt von der Zentrale, dass ein Herr unter dieser Adresse nach Nummer 2074 gefragt hat«, brummte er. »Ich fahre meinen Wagen jetzt sieben Jahre und hab nie ’ne Klage gehabt. Bin direkt von den Stallungen hierhergekommen und will Sie geradewegs ins Gesicht fragen, was Sie gegen mich haben.«

»Ich habe ganz und gar nichts gegen Sie, mein guter Mann«, sagte Holmes. »Im Gegenteil, ich habe einen halben Sovereign für Sie, wenn Sie mir ein paar Fragen beantworten.«

»Na, das is’ mal ein guter Tag für mich«, grinste der Kutscher. »Was wollnse denn wissen, Sir?«

»Zunächst Ihren Namen und Ihre Adresse, für den Fall, dass ich Sie später noch brauche.«

»John Clayton, Turpey Street 3, The Borough. Meine Droschke gehört zu Shipley’s Fuhrgeschäft, dicht beim Bahnhof Waterloo.«

Sherlock Holmes notierte das.

»Nun, Clayton, erzählen Sie mir alles über den Fahrgast, der heute Morgen um zehn Uhr dieses Haus beobachtet hat und danach zwei Gentlemen die Regent Street hinunter gefolgt ist.«

Der Mann reagierte verdutzt und leicht verlegen.

»Na, dann hat’s ja wohl wenig Sinn zu flunkern, wo Sie das schon wissen«, sagte er. »Die Sache is’ die: Der Gentleman hat mir gesagt, dass er Detektiv is’, und ich darf keinem Menschen was über ihn sagen.«

»Mein lieber Mann, dies ist eine sehr ernste Angelegenheit, und es könnte Sie in eine hässliche Klemme bringen, wenn Sie versuchen, mir etwas zu verschweigen. Ihr Fahrgast hat Ihnen also erzählt, er sei Detektiv?«

»Jawohl, das hat er.«

»Wann hat er dies gesagt?«

»Beim Aussteigen.«

»Hat er sonst noch etwas gesagt?«

»Seinen Namen.«

Holmes warf mir einen raschen triumphierenden Blick zu.

»Oh, er hat seinen Namen genannt, wirklich? Wie unvorsichtig. Wie lautet denn der Name?«

»Sein Name«, antwortete der Kutscher, »ist Mr Sherlock Holmes.«

So verblüfft wie bei dieser Antwort des Kutschers hatte ich meinen Freund noch nie gesehen. Einen Augenblick saß er sprachlos da. Dann brach er in lautes Lachen aus.

»Touché, Watson – unbestreitbar ein Treffer!« rief er. »Er führt seine Klinge genauso geschickt und geschmeidig wie ich. Gut gegeben, für diesmal! Also sein Name war Sherlock Holmes, sagten Sie?«

»Ja, Sir, das war der Name.«

»Wunderbar! Und nun erzählen Sie mir, wo Sie ihn aufgelesen haben, und alles, was danach passiert ist.«

»So gegen halb zehn hat er mir gewinkt, das war auf dem Trafalgar Square. Er hat gesagt, er wär Detektiv, und er hat mir zwei Guineen versprochen, wenn ich den ganzen Tag lang tun würde, was er sagt, und keine Fragen stelle. Da hab ich natürlich zugegriffen. Zuerst sind wir zum Northumberland Hotel gefahren. Da haben wir gewartet, bis zwei Gentlemen rausgekommen sind. Die haben am Droschkenstand einen Wagen genommen, und dem sind wir gefolgt, bis er hier irgendwo angehalten hat.«

»Genau vor dieser Tür«, fiel Holmes ein.

»Also, das kann ich nicht so genau sagen, aber mein Fahrgast wusste jedenfalls Bescheid. Wir haben ein Stück weiter die Straße runter gehalten und da gewartet, vielleicht anderthalb Stunden. Dann sind die beiden Gentlemen wieder an uns vorbeigekommen, diesmal zu Fuß, und wir sind ihnen langsam hinterher, durch die Baker Street und –«

»Das ist mir bekannt«, sagte Holmes.

»Bis wir Dreiviertel von Regent Street hinter uns hatten. Da hat mein Gentleman plötzlich die Klappe aufgemacht und gerufen, ich soll so schnell wie möglich zum Bahnhof Waterloo fahren. Also hab ich meinem Klepper die Peitsche gegeben, und keine zehn Minuten später waren wir da. Er hat mir wirklich und tatsächlich zwei Guineen gegeben, und dann isser in den Bahnhof reingegangen. Aber vorher hat er sich noch umgedreht und gesagt: ›Vielleicht interessiert es Sie zu hören, dass Sie Sherlock Holmes kutschiert haben.‹ So hab ich seinen Namen erfahren.«

»Verstehe. Weiter haben Sie nichts von ihm gesehen?«

»Nicht nachdem er in den Bahnhof reingegangen ist, nein.«

»Und wie würden Sie Mr Sherlock Holmes beschreiben?«

Der Kutscher kratzte sich am Kopf. »Hm, naja, das ist gar nicht so leicht, den Gentleman zu beschreiben. Vielleicht vierzig Jahre alt, und mittelgroß, vielleicht zwei oder drei Zoll kürzer als Sie, Sir. Schick angezogen war er, ein richtig feiner Pinkel. Und einen schwarzen Bart hatte er, unten gerade abgeschnitten, und das Gesicht war ziemlich blass. Ich glaub nicht, dass ich mehr sagen kann.«

»Augenfarbe?«

»Kann ich nicht sagen.«

»Können Sie sich an sonst noch etwas erinnern?«

»Nein, Sir, an nichts.«

»Gut, hier ist Ihr halber Sovereign. Ein zweiter wartet auf Sie, falls Ihnen noch etwas einfällt. Guten Abend.«

»Guten Abend, Sir, und schönen Dank auch.«

John Clayton verschwand, vor Zufriedenheit glucksend, und Holmes wandte sich mit einem Schulterzucken und einem kleinlauten Lächeln zu mir.

»Schnapp! Da reißt der dritte Faden, und wir stehen wieder da, wo wir begonnen haben«, sagte er. »Dieser gerissene Gauner! Er kannte unsere Adresse, er wusste, dass Sir Henry Baskerville mich konsultiert hat, er hat mich in Regent Street erkannt, er hat gewusst, dass ich mir die Nummer der Droschke merken und dadurch an den Kutscher herankommen würde, und er schickt mir diese dreiste Kampfansage. Ich sage Ihnen, Watson, dieses Mal haben wir es mit einem Gegner zu tun, der unserer Klinge würdig ist. In London bin ich nun mattgesetzt. Ich kann Ihnen für Devonshire nur mehr Glück wünschen. Aber mir ist gar nicht wohl dabei.«

»Wobei?«

»Bei dem Gedanken, dass ich Sie dorthin schicke. Es ist eine hässliche Sache, Watson, eine hässliche und gefährliche Sache, und je mehr ich davon zu sehen bekomme, desto weniger gefällt sie mir. Ja, mein Lieber, lachen Sie nur, aber auf mein Wort: Ich bin erst wieder froh, wenn Sie heil und gesund in der Baker Street sind.«

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