Der Hund der Baskervilles

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Die gerichtliche Untersuchung konnte die Todesumstände von Sir Charles nicht gänzlich aufklären, aber es wurde genug Klarheit geschaffen, um gewissen Gerüchten entgegentreten zu können, die auf einem althergebrachten lokalen Aberglauben beruhen. Es gibt nicht den geringsten Hinweis auf ein Verbrechen oder auf einen anderen als einen natürlichen Tod. Sir Charles war Witwer und galt als Mann von leicht exzentrischer Lebensart. Trotz seines beträchtlichen Reichtums war er bescheiden in seinen persönlichen Ansprüchen. Das gesamte Hauspersonal von Baskerville Hall besteht lediglich aus dem Ehepaar Barrymore; der Mann bekleidet die Stellung eines Butlers und seine Frau die der Haushälterin. Ihre Aussage, die durch das Zeugnis mehrerer Freunde des Verstorbenen bestätigt wurde, ging dahin, dass Sir Charles schon seit einiger Zeit bei schwacher Gesundheit gewesen sei. Erwähnt wurde insbesondere ein Herzleiden, das sich in rasch wechselnder Gesichtsfarbe, Atemnot und akuten Anfällen einer nervösen Gemütsverstimmung geäußert habe. Dr James Mortimer, persönlicher Freund und ärztlicher Berater des Verstorbenen, bestätigte dies durch seine Aussage.

Die Faktenlage ist unkompliziert. Sir Charles Baskerville hatte die Gewohnheit, jede Nacht vor dem Schlafengehen einen Spaziergang durch die berühmte Eibenallee von Baskerville Hall zu machen. Dies wurde von den Barrymores bezeugt. Am 4. Juni hatte Sir Charles angekündigt, am Tag darauf nach London reisen zu wollen, und er hatte Barrymore angewiesen, sein Gepäck zu besorgen. Am Abend verließ er das Haus zu seinem gewohnten Spaziergang, bei dem er wie gewöhnlich eine Zigarre rauchte. Er kehrte nicht zurück. Als Barrymore gegen Mitternacht die Haustür noch offen fand, wurde er unruhig, zündete eine Laterne an und ging auf die Suche nach seinem Herrn. Es hatte an diesem Tag geregnet, und Sir Charles’ Fußspuren waren in der Eibenallee gut zu erkennen. Auf halbem Weg befindet sich eine Pforte, die zum Moor hinausführt. Es gibt Hinweise, dass Sir Charles hier eine Zeit lang verweilt hat. Dann hat er seinen Weg durch die Allee fortgesetzt, und an ihrem äußersten Ende wurde sein Leichnam gefunden. Noch nicht geklärt ist Barrymores Aussage, die Fußspuren seines Herren hätten jenseits der Pforte anders ausgesehen als vorher; er sei von dort aus augenscheinlich auf Zehenspitzen weitergegangen. Ein Zigeuner namens Murphy, ein Pferdehändler, befand sich um diese Zeit in nicht allzu weiter Entfernung auf dem Moor, allerdings in angetrunkenem Zustand, wie er selbst zugab. Er sagte aus, er habe Schreie gehört, konnte jedoch nicht sagen, aus welcher Richtung diese gekommen seien. An Sir Charles’ Leichnam waren keine Spuren von Gewaltanwendung zu erkennen, allerdings waren seine Gesichtszüge nach Aussage des Arztes auf unbegreifliche Weise verzerrt – so sehr, dass Dr Mortimer zunächst kaum glauben konnte, dass es wirklich sein Patient und persönlicher Freund war, der dort vor ihm lag. Indessen ist dieses Symptom nicht untypisch bei einem Tod infolge Atemnot und Herzversagen. Diese Erklärung wurde durch den Obduktionsbefund bestätigt, der eine schon lange bestehende Erkrankung des Herzens attestiert hat. Die gerichtliche Untersuchungskommission entschied in Übereinstimmung mit dem ärztlichen Zeugnis in diesem Sinne. Das ist sehr zu begrüßen, denn natürlich ist es für die Region von größter Bedeutung, dass Sir Charles’ Erbe sich in Baskerville Hall niederlässt und dessen segensreiches Wirken fortsetzt, das auf so traurige Weise unterbrochen worden ist. Wäre den abenteuerlichen Gerüchten, die in Zusammenhang mit dieser Affäre aufgekommen sind, nicht durch den prosaischen Befund des Untersuchungsrichters jede Grundlage entzogen worden, hätte es schwierig werden können, einen Pächter für Baskerville Hall zu finden. Der nächste Angehörige von Sir Charles Baskerville ist dem Vernehmen nach Mr Henry Baskerville, ein Sohn von dessen jüngerem Bruder. Den letzten Nachrichten zufolge hält der junge Mann sich in Amerika auf, und es wurden bereits Ermittlungen eingeleitet, um ihn von dem ihm zugefallenen Erbe in Kenntnis zu setzen.«

Dr Mortimer faltete die Zeitung wieder zusammen und steckte sie in seine Tasche.

»Dies, Mr Holmes, sind die öffentlich bekannten Fakten im Zusammenhang mit dem Tod von Sir Charles Baskerville.«

»Ich möchte Ihnen meinen Dank aussprechen«, sagte Sherlock Holmes. »Sie haben mich auf einen Fall aufmerksam gemacht, der tatsächlich einige interessante Aspekte hat. Ich hatte seinerzeit die Zeitungsmeldungen gelesen, aber ich war damals sehr eingespannt in diese kleine Affäre der vatikanischen Kameen, und in meinem Bestreben, dem Papst gefällig zu sein, habe ich einige interessante Fälle in England aus den Augen verloren. Aber Sie sagten, dieser Artikel enthalte lediglich die öffentlich bekannten Fakten?«

»So ist es.«

»Dann lassen Sie mich die nicht öffentlichen wissen.« Er lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen aneinander und setzte seine gleichgültig-skeptische Miene auf.

»Das werde ich gern tun«, sagte Dr Mortimer mit allen Anzeichen einer starken Gemütserregung, »aber ich muss Ihnen vorher sagen, dass ich Ihnen damit etwas erzähle, was ich bisher keinem einzigen Menschen anvertraut habe. Mein Beweggrund dafür, dass ich es bei der Leichenschau vor den Geschworenen verschwiegen habe, war, dass ich als Mann der Wissenschaft davor zurückscheue, mich in der Öffentlichkeit als jemand darzustellen, der dummen Ammenmärchen Glauben schenkt. Ein weiteres Motiv war, dass Baskerville Hall gewiss keinen neuen Bewohner finden wird, wie in der Zeitung ganz richtig bemerkt, wenn der ohnehin schon düstere Ruf des Besitzes noch weiter diskreditiert würde. Aus diesen beiden Gründen glaubte ich mich im Recht, wenn ich nicht alles sagte, was ich wusste. Überdies hätte es auch keine praktischen Auswirkungen auf die Untersuchung gehabt. Aber Ihnen gegenüber habe ich keinen Grund, nicht ganz offen zu sein.

Das Moor ist sehr dünn besiedelt, daher sind alle, die dort leben, eng auf ihre Nachbarn angewiesen. So ergab es sich, dass ich viel mit Sir Charles Baskerville verkehrte. Mit Ausnahme von Mr Frankland in Lafter Hall und Mr Stapleton, einem Naturkundler, findet man im weiteren Umkreis keinen einzigen gebildeten Menschen. Sir Charles lebte recht zurückgezogen, aber durch seine Krankheit kamen wir in Kontakt miteinander, und ein gemeinsames Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen vertiefte die Bekanntschaft. Er hatte aus Südafrika zahlreiche Kuriositäten mitgebracht, und so haben wir viele angenehme Abende miteinander und mit lebhaften Diskussionen über die anatomischen Eigenarten der Buschmänner und der Hottentotten verbracht.

Im Laufe der letzten Monate wurde mir immer klarer, dass Sir Charles’ Nerven bis zum Zerreißen gespannt waren. Er hatte sich diese Legende, die ich Ihnen vorgelesen habe, sehr zu Herzen genommen, was so weit ging, dass er seine Spaziergänge zwar auf eigenem Grund und Boden unternahm, aber unter keinen Umständen bereit war, das Moor zu betreten, schon gar nicht in der Dunkelheit. So unbegreiflich es Ihnen erscheinen mag, Mr Holmes, aber er war allen Ernstes davon überzeugt, dass ein grauenvolles Verhängnis über seiner Familie schwebte, und ich muss sagen, was er von seinen Vorfahren zu berichten wusste, klang nicht eben ermutigend. Unablässig verfolgte ihn die Vorstellung einer dunklen Macht, die ihn umgab, und mehr als einmal fragte er mich, ob ich auf meinen nächtlichen Fahrten zu einem Patienten nicht ein merkwürdiges Wesen gesehen oder das Gebell eines Hundes gehört hätte. Die letztere Frage stellte er mir mehrfach, jedes Mal mit vor Erregung bebender Stimme.

Ich erinnere mich genau an einen Abend etwa drei Wochen vor dem traurigen Ereignis. Als ich mit meinem Einspänner vor dem Herrenhaus vorfuhr, stand er zufällig im Eingang. Ich stieg aus und ging auf ihn zu, da bemerkte ich, dass sein Blick über meine Schulter hinweg etwas fixierte und er mit dem Ausdruck tiefsten Grauens dorthin starrte. Ich fuhr herum und konnte gerade noch einen Blick auf ein Tier am Ende der Zufahrt erhaschen, das ich für ein großes schwarzes Kalb hielt. Er war so verängstigt, dass ich mich genötigt sah, dorthin zu gehen und nachzuschauen, wo das Tier geblieben war. Natürlich war es längst verschwunden, aber der Vorfall hatte ihn augenscheinlich zutiefst verstört. Ich blieb den Abend über bei ihm, und bei dieser Gelegenheit vertraute er mir die Familienlegende an, wohl um mir eine Begründung für seinen Nervenzustand zu geben, und er übergab mir zu treuen Händen das Dokument, das ich Ihnen gerade vorgelesen habe. Ich erwähne diesen Vorfall, weil ihm in Anbetracht der darauf folgenden Tragödie eine gewisse Bedeutung zukommt. Damals war ich allerdings fest überzeugt, dass die Sache völlig harmlos und seine Furcht unbegründet war.

Dass Sir Charles eine Reise nach London plante, geschah auf mein Anraten. Ich wusste, dass sein Herz angegriffen war, und die ständige Angst, in der er lebte, auch wenn es reine Hirngespinste waren, wirkte sich offensichtlich negativ auf seinen Gesundheitszustand aus. Ein paar Monate in der Metropole mit ihren Zerstreuungen, meinte ich, würden einen neuen Menschen aus ihm machen. Unser gemeinsamer Freund Mr Stapleton, der sich ebenfalls um Sir Charles’ Gesundheit sorgte, teilte diese Ansicht. Am letzten Abend vor dem Antritt der Reise kam es dann zu der schrecklichen Katastrophe.

In der Nacht von Sir Charles’ Tod schickte der Butler Barrymore, der den Leichnam gefunden hatte, den Stallknecht Perkins zu mir, und da ich trotz der späten Stunde noch wach war, erreichte ich Baskerville Hall schon eine Stunde nach dem Unglück. Ich kann sämtliche Fakten, die während der gerichtlichen Untersuchung zur Sprache kamen, als Augenzeuge bestätigen. Ich bin den Fußspuren durch die Eibenallee gefolgt, ich habe die Stelle an der Pforte zum Moor gesehen, wo er offenkundig einige Zeit gestanden und gewartet hat, ich habe bemerkt, dass seine Fußspuren von jener Stelle ab anders aussahen, ich habe gesehen, dass der weiche Kies des Weges keine anderen Spuren als die von Barrymore zeigte, und schließlich habe ich den Leichnam, der bis dahin nicht angerührt worden war, gewissenhaft untersucht. Sir Charles lag auf dem Gesicht, die Arme ausgestreckt, die Finger ins Erdreich gekrallt, und sein Gesicht war in heftiger Konvulsion so verzerrt, dass ich ihn kaum erkannte. Mit Sicherheit wies er keinerlei körperliche Verletzung auf. Aber eine falsche Angabe hat Barrymore bei der Leichenschau doch gemacht: Er hat gesagt, in der Nähe der Leiche seien keine weiteren Spuren zu sehen gewesen. Jedenfalls habe er keine bemerkt. Aber ich habe welche gesehen – ein kleines Stück entfernt, aber frisch und deutlich.«

 

»Fußspuren?«

»Fußspuren.«

»Von einem Mann oder von einer Frau?«

Dr Mortimer blickte uns einen Augenblick lang bedeutungsvoll an, dann sank seine Stimme zu einem Flüstern herab, als er antwortete:

»Mr Holmes, es waren Spuren eines gigantischen Hundes.«

3. KAPITEL

Das Problem

Ich gebe zu, dass mir bei diesen Worten ein Schauder über den Rücken lief. Die bebende Stimme des Arztes verriet mir, dass er selbst aufgewühlt war von dem, was er erzählte. Holmes beugte sich gespannt nach vorn; seine Augen sprühten in jenem harten Glanz, den sie stets zeigten, wenn ein Fall ihn faszinierte.

»Sie haben die Spuren deutlich gesehen?«

»So deutlich, wie ich Sie vor mir sehe.«

»Und Sie haben nichts gesagt?«

»Welchen Sinn hätte das gehabt?«

»Wie kommt es, dass sonst niemand diese Spuren gesehen hat?«

»Sie waren fast zwanzig Meter von der Leiche entfernt, und niemand hat ihnen Beachtung geschenkt. Ich hätte es wohl auch nicht getan, wenn ich nicht diese Legende gekannt hätte.«

»Sicherlich gibt es auf dem Moor zahlreiche Hütehunde?«

»Gewiss, aber dies war kein Hütehund.«

»Sie sagten, er war groß?«

»Gigantisch.«

»Aber er hat sich der Leiche nicht genähert?«

»Nein.«

»Wie war das Wetter in jener Nacht?«

»Diesig und nasskalt.«

»Aber kein Regen?«

»Nein.«

»Wie sieht diese Allee genau aus?«

»Sie ist gesäumt von zwei Reihen alter Eibenhecken, zwölf Fuß hoch und undurchdringlich dicht. Der freie Raum dazwischen ist etwa acht Fuß breit.«

»Was liegt zwischen dem Weg und den Hecken?«

»Ein etwa sechs Fuß breiter Grasstreifen zu beiden Seiten des Weges.«

»Wenn ich Sie recht verstanden habe, ist die Eibenhecke an einer Stelle von einer Pforte durchbrochen?«

»Ja, eine niedrige Holztür, die aufs Moor hinausführt.«

»Gibt es noch eine andere Öffnung in der Hecke?«

»Nein, keine.«

»Um in die Eibenallee zu gelangen, muss man also entweder vom Haus her kommen oder durch die Pforte vom Moor?«

»Es gibt noch einen weiteren Zugang, vom Gartenhaus am äußersten Ende der Allee.«

»War Sir Charles so weit gekommen?«

»Nein, er lag etwa fünfzig Meter davon entfernt.«

»Nun sagen Sie mir, Dr Mortimer – und das ist sehr wichtig: Fanden Sie die besagten Spuren auf dem Weg oder auf dem Grasstreifen?«

»Auf dem Weg. Im Gras wären überhaupt keine Spuren zu sehen gewesen.«

»Waren sie auf der gleichen Seite des Weges wie die Pforte?«

»Ja, am Rand des Weges, auf der gleichen Seite wie die Pforte.«

»Sie interessieren mich über alle Maßen. Und noch etwas: War die Pforte verschlossen?«

»Verschlossen und verriegelt.«

»Wie hoch ist sie?«

»Ungefähr vier Fuß.«

»So, dass jeder drüberklettern kann?«

»Ja.«

»Was für Spuren haben Sie an der Pforte gesehen?«

»Keine besonderen.«

»Gütiger Himmel! Hat das denn niemand untersucht?«

»Doch, ich selbst.«

»Und Sie haben nichts entdeckt?«

»Es war alles ziemlich zertreten. Sir Charles hat dort offensichtlich fünf oder zehn Minuten lang gestanden.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Weil er dort die Asche von seiner Zigarre zweimal abgestrichen hat.«

»Ausgezeichnet! Das ist ein Kollege nach unserem Herzen, Watson. Aber die Spuren?«

»Seine Fußspuren fanden sich in diesem Teil des Kiesweges zuhauf. Andere konnte ich nicht entdecken.«

Sherlock Holmes schlug sich mit einer ungeduldigen Geste aufs Knie.

»Wäre ich doch nur dort gewesen!« rief er. »Das ist ein höchst interessanter Fall, der einem wissenschaftlich geschulten Experten zahllose Möglichkeiten eröffnet. Dieser Kiesweg – er hätte mir so viel verraten – aber nun ist er längst vom Regen durchweicht und von den Holzschuhen neugieriger Bauern zertrampelt. Oh, Dr Mortimer, Dr Mortimer, warum haben Sie mich bloß nicht früher konsultiert! Da haben Sie einiges zu verantworten.«

»Ich konnte Sie nicht früher hinzuziehen, Mr Holmes, ohne gewisse Tatsachen an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, und ich habe Ihnen meine Gründe genannt, warum ich das nicht wollte. Und außerdem –«

»Warum zögern Sie?«

»Es gibt eine Sphäre, in der sogar der scharfsinnigste und erfahrenste Detektiv machtlos ist.«

»Sie glauben, wir haben es mit einem übernatürlichen Phänomen zu tun?«

»Das habe ich so dezidiert nicht gesagt.«

»Nein, aber Sie denken es anscheinend.«

»Seit jener tragischen Nacht, Mr Holmes, sind mehrere Vorfälle zu meiner Kenntnis gelangt, die sich kaum mit der wissenschaftlichen Ordnung der Natur in Übereinstimmung bringen lassen.«

»Zum Beispiel?«

»Ich habe erfahren, dass schon vor dem schrecklichen Ereignis mehrere Leute im Moor ein Wesen gesehen haben, das der Beschreibung des Spuks der Baskervilles entspricht und das kein der Wissenschaft bekanntes Tier sein kann. Alle Berichte stimmen darin überein, dass es ein gigantisches Geschöpf ist, gespenstisch leuchtend, dämonisch und grauenhaft. Ich habe die Leute scharf ins Verhör genommen – einen dickschädeligen Landmann, einen Hufschmied und einen Moorbauern, und alle drei haben das Gleiche erzählt über diese furchtbare Erscheinung, die so genau dem Höllenhund der Legende entspricht. Ich kann Ihnen versichern, es herrscht eine wahre Todesangst in der Gegend, und wer sich nachts ins Moor wagt, der muss schon ein hartgesottener Mann sein.«

»Und Sie, ein Mann der Naturwissenschaft, glauben an eine übernatürliche Erscheinung?«

»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.«

Holmes zuckte die Schultern. »Bisher habe ich meine Ermittlungen auf die diesseitige Welt beschränkt«, sagte er. »Ich habe das Böse mit meinen bescheidenen Kräften bekämpft. Sich mit dem Vater alles Bösen anzulegen wäre vielleicht ein allzu ehrgeiziges Unterfangen … Aber Sie müssen zugeben, dass diese Spuren durchaus irdisch waren.«

»Der Hund der Legende war irdisch genug, um einem Mann die Gurgel herauszureißen, und doch war es ein Geschöpf der Hölle.«

»Ich sehe schon, Sie sind zu den Esoterikern übergelaufen. Aber sagen Sie mir bitte, Dr Mortimer: Wenn Sie sich zu solchen Ansichten bekennen, warum sind Sie dann zu mir gekommen? Sie erzählen mir, es sei zwecklos, nach der wahren Ursache von Sir Charles’ Tod zu forschen, und bitten mich im gleichen Atemzug, es doch zu tun.«

»Nicht darum habe ich Sie gebeten.«

»Wie kann ich Ihnen dann behilflich sein?«

»Indem Sie mir einen Rat geben, was ich mit Sir Henry Baskerville anfangen soll …« – Dr Mortimer sah auf die Uhr – »der kommt in genau ein und einer viertel Stunde auf dem Bahnhof Waterloo an.«

»Der Erbe?«

»Ja. Nach dem Tod von Sir Charles haben wir nach dem jungen Gentleman geforscht und herausgefunden, dass er als Farmer in Kanada lebt. Nach allem, was wir über ihn gehört haben, scheint er in jeder Hinsicht ein prächtiger Bursche zu sein. Ich sage das jetzt nicht als Arzt, sondern als Sir Charles’ Treuhänder und Testamentsvollstrecker.«

»Gibt es keine weiteren Erben?«

»Nein, keinen. Der einzige andere Verwandte, den wir ausfindig machen konnten, ist Rodger Baskerville, der jüngste Bruder des armen Sir Charles, welcher der Erstgeborene war. Der mittlere der drei Brüder, der Vater von Henry Baskerville, ist schon in jungen Jahren gestorben. Der jüngste, Rodger, war das schwarze Schaf der Familie. Er war ein echter Spross der alten herrischen Baskervilles und angeblich das leibhaftige Ebenbild des alten Hugo, so wie er auf dem Familienporträt dargestellt ist. Als ihm in England der Boden unter den Füßen zu heiß wurde, setzte er sich nach Mittelamerika ab, wo er 1876 am Gelbfieber starb. Henry ist also der letzte lebende Baskerville. In einer Stunde und fünf Minuten werde ich ihn am Bahnhof Waterloo treffen. Er hat mir ein Telegramm geschickt, dass sein Schiff heute früh in Southampton angelegt hat. Nun, Mr Holmes, was meinen Sie? Was soll ich ihm raten?«

»Warum sollte er nicht den alten Familienbesitz übernehmen?«

»Das wäre das Natürliche, nicht wahr? Aber Sie müssen bedenken, dass jeder Baskerville, der dort gelebt hat, ein schlimmes Ende gefunden hat. Ich bin sicher, dass Sir Charles, hätte er vor seinem Ende mit mir sprechen können, mich davor gewarnt hätte, den letzten Spross dieses uralten Geschlechts und Erben eines großen Vermögens an diesen fluchbeladenen Ort zu bringen. Und doch lässt sich nicht leugnen, dass der Wohlstand dieses ärmlichen, wenig fruchtbaren Landstriches von seiner Anwesenheit abhängt. All die guten Werke, die Sir Charles begonnen hat, werden nur unvollendet bleiben, wenn Baskerville Hall keinen Bewohner hat. Ich fürchte allerdings, dass ich mich in dieser Frage vielleicht allzu sehr von meinem eigenen Interesse leiten lasse. Deshalb habe ich Ihnen den Fall vorgelegt und bitte Sie um Ihren Rat.«

Holmes überlegte kurz, dann sagte er: »In knappe Worte gefasst, liegt die Sache so: Ihrer Meinung nach ist eine höllische Macht am Werk, die Dartmoor zu einem gefährlichen Aufenthaltsort für einen Baskerville macht. – Ist das richtig?«

»Ich denke jedenfalls, dass es Anhaltspunkte gibt, die darauf hinweisen.«

»Ganz recht. Aber wenn übernatürliche Mächte im Spiel sind, können sie dem jungen Mann in London genauso leicht schaden wie in Devonshire. Ein Höllenwesen mit lediglich lokaler Zuständigkeit, vielleicht für ein einziges Kirchspiel, wäre doch allzu unwahrscheinlich.«

»Sie betrachten die Sache auf eine leichtfertige Art, Mr Holmes, als Sie es vielleicht tun würden, wenn Sie persönlich betroffen wären. Wenn ich Sie richtig verstehe, gehen Sie davon aus, dass der junge Mann in Devonshire genauso sicher ist wie in London. In fünfzig Minuten wird er hier sein. Was raten Sie mir also?«

»Ich rate Ihnen, Sir, eine Droschke zu rufen, Ihren Spaniel an die Leine zu nehmen, der unten an unserer Haustür kratzt, und zum Bahnhof Waterloo zu fahren, um Sir Henry Baskerville abzuholen.«

»Und dann?«

»Dann erzählen Sie ihm kein einziges Wort von der Sache, bis ich mir darüber klar geworden bin.«

»Wie lange wird das dauern?«

»Vierundzwanzig Stunden. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, Dr Mortimer, wenn Sie mich morgen früh gegen zehn Uhr aufsuchen würden. Und es wäre hilfreich für meine weiteren Pläne, wenn Sie Sir Henry Baskerville mitbringen würden.«

»Das werde ich gern tun, Mr Holmes.« Er notierte den Termin und eilte in seiner sonderbar kurzsichtigen, zerstreuten Art zur Tür. Als er schon auf dem Treppenabsatz war, rief Holmes ihn noch einmal zurück.

»Nur noch eine Frage, Dr Mortimer. Sie sagten, in der Zeit vor Sir Charles Baskervilles Tod hätten mehrere Leute diese Geistererscheinung im Moor gesehen?«

»Ja, drei Männer.«

»Und danach?«

»Danach ist mir nichts mehr zu Ohren gekommen.«

»Danke sehr. Guten Morgen.«

Holmes kehrte zu seinem Sessel zurück. Sein Blick verriet innere Befriedigung, was bei ihm immer bedeutete, dass er eine Aufgabe gefunden hatte, die seiner würdig war.

»Sie wollen ausgehen, Watson?«

»Ja, es sei denn, Sie brauchen mich.«

»Nein, alter Freund, ich brauche Sie erst, wenn es zur Sache geht. Dieser Fall ist prachtvoll, er hat einige wirklich einzigartige Aspekte. Wenn Sie bei Bradley’s vorbeikommen, bitten Sie ihn doch, ein Pfund seines stärksten Shag-Tabaks heraufzuschicken. Vielen Dank. Es wäre mir auch lieb, wenn Sie es einrichten könnten, nicht vor dem Abend wieder zurück zu sein. Dann werde ich gern mit Ihnen dieses höchst interessante Problem diskutieren, das uns heute vorgelegt worden ist.«

 

Ich wusste, dass mein Freund Zurückgezogenheit und Einsamkeit brauchte in jenen Stunden höchster geistiger Konzentration, wo er jedes kleinste Beweisteilchen prüfte, Hypothesen aufstellte und gegeneinander abwog und sich allmählich klar wurde, welche Punkte wesentlich und welche unwesentlich waren. Ich verbrachte den Tag also in meinem Klub und kehrte erst abends in die Baker Street zurück. Es war beinahe neun Uhr, als ich wieder in unser Wohnzimmer trat.

Als ich in der Tür stand, war mein erster Gedanke, dass Feuer ausgebrochen sein musste, denn das Zimmer war so voller Qualm, dass selbst das Licht der Tischlampe nur nebelhaft zu erkennen war. Mein Schreck verflog jedoch rasch, denn als ich eintrat, merkte ich, dass es lediglich der beißende Rauch von starkem Grobtabak war, der mir die Kehle zuschnürte und mich husten ließ. Im Tabaknebel erkannte ich schemenhaft die Gestalt von Holmes, der in seinen Hausmantel gekleidet im Sessel lehnte, die schwarze Tonpfeife im Mund. Um ihn herum lagen mehrere Papierrollen verstreut.

»Erkältet, Watson?« fragte er.

»Nein, es ist bloß diese verpestete Luft.«

»Verpestet! Aber jetzt, wo Sie es sagen, finde ich auch, dass sie ein wenig dick ist.«

»Dick? Sie ist zum Schneiden!«

»Dann machen Sie doch ein Fenster auf! Sie haben den ganzen Tag in Ihrem Klub verbracht, wie ich sehe.«

»Mein lieber Holmes!«

»Habe ich recht?«

»Gewiss, aber wie …?«

Er lachte über mein verblüfftes Gesicht.

»Sie haben manchmal so eine köstliche Arglosigkeit an sich, Watson, dass es mir ein wahres Vergnügen ist, meine bescheidenen Fähigkeiten auf Ihre Kosten auszuspielen. Ein Gentleman geht an einem unfreundlichen, regnerischen Tag aus. Am Abend kehrt er zurück wie aus dem Ei gepellt; Hut und Stiefel in tadellosem Glanz. Also hat er den ganzen Tag unter Dach verbracht. Enge Freunde besitzt er nicht. Wo kann er also gewesen sein? Ist das nicht offensichtlich?«

»Nun ja, ziemlich offensichtlich.«

»Die Welt ist voller offensichtlicher Dinge, auf die kein Mensch je achtet. Wo, glauben Sie, bin ich gewesen?«

»Ebenfalls den ganzen Tag zu Hause.«

»Im Gegenteil, ich war in Devonshire.«

»In Gedanken?«

»Ganz recht. Mein Körper blieb hier in diesem Lehnstuhl und hat, wie ich leider feststellen muss, während meiner Abwesenheit zwei große Kannen Kaffee und eine unglaubliche Menge Tabak konsumiert. Als Sie weg waren, habe ich mir von Stanford’s topographische Karten von diesem Teil des Moores besorgen lassen, und mein Geist schwebte den ganzen Tag darüber. Ich schmeichle mir, mich jetzt dort gut auszukennen.«

»Es sind wohl großmaßstäbige Karten?«

»Ja, ein sehr großer Maßstab.« Er rollte ein Blatt auf und breitete es auf seinen Knien aus. »Dies ist die Region, die uns interessiert. Hier in der Mitte, das ist Baskerville Hall.«

»Mit dem Wald drumherum?«

»Ja. Die Eibenallee, obwohl sie auf der Karte nicht eingezeichnet ist, dürfte in dieser Richtung verlaufen. Sehen Sie: Rechts davon erstreckt sich das Moor. Diese kleine Ansammlung von Häusern ist das Dörfchen Grimpen, wo unser Freund Dr Mortimer sein Hauptquartier hat. Im Umkreis von fünf Meilen gibt es, wie Sie sehen, nur ein paar verstreute Gehöfte. Dies ist Lafter Hall, das Gutshaus, das Dr Mortimer erwähnt hat. Und hier ist ein Haus eingezeichnet, das wohl der Wohnsitz dieses Naturkundlers ist – Stapleton, wenn ich mich recht erinnere. Hier sind noch zwei Moorbauerngehöfte, High Tor und Foulmire. In einer Entfernung von vierzehn Meilen liegt das große Zuchthaus von Princetown. Zwischen diesen vereinzelten Gehöften und Dörfern erstreckt sich das öde, einsame Moor. Dies also ist der Schauplatz, auf dem sich die Tragödie abgespielt hat und auf dem sie vielleicht noch einmal aufgeführt werden soll.«

»Es scheint eine recht einsame, schaurige Gegend zu sein.«

»Ja, sie ist eines schaurigen Verbrechens würdig. Sollte der Teufel tatsächlich das Verlangen haben, sich in menschliche Angelegenheiten einzumischen …«

»Sie neigen also selbst zu einer übernatürlichen Erklärung?«

»Des Teufels Werkzeuge können von Fleisch und Blut sein, nicht wahr? Wir stehen zunächst vor zwei Fragen: Erstens, ob überhaupt ein Verbrechen begangen worden ist, und zweitens, wenn ja, worin bestand das Verbrechen, und wie wurde es ausgeführt? Natürlich, wenn Dr Mortimers Mutmaßung stimmt und wir es mit Mächten zu tun haben, die außerhalb der geltenden Naturgesetze agieren, sind wir mit unseren Ermittlungen am Ende. Aber bevor wir auf diese Hypothese zurückgreifen, müssen wir erst alle anderen sorgfältig prüfen. Ich denke, wir können das Fenster jetzt wieder schließen. Es mag ungewöhnlich sein, aber ich finde, eine konzentrierte Atmosphäre fördert das konzentrierte Denken. Ich bin zwar noch nicht so weit gegangen, zum Nachdenken in eine Kiste zu kriechen, aber das wäre die logische Konsequenz. Haben Sie sich den Fall ebenfalls durch den Kopf gehen lassen?«

»Natürlich, ich habe im Laufe des Tages ständig darüber nachgedacht.«

»Und was halten Sie davon?«

»Es ist alles sehr verwirrend.«

»Der Fall ist sicherlich von recht speziellem Charakter. Er zeichnet sich durch einige Besonderheiten aus. Diese Veränderung der Fußspuren zum Beispiel. Wie erklären Sie sich das?«

»Mortimer sagte, der Mann sei das letzte Stück der Allee auf Zehenspitzen gegangen.«

»Er hat nur wiederholt, was irgendein Dummkopf bei der gerichtlichen Untersuchung gesagt hat. Weshalb sollte jemand auf Zehenspitzen durch eine Allee gehen?«

»Was dann?«

»Er ist gerannt, Watson – verzweifelt gerannt, in Todesangst gerannt, bis sein Herz versagte und er tot zusammengebrochen ist.«

»Aber wovor ist er geflohen?«

»Genau das ist unser Problem. Gewisse Anzeichen sprechen dafür, dass der Mann bereits außer sich war vor Angst, bevor er die Flucht ergriff.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Ich gehe davon aus, dass das, was ihn in solchen Schrecken versetzte, über das Moor auf ihn zukam. Wenn dies der Fall war – und alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür –, muss er vor Angst von Sinnen gewesen sein, denn statt zum Haus zu laufen, ist er in der anderen Richtung davongelaufen. Wenn die Aussage des Zigeuners stimmt, rannte er, um Hilfe schreiend, gerade in diejenige Richtung, wo Hilfe am allerwenigsten zu erwarten war. Die andere Frage ist: Auf wen hat er in jener Nacht gewartet, und warum hat er in der Eibenallee gewartet statt in seinem Haus?«

»Sie meinen, er hat jemanden erwartet?«

»Der Mann war nicht mehr jung und außerdem kränklich. Seine Abendspaziergänge sind plausibel, aber an jenem Abend war es feuchtkalt und der Boden war nass. Ist es normal, dass er fünf oder zehn Minuten an einer Stelle gestanden hat, wie Dr Mortimer mit mehr praktischem Verstand, als ich ihm zugetraut hätte, aus der abgestreiften Zigarrenasche geschlossen hat?«

»Aber er machte regelmäßig seinen Abendspaziergang.«

»Ich halte es für unwahrscheinlich, dass er regelmäßig an der Moorpforte gewartet hat. Im Gegenteil, wir wissen, dass er das Moor mied. An jenem Abend hat er aber dort gestanden und gewartet. Es war der Abend vor seiner Abreise nach London. Die Sache nimmt Gestalt an, Watson. Wir beginnen, Zusammenhänge zu sehen. Darf ich Sie bitten, mir meine Violine zu reichen? Wir wollen alles weitere Nachdenken auf morgen Vormittag verschieben, wenn Dr Mortimer und Sir Henry Baskerville hier sind.«