Die Salbenmacherin und der Fluch des Teufels

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Kapitel 11

Olivera verfolgte, wie Matthäus die Schröpfköpfe vom Rücken der kranken Clara entfernte und zurück in seine Tasche legte. Das Mädchen hatte immer noch Krämpfe, die sich inzwischen darin äußerten, dass es Arme und Beine nicht mehr ausstrecken konnte. Die Schmerzen, die es litt, mussten unvorstellbar sein, die Schreie wurden immer schlimmer.

Der Priester verfolgte das Schröpfen mit gerunzelter Stirn und trat ans Bett, sobald Matthäus den letzten Schröpfkopf gelöst hatte. »Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir«, sagte er salbungsvoll, legte ein schweres Kruzifix zu dem kranken Mädchen ins Bett und griff nach einer Flasche voller Weihwasser. Damit benetzte er die Stirn und fing an, lateinische Gebete zu sprechen.

»Und es ist das Feuer des heiligen Antonius«, hörte Olivera die Magd murmeln.

Sie winkte die junge Frau zu sich und bedeutete ihr, ihr aus der Kammer in den Korridor zu folgen. »Wieso bist du so sicher, dass es sich um das Antoniusfeuer handelt?«, fragte sie.

»Weil die Mönche in meinem Dorf es so genannt haben«, war die Antwort.

Olivera runzelte die Stirn. »Aber es äußert sich nicht auf diese Art.«

Die Magd zuckte mit den Schultern. »Bei uns hatten viele solche Krämpfe. Die Mönche haben sie mit Gebeten und Antoniusbrot geheilt.«

»Antoniusbrot?« Davon hatte Olivera noch nie etwas gehört.

»Es hat nur diejenigen geheilt, bei denen die Krankheit nicht so weit fortgeschritten war«, sagte die Magd. »Die anderen sind elendig zugrunde gegangen.« Sie schlug ein Kreuz vor der Brust. »Die arme Clara. Wenn der Priester ihr nicht helfen kann …« Sie errötete. »Ich meine … Ich wollte nicht sagen, dass …«

»Schon gut.« Olivera winkte ab. Sie schickte die Magd zurück in das Krankenzimmer und ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Was, wenn sie recht hatte? Alle bisher verabreichten Arzneien zeigten kaum Wirkung, und ob das Schröpfen half, die Krämpfe zu lindern, blieb abzuwarten. Sie beschloss, nach Hause zu gehen und noch einmal die Bücher und Traktate der gelehrten Ärzte zu Rate zu ziehen. Als Matthäus wenig später ebenfalls auf den Gang hinaustrat, schüttelte er mit einem traurigen Ausdruck den Kopf. »Ich fürchte, all unsere Heilkunst ist vergebens. Vielleicht kann ihr wirklich nur Gott helfen.«

»Ich gebe nicht auf«, widersprach Olivera. Sie erzählte ihm, was die Magd behauptet hatte.

»Das Feuer des heiligen Antonius?« Matthäus schüttelte den Kopf. »Bei dieser Krankheit bilden sich Blasen auf der Haut und die Glieder sterben durch Fäulnis ab. Diejenigen, die ich an diesem Leiden habe sterben sehen, sind zu Fetzen verfault. Sie muss sich irren.«

Olivera gab ihm insgeheim recht, dennoch wollte sie nichts unversucht lassen. Sie verabschiedete sich von ihm, verließ das Gebäude und begab sich zurück in die Burgstraße. Dort ging sie ohne Umwege in die Salbenküche, holte erneut die Bücher hervor und fing an, darin zu blättern.

Was sie fand, bestätigte ihre Annahme. In einem der Bücher stand ein Bericht aus einem Dorf, das vom Anto­niusfeuer heimgesucht wurde. Die Aufzeichnungen besagten, dass die Krankheit die Eingeweide auffraß. Die Glieder, nach und nach zernagt, wurden schwarz wie Kohle und die Kranken starben schnell und unter grauenvollen Schmerzen. Ihr Gebrüll war weithin zu hören und ein unbeschreiblicher Gestank verpestete die Häuser, in denen sie dahinsiechten. Nach langem Suchen stieß sie auf eine Erwähnung des Antoniusbrotes, allerdings war die Beschreibung der Zutaten ungenau.

Sie wollte die Bücher schon zurück ins Regal stellen, als ihr Blick auf eine Abschrift der Lehren eines arabischen Alchemisten fiel, dessen Arzneien sie schon oft verwendet hatte. Dort entdeckte sie einen Eintrag über ein Gift, das dem Alchemisten zufolge stark heiß war und das zu einer Krankheit führte, die sich auf zweierlei Arten äußerte. Die erste Beschreibung entsprach dem, was Olivera als Antoniusfeuer kannte, die zweite schilderte ziemlich genau Claras Leiden. Neben Krämpfen, Dauerkontrakturen der Muskeln und Ohnmachten führte die Krankheit, wie der Alchemist angab, auch zum Irrsinn. Linderung konnten Umschläge von kalten Arzneien wie Mohnsaft, Sandelholz, Kampfer und Endivienwasser bringen. Zudem wurden Breitwegerich zur Schmerzlinderung, Bleiweiß, Rautensaft und Rosenöl empfohlen.

Es ist nicht bekannt, worin das Leiden seinen Ursprung nimmt, schrieb der Alchemist. Wenn jedoch rechtzeitig mit der Behandlung begonnen wird, kann der Kranke gerettet werden.

Olivera schob das Buch grübelnd beiseite. Hatte die Magd am Ende doch recht? Und falls ja, würde Martin Groß ihr erlauben, seiner Tochter erneut eine Arznei einzuflößen?

»Wenn Ihr sie wieder nicht heilen könnt, liegt ihr Schicksal in Gottes Hand«, hatte er gesagt.

Olivera nahm an, dass er nichts unversucht lassen würde, um seiner Tochter das Leben zu retten. Sie beschloss, die Arzneien zuzubereiten und mit Matthäus über die Schrift des Alchemisten zu sprechen.

Sie war gerade dabei, die Zutaten zusammenzusuchen, als Götz in der Offizin erschien. Hinter ihm tauchten Jona und Mathes auf. Ohne ein Wort zu sagen, trat Götz auf den Tisch zu, an dem sie arbeitete, und legte einen Ring darauf.

Olivera sah von einem zum anderen. »Was ist denn mit euch passiert?«, fragte sie mit Blick auf Jonas und Mathes’ Gesichter.

»Nichts«, murmelte der Knecht.

»Götz?« Sie wandte sich ihm fragend zu. »Was ist das für ein Ring?«

»Sieh ihn dir an«, forderte er sie tonlos auf.

Zögernd nahm sie ihn und betrachtete das Wappen. »Ein Siegelring?«

»Nicht irgendein Siegelring«, entgegnete Götz. »Paumgartners Siegelring.«

Olivera glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Paumgartner?«

»Jona hat ihn gefunden.«

»Den Ring?«

»Paumgartner.«

Oliveras Herz setzte einen Schlag aus. Sie sah Jona fassungslos an.

»Er war beim Hof des Alten Endris«, erklärte Götz und erzählte ihr, was Jona berichtet hatte.

Sie spürte, wie ihr die Knie weich wurden. Seit Markos’ Verschwinden hatte sie versucht, sich einzureden, dass es vorbei war; dass die Vergangenheit begraben und vergessen war; dass sie nie wieder über ihren Bruder reden oder an ihn denken musste. Sie hielt sich an der Tischkante fest, da der Raum sich plötzlich um sie drehte. »Wieso?«, murmelte sie. Warum jetzt? Kurz nach der Rettung ihres Sohnes hatte sie sich häufig gefragt, wo Markos wohl sein mochte, ob er irgendwann wieder auftauchen würde. Mit der Zeit hatte sie sich erlaubt, die furchtbare Nacht zu vergessen.

»Ich wollte wissen, was es mit dem Hof auf sich hat«, sagte Jona.

»Es muss ein Wink des Schicksals sein, dass ausgerechnet Cristin über die Leichen gestolpert ist«, seufzte Götz.

»Oh mein Gott!« Olivera schlug die Hand vor den Mund. »Weiß sie, was …«

Jona schüttelte den Kopf. »Sie denkt, es sei ein totes Pferd gewesen.«

»Und was jetzt?« Allein die Vorstellung, noch mal zum Hof des Alten Endris zu gehen, ließ Olivera schaudern.

»Ich werde versuchen, im Rat in Erfahrung zu bringen, wo genau die neue Straße gebaut wird«, sagte Götz. »Falls der Hof des Alten Endris abgerissen werden soll, müssen wir die Toten verschwinden lassen.«

»Wir haben niemanden ermordet«, brummte Mathes.

»Das wird sich nach all der Zeit nicht mehr beweisen lassen«, hielt Götz entgegen.

»Ich denke, wir sollten alles so lassen, wie es ist.« Mathes verzog das Gesicht. »Es ist viel zu gefährlich, sich an dem Grab zu schaffen zu machen. Was, wenn uns jemand dabei erwischt? Wie wollt ihr das erklären?«

»Darüber sprechen wir später«, beschied Götz. »Zuerst erkundige ich mich über die neue Straße.«

»Was sollen wir bis dahin tun?«, wollte Olivera wissen.

»Ihr macht weiter, als ob nichts Ungewöhnliches passiert wäre.«

Kapitel 12

»Es tut mir leid«, sagte Jona, sobald Mathes und Götz die Offizin verlassen hatten. Er trat unsicher von einem Fuß auf den anderen und schien nicht recht zu wissen, was er sagen sollte. »Ich hätte nie mit Cristin dorthin gehen sollen.«

»Vielleicht war es wirklich ein Wink des Schicksals«, beruhigte Olivera ihn. »Man kann sich nicht vor dem verstecken, was man getan hat.«

»Aber euch trifft keine Schuld! Ich weiß, dass dein Bruder Paumgartner getötet und euch in den Keller gesperrt hat.«

»Wir hätten der Wache sagen können, was wirklich vorgefallen ist.«

»Dann hätte man euch bestimmt ins Loch geworfen und peinlich befragt!«

Olivera seufzte. Was geschehen war, ließ sich nicht ändern. Die Umstände von Paumgartners Tod hätten Götz und sie vielleicht nicht aufs Schafott gebracht, aber falls jemand herausgefunden hätte, dass Markos ihr Bruder war … Sie wagte nicht, den Gedanken weiterzuspinnen.

»Glaubst du, er hat den Stein der Weisen immer noch?«, wollte Jona wissen.

Sie nickte. »Ich hoffe, er bringt ihm genauso wenig Glück wie Alphonsius«, sagte sie bitter. Die Wut auf ihren Bruder kehrte zurück. Warum hatten er und ihr Vater nicht auf ehrliche Art und Weise ihr Geld verdienen können? Wie viel Leid mussten sie noch über andere bringen? Sie biss die Zähne aufeinander, um den Strudel der Gefühle im Zaum zu halten, der drohte, sie in die Tiefe zu reißen.

»Ihr könnt euch auf mich verlassen«, versprach Jona. »Ich werde niemandem etwas sagen.«

»Was willst du niemandem sagen?« Plötzlich stand Cristin im Raum. Sie wirkte erhitzt und sah Jona vorwurfsvoll an.

»Nichts«, beeilte er sich zu antworten.

Cristin war anzusehen, dass sie ihm nicht glaubte. »Ich bin fertig mit der Schafgarbe«, sagte sie. »Du hättest mir ruhig helfen können!«

 

Olivera war froh über die Ablenkung, da die Gedanken in ihrem Kopf wild durcheinanderwirbelten. Wäre es klüger gewesen, die Stadt zu verlassen? Götz hatte sie gedrängt, woanders neu anzufangen. Hatte er recht gehabt? Hätte sie auf ihn hören sollen? Seit ihrer Ankunft in Nürnberg gerieten sie immer wieder in Schwierigkeiten. Es schien beinahe, als wolle Gott ihnen Zeichen geben, dass die Stadt nicht gut für sie war. Zuerst der Brand ihres Hauses, dann der Mordanschlag auf den Burggrafen, ihre Gefangennahme und schließlich die Entführung ihres Sohnes. Welche Unbill hielt Nürnberg noch für sie bereit? Sie beschloss, mit Götz darüber zu reden, sobald sie allein waren.

»Was ist mit deinem Gesicht passiert?«, hörte sie Cristin fragen.

Jona zuckte mit den Schultern. »Nichts«, log er erneut.

Cristin verschränkte schmollend die Arme.

»Ihr könnt mir helfen, ein paar Arzneien zuzubereiten«, sagte Olivera, um einen Streit zwischen den beiden abzuwenden. Bevor Götz nicht etwas über die neue Straße in Erfahrung gebracht hatte, konnten sie ohnehin nichts anderes unternehmen. Und selbst dann war fraglich, ob es klug war, sich der Gefahr einer Entdeckung auszusetzen. Ohne seinen Ring würde man Paumgartner womöglich nicht erkennen. Die Stadtsoldaten würden annehmen, es handle sich um die Opfer von Wegelagerern oder um Männer, die der Alte Endris getötet hatte. Im Moment war sie machtlos. Folglich blieb ihr nur die Arbeit, um dem Abgrund zu entgehen, der sich vor ihr aufgetan hatte. Vielleicht gelang es ihr, Clara Groß und die anderen kranken Kinder von den furchtbaren Schmerzen zu befreien, die sie litten.

Mit einem Seufzen wandte sie sich wieder der Arbeit zu und verbrachte die nächste Stunde damit, die Tränke herzustellen und in Flaschen abzufüllen.

All die Zeit über wechselten Cristin und Jona kaum ein Wort und Olivera hoffte, dass das Mädchen wirklich nicht begriffen hatte, worüber es gestolpert war. Sollte es sich verplappern, würde das die ganze Familie in Gefahr bringen.

Nachdem sie die Flaschen in ihren Korb gestellt hatte, trug sie den beiden auf, während ihrer Abwesenheit Galgantwurzelwein und Thymiansalbe herzustellen, die genauso wie ein Bad mit Pappelrinde gegen Rücken- und Gliederschmerzen halfen. Dann verließ sie die Offizin, um mit Matthäus über das Traktat des arabischen Alchemisten zu reden.

»Du glaubst also wirklich, dass es sich um das Anto­niusfeuer handelt?«, fragte der Medicus, als sie ihn in der spitaleigenen Kräuterküche aufsuchte.

»Es scheint zwei unterschiedliche Ausprägungen der Krankheit zu geben«, sagte sie. »Ich habe die Arzneien zubereitet.«

»Ich glaube nicht, dass Groß dich noch mal zu seiner Tochter lässt«, wandte Matthäus ein. »Er scheint der Meinung zu sein, dass Gott ihr besser helfen kann als wir. Es wäre ratsam, die Tränke erst an dem Waisenknaben hier im Spital auszuprobieren.«

»Aber er ist später erkrankt als Clara.«

»Wenn deine Arzneien bei ihm Wirkung zeigen, wäre Groß ein Narr, uns nicht mehr zu seiner Tochter zu lassen.« Matthäus seufzte. »Ich will keinen Ärger mit dem Rat. Groß hat gewaltigen Einfluss. Sollte er der Meinung sein, die Kur schadet mehr, als sie nützt …«

Er brauchte nicht weiterreden, denn Olivera hatte genügend Erfahrung mit der Feindseligkeit einiger Ratsmitglieder. »Wo ist der Junge?«, fragte sie.

Matthäus stellte das Gefäß ab, mit dem er hantiert hatte, säuberte sich die Hände und führte sie zu einem Bett, in dem ein etwa achtjähriger Knabe lag. Er schien zu schlafen, doch seine Arme und Beine zuckten so heftig, dass er seine Decke abgeworfen hatte. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß und er schien vor Kurzem die Kontrolle über seine Blase verloren zu haben.

Olivera winkte eine der Mägde herbei und trug ihr auf, Wasser für kühle Wickel zu holen. Dann setzte sie sich neben das Bett, fühlte dem Jungen die Stirn und holte die Arzneien aus ihrem Korb.

Als habe er ihre Gegenwart gespürt, öffnete der Junge die Augen und gab ein Stöhnen von sich.

»Keine Angst«, sagte Olivera sanft. Sie half ihm, sich aufzurichten und flößte ihm den Trank aus Sandelholz, Mohn und Kampfer ein. Obwohl er heftig zitterte und einiges an seinem Kinn hinabrann, gelang es ihm, das meiste zu schlucken.

»Muss ich sterben?«, flüsterte er, nachdem Olivera seinen Kopf wieder auf die Kissen gebettet hatte.

Ihr Herz zog sich zusammen. Sie begegnete dem Tod jeden Tag, doch würde sie sich nie an die Angst in den Augen der Sterbenden gewöhnen. »Bete zu Gott, dann wirst du bald wieder gesund«, versprach sie und hoffte, dass der Junge ihr nicht ansah, wie sehr sie daran zweifelte. Er war so mager, dass es wirkte, als würden seine Rippen die Haut durchstoßen wollen, und seine Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Als die Magd mit dem Wasser zurückkam, machte sie ihm Wadenwickel, rieb ihn mit Rosenöl ein und hoffte, dass der Alchemist sich nicht getäuscht hatte.

»Und?« Matthäus, der sich in der Zwischenzeit um einen anderen Kranken gekümmert hatte, gesellte sich zu ihr.

Olivera zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir nicht sicher, aber ich habe den Eindruck, das Zucken lässt nach.«

Tatsächlich schien die Arznei den Jungen zu beruhigen und ihm das Atmen zu erleichtern.

»Ich hoffe, es hilft.« Matthäus rieb sich das Gesicht. »Offenbar sind noch zwei Kinder erkrankt. Wenn das so weitergeht …« Er schüttelte den Kopf. »Die ersten reden schon von einem Fluch des Teufels.«

Kapitel 13

Auf dem Weg zum Rathaus hatte Götz Mühe, nicht dauernd die Hand in die Tasche zu stecken, in der sich Paumgartners Siegelring befand. Er konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass der Ring ein Loch in den Stoff brannte, und fragte sich, warum er ihn nicht zu Hause gelassen hatte. Sollte man ihn aus irgendeinem Grund bei ihm finden, würde er wohl kaum erklären können, wie er in seinen Besitz gekommen war. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er das kühle Metall betastete, nur um hastig die Hand zurückzuziehen und sich schuldbewusst umzusehen.

Du hast niemanden getötet, sagte er sich immer wieder, allerdings war diese Tatsache weniger beruhigend, als sie sein sollte. Aus Erfahrung wusste er, dass es oft niemanden interessierte, was wirklich vorgefallen war. Viel wichtiger war, wie die Dinge zu sein schienen. Und vor diesem Hintergrund würden Olivera, Mathes und er so schuldig wirken wie Adam und Eva.

Als das Rathaus vor ihm auftauchte, atmete er ein paar Mal tief ein und aus. Auf keinen Fall durfte er sich durch seine Fragen verdächtig machen oder so viel Neugier erwecken, dass jemand anfing, sich für den Hof des Alten Endris zu interessieren. Größte Vorsicht war geboten. Er warf einen Blick zum Himmel, der sich bewölkt hatte. Von Norden her schoben sich dunkle Wolken zusammen und ein auffrischender Wind blies durch die Stadt. Während man am Morgen den Eindruck gehabt hatte, der Sommer würde noch einige Wochen andauern, ließen die kalten Böen keinen Zweifel am nahenden Herbst.

Obwohl er versuchte, sich einzureden, dass nichts schiefgehen konnte, beschleunigte sich sein Herzschlag, als er vor dem prächtigen Gebäude anlangte. Mit einem Gefühl, als laste ein Zentnergewicht auf seiner Brust, betrat er die Eingangshalle, in der mehrere vornehm gekleidete Männer zusammenstanden und heftig diskutierten. Er näherte sich ihnen und hörte, worüber sie sich so aufregten.

»Es ist ein Fluch, das sage ich euch, so wahr ich Markus Holzschuher heiße!«

»Woher willst du das wissen?«

»Habt ihr nicht gehört, dass Martin Groß einen Priester ins Haus geholt hat?«, fragte der, der zuerst gesprochen hatte. Er war wie Götz ein Ratsmitglied und entstammte einem alten Nürnberger Patriziergeschlecht.

»Er hat recht«, pflichtete ihm ein anderer Mann bei, den Götz als einen der Widersacher erkannte, deren In­trige Olivera und ihn beinahe das Leben gekostet hatte. »Inzwischen sind zwei Dutzend Kinder erkrankt und es scheint kein Ende zu nehmen.«

»Nicht nur Kinder«, wusste ein jüngerer Kaufmann. »Auch unter den Bettlern grassiert die Seuche.«

»Ihr seid Heiden, wenn ihr glaubt, dass es ein Fluch des Teufels ist«, brummte ein älterer Mann. »Es ist die Geißel Gottes.«

Holzschuher winkte ab. »Warum sollte Gott die Nürnberger strafen wollen? Hier leben fromme Leute.«

Diese Feststellung erntete Hüsteln und das eine oder andere unverhohlene Lachen.

»Soso, fromme Leute?« Der Alte schüttelte den Kopf. »Meinst du damit die abergläubischen Narren, die auf diesen Betrüger hereingefallen sind, der behauptet hat, unedle Metalle in Gold verwandeln zu können?«

Götz verzog das Gesicht. Es konnte kein gutes Omen sein, dass ausgerechnet jetzt die Sprache auf Alphonsius kam.

»Das ist doch Jahre her.«

Der Alte schnaubte. »Wenn ihr wollt, dass das Leiden aufhört, geht in die Kirche und betet, bis euch die Knie wehtun«, riet er, ehe er sich von der Gruppe abwandte und auf den Ausgang zusteuerte.

»So ein Unsinn!«, erboste sich jemand, den Götz nicht kannte.

»Ich weiß nicht, ob es Unsinn ist.« Eines der Mitglieder des Größeren Rates wiegte den Kopf hin und her. »Vielleicht hat er recht, vielleicht nicht. Ich befolge seinen Rat lieber, sonst trifft es am Ende auch meine Familie.« Er löste sich von der Gruppe und kam auf Götz zu. Als er ihn sah, zog er die Brauen hoch. »Bringst du Neuigkeiten?«

Götz schüttelte bedauernd den Kopf.

»Deine Frau kennt sich doch mit derlei Dingen aus. Warum kann denn niemand etwas gegen diesen Fluch ausrichten?«

Götz wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Es fehlte noch, dass die Nürnberger schon wieder die Schuld bei Olivera suchten. »Deshalb bin ich nicht hier«, erwiderte er und beschloss, alle Vorsicht in den Wind zu schlagen. »Ich bin wegen der neuen Straße etwas verwirrt.«

Der Ratsherr runzelte die Stirn. »Welche neue Straße?«

»Die im Westen der Stadt. Weißt du, wo genau sie gebaut werden soll?«

»Wieso? Gehört dir Land dort?«

»Ich bin mir nicht sicher.«

Der Mann beschrieb ihm den Weg, den die Straße nehmen sollte.

Vor Erleichterung hätte Götz beinahe etwas Unbedachtes gesagt.

»Und?«

Götz blinzelte verwirrt.

»Führt sie über dein Land?«

»Nein.«

»Das ist schade. Du hättest sicher einen ordentlichen Batzen dafür verlangen können.« Mit diesen Worten ließ der Ratsherr ihn stehen, überquerte die Straße und verschwand in der gegenüberliegenden Kirche. Zweifelsohne, um eine Kerze für jedes Mitglied seiner Familie zu entzünden und Gott um Schonung für sie zu bitten.

»Wir sollten eine Sitzung einberufen, um über die Maßnahmen zu entscheiden, die getroffen werden müssen«, hörte er einen der Männer sagen, die sich immer noch über die Seuche unterhielten. »Die Bürger müssen geschützt werden. Falls nötig, sollen die Leute in ihren Häusern bleiben und Räucherungen vornehmen, um die Miasmen zu vertreiben. Dieser Fluch wird bestimmt durch üble Dünste verbreitet.«

»Wenn es ein Fluch ist, braucht es keine üblen Dünste, um Schaden anzurichten«, widersprach Markus Holzschuher.

»Das haben sie auch bei der Pest gesagt«, brummte der, der neben ihm stand.

»Ich werde jedenfalls meine Türschwelle mit Weihwasser bespritzen und dafür sorgen, dass einer der Pfaffen mein Haus mit Weihrauch segnet«, beschied Holzschuher.

Als daraufhin mehrere Männer durcheinanderredeten, kehrte Götz der Gruppe den Rücken und verließ das Rathaus. Er überlegte einen Moment, bevor er sich in Richtung Flussufer aufmachte. Je länger er den Ring bei sich trug, desto größer war die Gefahr, dass man ihn entdeckte. Zielstrebig bahnte er sich einen Weg durch die vielen Menschen auf dem Marktplatz und erreichte schließlich den schmalen Pfad, der zum Henkerturm führte. Dahinter erhob sich eine Gruppe von alten Weiden, deren tief hängende Äste ausreichend Sichtschutz boten. Vorsichtig, um an der steilen Böschung nicht abzurutschen, kletterte Götz zum Ufer hinab und sah sich um. Außer einem Fischerkahn, der etwa einen Steinwurf flussabwärts vor sich hin dümpelte, war nichts zu sehen. Während sich sein Herzschlag erneut beschleunigte, holte er den Ring aus der Tasche und schleuderte ihn ohne zu zögern ins Wasser.

Er versank in der Mitte des Flusses.

Als ob er befürchtete, dass er wie durch Zauberhand zurück an die Oberfläche gelangen könnte, starrte Götz eine Weile auf die Stelle, an der er versunken war. Schließlich wandte er sich ab und kletterte zurück nach oben.

 

»Das wäre erledigt«, murmelte er und spürte, wie sich Erleichterung in ihm ausbreitete. Der Beweis für Paumgartners Identität war beseitigt, ebenso die Angst, dass der Bau der neuen Straße das Grab zum Vorschein bringen könnte. Fast schien es, als ob sich doch wieder alles zum Guten wenden würde. Wenn bloß diese vermaledeite Seuche nicht wäre!

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