Die Salbenmacherin und der Fluch des Teufels

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Kapitel 4

Vor den Toren von Nürnberg, September 1412

Jona starrte entgeistert auf die Stelle hinab, an der Cristin wie festgenagelt stand. Sie war totenbleich und ihre Hand zitterte, als sie auf das zeigte, was sie zum Schreien gebracht hatte. Zu ihren Füßen ragte etwas aus der Erde, das selbst bei flüchtigem Hinsehen als ein Arm zu erkennen war – weiß, wachsartig und mit Stofffetzen bedeckt.

Jona brauchte nur wenige Augenblicke, um zu reagieren. Energisch schob er sie hinter sich und stupste den Arm mit der Schuhspitze an.

Nichts passierte.

»Ist das ein toter Mensch?«, fragte Cristin so leise, dass es kaum zu hören war.

Jona überlegte fieberhaft. Was hatte das zu bedeuten? Wer war der Tote? Und warum war er hier beim Fluss, außerhalb eines Gottesackers verscharrt worden? War er das Opfer von Wegelagerern? Oder handelte es sich gar um den Alten Endris, von dem niemand Genaueres zu wissen schien? Ein anderer, dunklerer Gedanke schlich sich in seinen Kopf, doch er zwang sich, ihn zu unterdrücken. »Das ist nur ein Tierkadaver«, log er, um Cristin zu beruhigen.

»Bist du sicher? Es sieht aus wie eine Hand.«

»Ich bin sicher.« Er drehte sich zu ihr um und sah ihr in die Augen, die immer noch vor Furcht geweitet waren. »Geh weiter Pappelrinde sammeln! Ich vergrabe das Tier wieder, damit die Ratten nichts zu fressen haben.« Zu seinem Verdruss zitterte seine Stimme leicht.

»Aber …«

»Nun mach schon!« Er fasste sie bei den Schultern und schob sie energisch in Richtung Flussufer. Bei dem, was er vorhatte, konnte er sie nicht gebrauchen.

»Soll ich nicht lieber …?«

»Geh!« Er bedachte sie mit einem Blick, der jeglichen weiteren Widerspruch im Keim erstickte.

Obwohl ihr anzusehen war, dass es ihr widerstrebte, ihm Folge zu leisten, ging sie zurück zum Ufer, wo sie ihren Sack hatte fallen lassen.

Jona wartete, bis sie so weit fortgegangen war, dass sie ihn nicht mehr beobachten konnte, dann kniete er sich hastig hin und fing an, die Erde mit den Händen zur Seite zu schaufeln. Je weiter er grub, desto mehr wurde von dem Leichnam sichtbar, und schließlich kam der Kopf zum Vorschein. Leere Augenhöhlen glotzten ihn an. Schaudernd betrachtete er den Toten, von dessen Kleidern genug übrig war, um zu erkennen, dass es sich nicht um einen Bauern handelte. »Wer bist du?«, murmelte er. Obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte, den Leichnam zu berühren, zupfte er am halb zerfallenen Stoff des Ärmels, unter dem etwas hervorblitzte. Ein Siegelring. »Herr, vergib mir«, flüsterte er, bekreuzigte sich und biss die Zähne zusammen, um den aufsteigenden Ekel zu unterdrücken. Dann zog er an dem Ring, bis er ihn befreit hatte. Schaudernd hielt er ihn ins Licht, wischte den Schmutz ab und runzelte die Stirn. Das Wappen, das noch deutlich auszumachen war, kam ihm bekannt vor. Es war viergeteilt, bestand aus je zwei blau-gelben Feldern mit einem Löwen und zwei schwarz-weißen Feldern mit einem Vogel. Er war sicher, es im Rathaus gesehen zu haben, dort, wo die Wappen der Patrizierfamilien hingen.

Sein Unbehagen wuchs. Was sollte er tun? Der dunkle Verdacht verstärkte sich, weshalb er beschloss, den Leichnam wieder mit Erde zu bedecken und in Ruhe zu überlegen, was das Klügste war. Ehe er anfing, die Erde zurück auf das Grab zu schaufeln, fiel sein Blick auf die Kehle des Toten. Obwohl er schon eine Weile hier liegen musste, war zu deutlich, dass man sie durchgeschnitten hatte. Fröstelnd zog Jona die Schultern hoch. Er wollte den Leichnam gerade wieder verscharren, als er durch Zufall etwas entdeckte, das ihn zögern ließ. War das ein Schwertknauf, der in einiger Entfernung aus dem Boden ragte?

»Jona!«

Er zuckte zusammen.

»Was machst du denn so lange?« Cristin näherte sich vom Ufer und er beeilte sich aufzustehen und dem Grab den Rücken zu kehren. Auf keinen Fall durfte sie sehen, was er gefunden hatte. »Ich komme sofort!«, rief er.

»Wieso dauert das so lange? Ich kann nicht noch mehr Rinde sammeln!« Ihre Stimme klang vorwurfsvoll.

»Ich helfe dir gleich. Mach einfach weiter und geh Schafgarbe suchen!« Er bedeutete ihr mit einem Wink, wieder an die Arbeit zu gehen, und hoffte, dass sie ihn nicht mit Fragen löchern würde. Dann ging er zurück zu dem Grab und stieß mit dem Fuß gegen den vermeintlichen Schwertknauf.

Das Erdreich hob sich und brachte ein Stück Leder ans Tageslicht.

»Was zum Henker …?« Erneut kniete Jona sich auf den Boden und fing an, mit den Händen zu graben. Innerhalb kurzer Zeit hatte er ein Schwert, Stiefel und einen weiteren Leichnam von Erde befreit. »Gütiger Jesus!« Er grub weiter und stieß auf noch zwei Tote. Das Grab war flach und schien hastig ausgehoben worden zu sein. Wer auch immer die Männer hier begraben hatte, war davon ausgegangen, dass sie nie gefunden würden.

Jona spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Obwohl er fürchtete, was ein Teil von ihm längst wusste, zog er das Stück Stoff aus der Tasche, das er im Haus gefunden hatte. Im Sonnenlicht war eindeutig ein Muster zu erkennen, das seine Hand zum Zittern brachte. War das, was er zu wissen glaubte, überhaupt möglich? Die anderen Männer im Grab schienen ebenfalls gewaltsam zu Tode gekommen zu sein. Hatte Gott ihn zu dieser Stelle geführt? Oder war es das Werk des Teufels, der Zweifel in seiner Seele säen wollte? Er stöhnte. Ihm blieb keine Wahl. Hastig schaufelte er das Grab wieder zu, steckte den Ring ein und klopfte sich den Schmutz von der Hose. Niemand durfte jemals erfahren, was er gefunden hatte.

Mit wild durcheinanderwirbelnden Gedanken machte er sich auf zur Wiese hinter dem Haus, auf der er Cristin fand.

»Das hat aber lange gedauert!«, beschwerte sie sich. »War es wirklich ein Tier?«

Jona nickte. Er traute seiner Stimme nicht und fürchtete, sich mit seiner Aufgewühltheit zu verraten. Hastig wandte er sich von ihr ab, bückte sich und fing an, Blumen auszurupfen.

Kapitel 5

Die nächsten beiden Stunden verbrachten Jona und Cristin mehr oder weniger schweigend. Wo er konnte, wich er ihr aus. In seinem Kopf herrschte ein wildes Durcheinander, das er nicht zu ordnen vermochte. Vielleicht täuschte er sich. Solange er nicht wusste, wem der Siegelring gehörte, gab es immer noch die Möglichkeit, dass sein Verdacht nichts weiter war als ein Hirngespinst. Warum hatte er seiner Neugier nachgegeben? So oft, wie er deswegen schon in Schwierigkeiten geraten war, sollte er es inzwischen eigentlich besser wissen. Er fuhr sich mit dem Ärmel über das verschwitzte Gesicht und schnürte den letzten Sack zu. »Wir sind fertig«, sagte er.

»Endlich!« Cristin wirkte genauso erhitzt wie er. »Ich habe Durst.«

»Dann lass uns nach Hause gehen.« Jona schulterte zwei der Säcke und überließ Cristin den kleinsten. Dann machte er sich auf den Weg zu dem windschiefen Hoftor und trottete in Richtung Stadt.

»Was für ein Tier war es?«, fragte Cristin, als sie kaum eine halbe Meile hinter sich gebracht hatten.

»Tier?« Jona war so in Gedanken versunken, dass er die eigene Lüge vergessen hatte.

»Das ich gefunden habe!« Cristin sah ihn misstrauisch an. »Was ist los mit dir? Du bist schon die ganze Zeit so komisch.«

»Ich bin nicht komisch!«

»Doch!«

»Es war ein Pferd«, log Jona.

»Wer begräbt denn ein Pferd? Das schlachtet man doch.«

Jona zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

»Es sah gar nicht aus wie ein Pferd«, bohrte Cristin weiter.

»Himmelherrgott!«, brauste Jona auf. »Glaubst du, ich binde dir einen Bären auf?«

Sie sah mit vorgeschobener Unterlippe zu ihm hoch, während ihre Augen anfingen zu schwimmen.

Jona stöhnte innerlich. »Fang doch nicht gleich an zu heulen«, sagte er etwas netter. »Ich wollte dich nicht anblaffen. Tut mir leid.«

»Ehrlich?«

Er nickte. »Und jetzt komm. Olivera wartet sicher auf die Pflanzen.«

Etwas beschwichtigt folgte Cristin ihm zum Hallertürlein, das sie ohne Schwierigkeiten passierten. Von dort gingen sie am Flussufer entlang bis kurz vor das Heilig-Geist-Spital, wo sie sich nach Norden wandten, um über den Marktplatz zur Burgstraße zu gelangen. Als sie das Rathaus passierten, kam Jona ein Einfall. Er bedeutete Cristin, den Sack abzustellen, wurde seine Last ebenfalls los und suchte in der Tasche nach dem Siegelring.

»Was hast du vor?«, fragte sie, als er Anstalten machte, ihr den Rücken zu kehren.

»Ich bin gleich wieder da.« Bevor sie protestieren konnte, ließ er sie stehen und lief zu dem tagsüber offen stehenden Tor des Rathauses, das in die große Eingangshalle führte. Auch wenn er schlimme Erinnerungen mit dem Gebäude verband, vor allem mit dem darunter liegenden Lochgefängnis, betrat er die Halle und sah sich um. Es dauerte nicht lange, bis er fand, wonach er Ausschau gehalten hatte. An den Wänden bei der breiten Treppe, die ins Obergeschoss zu den Ratssälen führte, hingen die Wappen der Nürnberger Patrizierfamilien. Trotz des gedämpften Lichts entdeckte Jona den Schild, der dasselbe Motiv trug wie der Ring in seiner Tasche. Familie Paumgartner. Er hatte es befürchtet, nun war es Gewissheit.

Der Mann, der Oliveras Sohn entführt hatte, war nicht über alle Berge. Er lag auf dem Hof des Alten Endris mit drei weiteren Männern in einem flachen Grab. Und irgendjemand hatte ihm vor dem Verscharren die Kehle durchgeschnitten.

Als drei Wachen aus dem Obergeschoss auftauchten, machte Jona hastig kehrt und eilte zurück nach draußen.

Cristin sah ihn mit empört in die Hüften gestemmten Fäusten an. »Was war denn jetzt schon wieder los?«

»Nichts«, erwiderte er kurz angebunden, hob die Säcke auf und setzte den Weg zum Haus in der Burgstraße fort. Dort angekommen, zwang er sich zu einer ausdruckslosen Miene, ehe er den Verkaufsraum betrat und auf die Offizin zusteuerte. Er hatte keine Ahnung, wie er mit dem, was vorgefallen war, umgehen sollte. Er konnte Götz und Olivera nicht einfach zur Rede stellen und sie mit seinem Verdacht konfrontieren. War es überhaupt möglich, dass sie etwas mit dem Tod der Männer zu tun hatten? Oder waren die Kerle in andere Verbrechen verwickelt gewesen, die sie das Leben gekostet hatten? Er versuchte, nicht an den halb verbrannten Zettel und den Stofffetzen in seiner Tasche zu denken, die anderes vermuten ließen.

 

»Olivera ist nicht da«, stellte Cristin fest, als sie die Salbenküche betraten.

»Dann stell den Sack mit der Pappelrinde dorthin.« Jona zeigte auf eine Ecke, in der sich bereits Weidenkörbe und Tongefäße stapelten.

Cristin befolgte die Anweisung.

Da er nicht wusste, wie er sich sonst ablenken sollte, beschloss er, die Schafgarbe auf eines der großen Gestelle im Schuppen zu legen, die eigens zum Trocknen von Kräutern errichtet worden waren. Wenn er sich nicht mit irgendetwas beschäftigte, würde er sich nur weiter mit dem martern, was er entdeckt hatte. Mit Cristin auf den Fersen überquerte er den Hof, zog das schwere Tor auf und betrat den Schuppen. Das Gebäude war groß und trocken und roch nach Heilpflanzen und den Strohballen, die verhindern sollten, dass es zu feucht wurde. Tief in Gedanken versunken schnürte er einen der Säcke auf und holte ein Büschel Pflanzen hervor.

Cristin tat es ihm gleich.

Während er die Pflanzen sorgfältig auf dem Gestell verteilte, grübelte er weiter darüber nach, was er tun sollte. Vermutlich ist es das Beste, alles zu vergessen, riet ihm eine innere Stimme. Doch das war leichter gesagt als getan. Schlafende Hunde soll man nicht wecken, dachte er, allerdings ließ ihn die Ungeheuerlichkeit dessen, was er in dem Grab entdeckt hatte, nicht los. Vier tote Männer. Ohne Zweifel entweder im Kampf getötet oder ermordet. Machte er sich nicht mitschuldig, wenn er seine Entdeckung geheim hielt? Und was war mit Cristin? Hatte sie ihm die Lüge abgekauft? Oder ahnte sie, dass er geschwindelt hatte? Wenn sie ausplauderte, was passiert war, würden Olivera und Götz über kurz oder lang dahinterkommen, dass er auf die Leichen gestoßen war. Nachdem er den Sack geleert hatte, wandte er sich Cristin zu und fasste sie nachdenklich ins Auge.

»Was?«, fragte sie und errötete.

»Ich glaube, es wäre besser, wenn du niemandem sagst, wo wir die Pflanzen gepflückt haben«, sagte er.

Sie runzelte die Stirn. »Wieso nicht?«

»Weil wir uns eigentlich nicht so weit von der Stadt entfernen sollten.«

»Glaubst du, du bekommst Ärger?«

Jona nickte.

»Dann sage ich, wir waren beim Wöhrder Türlein.«

»Du brauchst meinetwegen nicht lügen, es reicht, wenn wir gar nicht erwähnen, wo wir waren.«

Cristin nickte.

»Versprich es!«

Sie spuckte in die Hand und hielt sie ihm hin. »Versprochen!«

Jona schlug ein.

Ehe er noch etwas sagen konnte, ertönte vom Hof her eine Stimme, die ihn aufhorchen ließ.

»Jona!«

Ein Prickeln kroch über seine Haut.

»Jona! Wo bist du?«

»Ist das Froni?« Cristins Miene verdunkelte sich.

Jona ließ ihre Hand los, wischte sie sich an der Hose ab und ging so gelassen wie möglich zum Tor. Froni, die neue Küchenmagd, stand im Hof und sah sich suchend um. Sie war ein Jahr jünger als er, zierlich, blond und hatte eine freche Stupsnase. Ihre Locken kräuselten sich unter der kleinen Haube hervor, die keck auf ihrem Hinterkopf saß.

»Da bist du ja«, rief sie, als sie ihn entdeckte. Sie schien außer Atem zu sein. Ihre Ärmel waren hochgekrempelt, das Gesicht rot vor Anstrengung. Vor ihr auf dem Boden stand ein Korb, halb voll mit Feuerholz.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte Jona.

Cristins missfälliges Hüsteln hörte er kaum.

Froni nickte. »Ich weiß nicht, wie ich so viel Holz schleppen soll«, sagte sie verzweifelt. »Aber Irmla wird schimpfen, wenn ich es nicht rechtzeitig schaffe.«

Jona spürte, wie sich sein Gesicht zu einem einfältigen Lächeln verzog. Ganz gleich, was er anstellte, in Fronis Gegenwart fiel das Gefühl der Überlegenheit, das er in Cristins Nähe verspürte, von ihm ab wie ein mottenzerfressenes Gewand. Mit mehr Kraft als nötig hob er den Korb vom Boden und fragte: »Wie viel brauchst du?« Vergessen war alles, was ihn noch vor wenigen Augenblicken beschäftigt hatte.

Kapitel 6

Die Schreie des Mädchens verfolgten Olivera den ganzen Weg von Martin Groß’ Haus bis zu ihrem eigenen Heim in der Burgstraße. Das arme Kind litt Höllenqualen und sie hatte nicht die geringste Ahnung, was ihm fehlte. Matthäus hatte gesagt, zwei weitere Kinder wären an demselben Leiden erkrankt, und auch er schien ratlos zu sein. Olivera dachte an die Worte der Magd. Das Antoniusfeuer war heimtückisch und tödlich, aber wenn sie sich nicht irrte, äußerte es sich auf eine vollkommen andere Art und Weise. Tief in Gedanken versunken, betrat sie den Hof ihres Hauses, der bis auf den Hofhund und ein paar freilaufende Hühner verlassen dalag. Mathes war vermutlich unterwegs, um von einem der Bauern Getreide für den Winter zu kaufen, der Rest des Gesindes befand sich im Haus. Jona und Cristin schienen bereits zurück zu sein, da sie den dunklen Schopf des Mädchens durch die offen stehende Tür des Schuppens sehen konnte.

Grübelnd überquerte sie den Hof, betrat das Haus und ging in die Offizin. Dort holte sie ein halbes Dutzend ledergebundene Bücher aus dem Regal und legte sie auf einen Tisch. Außer Kräuter- und Steinbüchern besaß sie Abschriften von Galens Methodi Medendi – den Methoden des Heilens –, Avicennas Canon Medicinae – dem Kanon der Medizin – und Trotulas Passionibus Mulierum – den Leiden der Frau. Diese, eine Mitgift ihrer Großmutter, stellten einen unvorstellbaren Schatz dar. Zudem befand sich eine Anzahl orientalischer Traktate in ihrer Sammlung, zusammen mit Schriften des Hippokrates und Heilkräuterbüchern mehrerer Mönche, die sie von einem fahrenden Händler gekauft hatte.

Da sie sämtliche Bücher mehrmals gelesen hatte, brauchte sie nicht lange, um zu finden, wonach sie suchte. In einem Folianten, der die Schriften des Hippokrates enthielt, stieß sie auf eine Beschreibung dessen, was er die »Heilige Krankheit« nannte. Diese äußerte sich in anfallartigen Krämpfen, Schreien und dem Niederstürzen der Kranken, wenn diese sich nicht im Bett befanden. Dem populären Glauben nach handelte es sich um ein göttliches oder dämonisches Eingreifen in die menschliche Natur, doch der gelehrte Arzt hatte eine andere Erklärung. Für Hippokrates ging diese Krankheit vom Gehirn aus, verursacht durch kalten Schleim, der das Blut erstarren ließ. Nicht ein Miasma, eine göttliche »Unreinheit«, war seiner Ansicht nach die Ursache für die Krämpfe, sondern das in den Adern stockende Blut. Folglich empfahl er als Heilmittel Schröpfen und Purgieren, falls nötig, auch die Öffnung des Schädels.

Hastig klappte sie das Buch zu und stellte es zurück ins Regal. Nach kurzem Überlegen beschloss sie, ins Spital zu gehen, um mit Matthäus über das zu reden, was sie gelesen hatte. Er wusste, dass sie die Schriften der gelehrten Ärzte kannte, und hatte bisher stets ihren Rat gesucht. Anders als sein Vorgänger war er vor allem anderen auf das Wohl der Kranken bedacht. Persönliche Eitelkeiten waren ihm fremd.

Sie verließ die Offizin und ging zurück in den Hof, wo Mathes vom Bock des Einspänners sprang, dessen Ladefläche mit Säcken vollgepackt war. Der vergangene Sommer war regnerisch und kühl gewesen, die Ernte nicht so gut wie erwartet. Deshalb hatte Olivera darauf bestanden, mehr Vorräte als gewöhnlich anzulegen, damit sie den Winter über genügend Mehl in der Speisekammer hatten. Sie winkte ihm zum Gruß zu, ehe sie zum Tor lief und zurück auf die Straße trat.

Die Burg im Rücken, eilte sie den Hügel hinab zum Rathaus, vor dem an diesem Tag ein großer Viehmarkt stattfand. Das Blöken von Schafen vermischte sich mit dem Brüllen der Ochsen und dem Meckern der Ziegen, die sich um den Schönen Brunnen drängten. Zahlreiche Käufer sammelten sich zwischen den Verschlägen der Händler, die zum Teil von weit her angereist waren. Auf einem Teil des Marktplatzes, der mit einer roten Kordel abgetrennt worden war, warfen feurige Vollblüter wiehernd die Köpfe. Dort tummelten sich die reichen Nürnberger, die Fern- und Gewürzhändler, für die es eine Frage des Ansehens war, ein Pferd von solch edlem Blut zu besitzen.

Ohne auf das Getümmel zu achten, setzte Olivera ihren Weg fort, bis das Heilig-Geist-Spital vor ihr auftauchte. Auf den spitzen Dächern hockten Zugvögel, die schimpfend das Weite suchten, als sich ein Flügel des großen Tores mit einem lauten Schlag hinter einem Fuhrwerk schloss. Obwohl der übliche Andrang von Mägden, Knechten, Werkleuten und Bedürftigen herrschte, gelangte Olivera rasch in den Hanselhof, in dem es auch an diesem Tag geschäftig zuging. Sie fröstelte, als sie in die Schatten des riesigen Gebäudekomplexes eintauchte, hinter dem die Pegnitz rauschte. Zu ihrer Linken ragte die Spitalkirche in den Himmel, deren Glocke in diesem Moment die halbe Stunde schlug. Eine Gruppe von Insassen des Spitals war mit Holzhacken beschäftigt, andere kehrten oder holten Wasser aus dem Ziehbrunnen. Einige der stärkeren Männer halfen beim Entladen des Fuhrwerks, das unter einer alten Linde zum Stehen gekommen war. Die Kranken und Schwachen waren in der Siechenstube untergebracht, in der Tag und Nacht die Kusterin und mehrere Mägde über ihr Wohlergehen wachten. In den beiden größten Gebäuden des Spitals, die parallel angeordnet waren, befanden sich die Stuben. Daran grenzten je eine Küche für die Patienten der unteren und oberen Stuben an, ein Waschraum, eine Badestube für die Männer und eine für die Frauen und das heimliche Gemach für die Insassen. Außerdem waren hier die Einrichtungen für die armen Pfründner, das Narrenhäuslein und die Unterkunft für die Findlinge und Waisen untergebracht.

Da sich Matthäus meist in der Siechenstube aufhielt, wandte sich Olivera dorthin und betrat kurz darauf den Vorraum der großen Halle. Den Gestank von Schweiß, Kot und Urin nahm sie kaum mehr wahr, weil sie sich inzwischen daran gewöhnt hatte. Die Halle wurde von Säulenreihen in zwei gleich große Bereiche geteilt, in denen die Frauen und die Männer lagen. Bettkasten reihte sich an Bettkasten, viele der Kranken stöhnten leise vor sich hin oder schrien vor Schmerz. Die weißen Wände der Stube wurden von wenigen Fensterschlitzen unterbrochen, durch die schwaches Sonnenlicht auf den sauberen Boden fiel. Am Kopfende des langen Raumes befand sich eine Kanzel, von der ein Kaplan die Messe für die Bettlägerigen lesen konnte.

Nachdem sich ihre Augen an das Dämmerlicht in der Stube gewöhnt hatten, entdeckte Olivera Matthäus am Bett eines alten Weibleins, an dessen Hinterteil er sich zu schaffen machte. Die Frau litt unter Hämorrhoiden, die laut Hippokrates durch die Erhitzung des Blutes am After infolge von überschüssigen Gallensäften entstanden. Mithilfe eines Instrumentes führte Matthäus ein Zäpfchen in den Anus der Kranken ein, um ihre Beschwerden zu lindern. Da Hämorrhoiden diejenigen, die an ihnen litten, vor Lungenentzündung und anderen Krankheiten schützen konnten, vermied man es so weit wie möglich, sie zu verätzen oder zu veröden.

»Olivera«, begrüßte er sie, nachdem er die Alte auf den Rücken gedreht und zugedeckt hatte.

»Ich muss mit dir über Martin Groß’ Tochter reden«, kam Olivera ohne Umschweife zur Sache.

»Hat die Arznei geholfen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, sie leidet an dem, was Hippokrates die Heilige Krankheit nennt.«

Matthäus runzelte die Stirn. »An der Fallsucht?«

Olivera nickte.

Der Medicus nagte nachdenklich an seiner Lippe.

»Hast du sie bei deinem letzten Besuch geschröpft?«, erkundigte sich Olivera.

»Ich hatte sie zur Ader gelassen, aber das hat wenig Wirkung gezeigt.« Er rieb sich das Kinn. »Ich kenne die hippokratische Schrift zu dieser Krankheit. Er spricht auch davon, dass der Schädel zu öffnen ist, wenn Schröpfen und Purgieren sich als nutzlos erweisen. Du könntest recht haben mit deiner Vermutung«, gab er zu.

»Kannst du ihr helfen?«

Er zuckte mit den Schultern und warf einen Blick auf die lange Reihe der Betten. »Ich habe hier noch eine Weile zu tun«, sagte er. »Bereite ihr eine Arznei aus Helleborus und Wolfsmilch. Ich komme zu ihr, sobald ich kann.«

Olivera nickte und machte Anstalten zu gehen.

 

»Ich hoffe, deine Vermutung trifft zu«, seufzte Matthäus. »Eines der Waisenkinder hier im Spital zeigt dieselben Symptome wie das Mädchen.«

Olivera spürte eine böse Vorahnung in sich aufsteigen. Was, wenn sie sich irrte? Was, wenn eine neue Pest drohte? Noch war nicht klar, ob das Leiden tödlich verlief. Aber was, wenn es so war? Mit einem unguten Gefühl verließ sie die Siechenstube und kehrte in die Burgstraße zurück, um die Arznei zuzubereiten, um die Matthäus sie gebeten hatte.