Ein Dorf schweigt

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Ein Dorf schweigt
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Silke Naujoks

Ein Dorf schweigt

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Impressum neobooks

Kapitel 1

»Lauf Nummer vier!«, schrie ich.

»Nummer zwei! Abbu! Streng dich an! Nun mach schon, du musst gewinnen!«, schrie neben mir, Kim Wagenheber, meine Cousine.

Ihre ansonsten blassen Wangen waren heute stark gerötet und ihre braunen Locken hingen ihr wild in die Stirn. Sie wippte immer zu auf den Zehenspitzen, hatte die Hände zu Fäusten geballt und ruderte damit durch die Luft, als könnte dadurch ihr Windhund schneller rennen als meiner.

»Abbu, du darfst mich nicht enttäuschen«, rief sie aufgeregt.

Aber der Hund hatte keine Chance gegen die Nummer vier, deren Namen ich nicht behalten konnte. Er hieß Ibby oder Ikki oder Indy. Egal. Für mich war er die Nummer vier, und wenn er gewann, konnte ich mir am Wettschalter einen netten kleinen Gewinn abholen.

»Lauf!«, schrie ich wieder.

Ich strengte mich fast genauso an, wie der Hund, der hinter dem Hasenbalg herjagte. Abbu holte auf den letzten paar Metern auf, aber er war keine Gefahr für meinen Favoriten. Als der Sieger feststand, warf ich die Arme hoch und jubelte.

»JAAAAAA! Wir haben gewonnen!« Lächelnd umarmte ich meine Cousine und tanzte mit ihr, obwohl sie an meiner Freude nicht teilhaben konnte, denn ihr Hund hatte ja nur den ehrenvollen zweiten Platz gemacht. Mit saurem Gesicht, hüpfte Kim mit mir ein paar Mal im Kreis. Sie war ein Mädchen, das nicht verlieren konnte, ganz gleich, wobei. Aber das Leben und ich hatten ihr wieder einmal gezeigt, dass es niemanden auf der Welt gibt, der immer nur gewinnt. Eine Lehre, die ich der zarten Kim gern erteilte. Sie war so alt wie ich, also noch nicht ganz zwanzig und ich kann mit ehrlichem Gewissen sagen, dass wir einander gern hatten. Wenn Kim ihre Anwandlungen hatte, war es besser sie zu meiden, denn dann wurde sie leicht ungenießbar. Im Augenblick drohte sie diese Anwandlung wieder zu bekommen, deshalb ließ ich von ihr ab und holte meinen Gewinn, den mir meine Cousine selbstverständlich nicht gönnte. Um so mehr freute es mich, dass Abbu auf Platz zwei gelandet war.

Die gesamte Familie Arend war mit mir zum Hunderennen gegangen. Tante Liz, Onkel Wolfgang und deren Söhne Jo und Wilfred. Vor zehn Jahren hatte ich zum letzten Mal meine Schulferien hier verbracht. Dann war es meinen Eltern finanziell besser gegangen und sie hatten Spanien für uns als ideales Reiseziel entdeckt. Jahr für Jahr hatte Onkel Wolfgang sein Angebot erneuert, ich könne im Sommer wieder bei ihm wohnen. Vor allem Kim würde sich darüber freuen, weil sie dann eine gleichaltrige Spielgefährtin hätte, doch verbrachte ich die Ferien viel lieber im heißen, sonnigen Spanien. Erst in diesem Jahr entdeckte ich die alte Heimat als Urlaubsziel wieder und die Familie Arend freute sich über meinen Entschluss, zu ihr zu kommen. Ganz kurz, für zwei bis drei Tage waren meine Eltern mit mir hier auch während der vergangenen Jahre aufgetaucht. Oder die Arends waren für ein paar Tage zu uns nach Berlin gekommen, damit die verwandtschaftlichen Beziehungen nicht einfroren. Nur einen richtigen und schönen Urlaub hatte ich im Osten Deutschlands, der auch seine Reize hatte, schon lange nicht mehr verbracht.

Das nächste Rennen wurde angesagt.

»He, Cousinchen, auf welchen Hund setzt du diesmal?«, wollte Jo wissen. Er war dunkelhaarig und sportlich, wirkte manchmal ein bisschen steif und versnobt.

»Ich habe einmal gewonnen, ein zweites Mal fordere ich das Schicksal nicht heraus«, erwiderte ich. »Ich möchte das schöne Geld, das ich gewonnen habe, nicht wieder verlieren.«

»Das ist sehr vernünftig von dir«, lobte Tante Liz.

Ihr schönstes Kleid hatte sie aus dem Schrank geholt, um dem Ereignis einen würdigen Rahmen zu geben. Da konnte ich in Jeans und Pullover nicht mithalten, aber ich fühlte mich in dieser Kleidung am wohlsten. Vater sagte manchmal, ich wäre ein besserer Junge geworden und manchmal bedauere ich es wirklich schon, eine Frau zu sein, obwohl man mir sagte, dass ich hübsch sei. Nun hässlich bin ich nicht, aber selbst ist man immer kritischer als die anderen. Wenn ich schlechte Laune hatte und vor dem Spiegel stand, gefiel mir an meinem Gesicht so einiges nicht. Worauf ich aber immer stolz war, war mein langes goldblondes Haar mir den Naturwellen, um die mich Tante Liz schon oft beneidet hatte, denn ihr braunes Haar war glatt und sie musste jede Woche zum Frisör gehen, damit es nicht strähnig und unansehnlich wurde.

Ich hatte die ganze Zeit schon das Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden. Mehrmals hatte ich mich bereits suchend umgesehen, doch ich war dabei niemandes Blick begegnet. Jetzt wandte ich mich wieder um, während die Windhunde an den Start gebracht wurden.

»He«, rief Jo lachend, »das Rennen findet hier statt, Cousinchen. Nicht dort hinten.«

»Ist mir bekannt«, gab ich abgelenkt zurück.

Wenn ich doch nur gewusst hätte, wer sich für mich interessierte und aus welchem Grund.

Wilfred hastete noch schnell zum Wettschalter, und als er zurückkehrte, glänzten seine Augen als hätte er Fieber. Er war leicht übergewichtig, sah aber trotzdem gut aus. Man musste sich vor ihm jedoch in acht nehmen. Wenn man sich seinen Hass zuzog, war er imstande, einem das Leben zur Hölle zu machen.

Das zweite Rennen wurde gestartet. Da ich nicht gewettet hatte, hatte die Sache keinen Reiz für mich. Ich hielt Wilfreds Windhund ein wenig die Daumen, das war alles. Vielleicht wurde das Tier deshalb vorletzter. Wieder glaubte ich, dass mich jemand beobachtete, während Wilfred seinen Wettschein verdrossen auf den Boden warf und darauf trat, ließ ich meinen Blick erneut schweifen und nun entdeckte ich einen jungen, gutaussehenden Mann mit schwarzem Haar und dunklen Augen. Er schaute mich an und mir kam es vor, als sei er traurig. Als er merkte, dass ich ihn entdeckt hatte, sah er ganz schnell woanders hin. Ich stieß Kim an. Sie war ein umschwärmtes Mädchen. Ich hoffte, sie könnte mir sagen, wer dieser attraktive junge Mann war.

»Ja, was ist?«, fragte meine Cousine.

Ich schmunzelte. »Ich glaube, ich habe eine Eroberung gemacht.«

Dafür hatte sie immer Verständnis. Ihr Ärger darüber, dass sie beim vorherigen Rennen nicht gewonnen hatte, verflog. »Wirklich? Wer ist es?«

Heimlich wies ich auf den betreffenden Mann und wunderte mich, dass meine Cousine plötzlich blass wurde. Sie war wütend, entrüstet, empört. Ich konnte ihre heftige Reaktion nicht verstehen. »Kannst Du mir erklären ...«, begann ich, doch Kim beachtete mich nicht mehr.

Sie wandte sich an ihre Brüder und an die Eltern und alle reagierten mit der gleichen Empörung. »Dass er es wagt, sich in aller Öffentlichkeit zu zeigen«, sagte Tante Liz verächtlich.

»Wieso?«, fragte ich. »Wer ist das?« Sie überhörte meine Frage.

»Ich möchte, dass wir gehen«, sagte Onkel Wolfgang.

»Aber wieso denn?«, fragte ich. »Es kommen doch noch drei Rennen.«

»Wir haben keine Lust, länger hier zu bleiben«, stellte Onkel Wolfgang fest.

Na schön, er und seine Familie hatten vielleicht keine Lust mehr, aber ich wäre sehr gerne noch geblieben, doch ich musste mich den strengen Worten meines Onkels fügen. Wenn er sagte: ›Wir gehen nach Hause, dann gingen wir nach Hause, und zwar alle.‹

Einverstanden, ich wollte ja gar nicht stänkern, aber sie hätten mir wenigstens sagen können, warum ihnen dieser junge Mann so gründlich die Laune verdorben hatte. Merkwürdig. Obwohl ich nicht glaubte, ihn schon einmal gesehen zu haben, kam er mir nicht fremd vor. Da war etwas Vertrautes in seinen Zügen. War ich ihm vor zehn oder mehr Jahren schon mal begegnet? Hatten wir zusammen gespielt, als wir Kinder waren? Ich wäre am liebsten zu ihm gegangen und hätte ihn gefragt: ›Warum haben Sie mich die ganze Zeit beobachtet? Wer sind sie? Was wollen Sie von mir?‹

Jetzt hatte ich das Gefühl, meine Verwandtschaft wolle mich vor ihm in Sicherheit bringen. Meine beiden Cousins schirmten mich regelrecht ab. Wie Leibwächter kamen sie mir vor. Was sollte das? Stellte der junge Mann eine Bedrohung für mich dar? Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Er machte auf mich keinen gefährlichen Eindruck, aber ich musste zugeben, dass es mit meiner Menschenkenntnis nicht weit her war. Meine Verwandten drängten mich zum Parkplatz. Nach wie vor kannte ich den Namen des Mannes nicht. Die Arends hatten anscheinend vor, mich dumm sterben zu lassen und das ärgerte mich.

 

»Dürfte ich nun endlich erfahren, was ...«, begann ich, als wir Onkel Wolfgangs Wagen erreichten.

»Steig ein, Pam«, sagte er zu mir und seine Miene war schon lange nicht mehr so finster gewesen.

Ich gehorchte. Kim nahm neben mir Platz, Tante Liz setzte sich neben ihren Mann und Jo und Wilfred begaben sich zu dessen Wagen. Ein schöner Sonntagnachmittag war plötzlich umgeschlagen. Das Barometer zeigte auf einmal Schlechtwetter und ich hatte nicht den leisesten Schimmer, warum das so war. Wir fuhren durch den kleinen unscheinbaren Ort mit den lieblichen eng aneinander geschmiegten Häusern. Es war ein malerischer, ein wenig verträumter Ort und ich musste zugeben, dass es richtig gewesen war, ihn solange links liegen zu lassen. Der Ort war es wert, dass man öfter kam. Ich nahm mir vor, wenigstens jedes zweite Jahr hier meinen Urlaub zu verbringen, das ging natürlich nur, solange ich frei und ungebunden war. Wie lange ich das noch sein würde, hing nicht von mir alleine ab. Während der Fahrt wurde kein Wort gesprochen. Ich versuchte es zweimal, doch die Antwort war gleich null und so gab ich mein Bemühen erst mal auf, zu erfahren, wer der junge Mann war. Ewig konnten die ja nicht schweigen. Ich hoffte, dass sie zu Hause die Katze aus dem Sack lassen würden.

Zu Hause, das war ein altes Herrenhaus aus dem vorherigen Jahrhundert. Ein wenig unheimlich war es schon. Vor zehn Jahren war mir das nicht aufgefallen. Damals hatte ich noch die Unbekümmertheit eines Kindes besessen. Heute empfand ich anders und das Leben hatte mir trotz meiner Jugend ein paar Wunden geschlagen, die mich vorsichtiger und misstrauischer werden ließen. Deshalb hatte es mich zunächst ein bisschen erschreckt, als ich das Haus der Arends wiedersah, denn so düster und unheimlich war es mir nie vorgekommen. Doch nach nur zwei Tagen war das Unbehagen weg gewesen und ich fasste langsam Vertrauen zu dem Gebäude mit den dämmrigen Fluren und schummerigen Ecken und Winkeln. Das Haus der Arends stand außerhalb des Ortes und war umgeben von einem dichten, finsteren Wald, in dem man sich glatt verirren konnte. Während Kim und ich lieber in unseren Zimmern mit Puppen gespielt hatten, waren Jo und Wilfred viel in den Wäldern herumgezogen und es gab kaum einen Baum, an dem sie damals nicht hochgeklettert waren. Max, der alte Diener, empfing uns. Er sagte, er hätte uns noch nicht zurückerwartet und meine Verwandten machten es mit ihm genauso wie mit mir. Der junge Mann von der Windhundbahn wurde einfach totgeschwiegen, aber gerade dadurch war er besonders lebendig für uns. Man konnte ihn in unserer Mitte spüren. Hatten meine Verwandten Angst vor ihm? Wieso mieden sie seine Nähe, als hätte er irgendeine entsetzliche, ansteckende Krankheit? Dass sie partout nicht über ihn reden wollten, sah ich nicht ein, warum ich mich an ihrem eifrigen Schweigen beteiligen sollte. Nicht reden konnte ich auch in meinem Zimmer, deshalb zog ich mich dorthin zurück und niemand hatte etwas dagegen.

Der Raum war erst vor meiner Ankunft neu tapeziert und eingerichtet worden. Kein Möbelstück erinnerte mich an meine früheren Aufenthalte in diesem Haus. Da ich nicht wusste, was ich tun sollte, setzte ich mich vor den Frisörspiegel und kämmte mein blondes Haar. Aber eine Dauerbeschäftigung war das nicht. Nachdenklich betrachtete ich mein Spiegelbild und ich fragte mich, ob ich so wenig vertrauenswürdig war, das meine Verwandten nicht über alles mit mir sprechen wollten. Um die Zeit bis zum Abendessen totzuschlagen, begab ich mich zu dem kleinen Schreibtisch beim Fenster und begann einen Brief an meine Eltern zu schreiben.

›Liebe Eltern, heute habe ich etwas Merkwürdiges erlebt ...‹

Der Anfang gefiel mir nicht, ich knüllte das Papier zusammen und warf es auf den Boden. Warum eigentlich nicht in den Papierkorb?

›Liebe Eltern,

ich hoffe, es geht Euch gut. Schade, dass ihr nicht hier sein könnt. Ich vermisse Euch ...‹

Auch nichts. Der nächste Papierball landete auf dem Teppich.

›Liebe Eltern ...‹

Nun gefiel mir noch nicht einmal mehr die Anrede!

›Liebe Mutter, lieber Vater ...‹

Ach was. Ich gab auf, beim Aufstehen sammelte ich die Knäule ein und warf sie in den Papierkorb und lehnte mich neben dem Fenster an die Wand. Ein milder Lufthauch streichelte mein Gesicht. Mit halb gesenkten Lidern genoss ich die friedliche Atmosphäre. Das leise Rauschen der Bäume, das unermüdliche Zwitschern der Vögel. Die Natur brachte keinen Misston hervor und doch fühlte ich mich nach einer Weile unbehaglich. Wieder fühlte ich mich beobachtet. War das diesmal ein erstes Anzeichen von Verfolgungswahn? Ich versuchte zu vergessen und nach einer Weile gelang es mir auch. Stattdessen dachte ich an meine Kollegen in der Bank, von denen die meisten ihren Urlaub bereits hinter sich hatten. Simon Klausen kam mir in den Sinn, rötliches Haar, vorstehende Zähne, zuständig für die Schließfächer. Er hatte eine Schwäche für mich, aber ich nicht für ihn und ich hatte ihm das auch klipp und klar gesagt. Aber das hinderte ihn nicht daran, mich zu fragen, ob ich im Herbst mit ihm für ein paar Tage nach Irland reisen wollte. Meine Antwort war natürlich nein. Er kannte sie schon, bevor ich sie aussprach, doch ich konnte sicher sein, dass er mir bald einen ähnlichen Vorschlag machen würde. Simon Klausen war einer meiner hartnäckigsten Verehrer. Wahrscheinlich sagte er sich, Beharrlichkeit ist alles. Für mich jedenfalls nicht, das stand fest und Simon würde seinen Irrtum eines Tages einsehen und sich auf ein Mädchen, bei dem seine Chancen größer waren, konzentrieren. Eine Weile hatte ich Simon ganz deutlich vor mir. Dann wechselte das Bild und Simon Klausen wurde zu einem schwarzhaarigen, gutaussehenden Mann ohne Namen. Die Dämmerung setzte ein, ohne dass es mir bewusst wurde.

Kim klopfte an meine Tür. »Abendessen, Pam.«

›Großer Gott‹ ... Ich war noch nicht einmal umgezogen. Onkel Wolfgang liebte es nicht, wenn man nicht pünktlich am Tisch saß. Es hätte ihm auch missfallen, wenn ich in Jeans und Pullover erschienen wäre. Er hielt sehr viel auf Etikette. Dazu gehörte, dass ein weibliches Wesen während der Mahlzeiten ein Kleid trug.

»Ich komme sofort!«, rief ich und holte rasch ein Kleid aus dem Eichenschrank. Trotz der Eile hängte ich die Jeans über einen Kleiderhaken und legte den Pullover ordentlich zusammen. So viel Zeit musste sein, denn so hatten meine Eltern mich erzogen. Die Mienen meiner Verwandten hatten sich noch nicht geändert. Sie waren immer noch grimmig und verschlossen. Das bedeutete für mich, dass das Thema ›junger Mann‹ in diesem Haus nach wie vor tabu war. Dadurch schnellte meine Neugier natürlich noch weiter nach oben. Nach dem Abendessen spielte Kim für uns auf dem Klavier, lustlos wie mir schien, und es hörte ihr auch keiner interessiert zu. Sie spielte einfach, weil ihr Vater sie darum gebeten hatte und ich nahm an, er tat es, damit ich nicht wieder unbequeme Fragen stellte.

Schwer und schwarz breitete sich die Nacht über das alte Haus. Der unheimliche Ruf eines Käuzchens flog durch die Dunkelheit und ließ mich erschaudern. Ich befand mich wieder allein in meinem Zimmer, konnte mich aber noch nicht entschließen, zu Bett zu gehen. Bald würde der Mond aufgehen und sein silbernes Licht in mein Reich schicken. Ich beschloss, auf ihn zu warten. Versonnen näherte ich mich dem Fenster und im nächsten Moment zuckte ich leicht zusammen ...

Dort unten zwischen den Bäumen stand jemand. Ich konnte ihn nur vage erkennen, bildete mir aber ein, dass es der Mann von der Windhundrennbahn war. Was wollte er hier? Stand er meinetwegen dort unten? Meine Hand umschloss die Gardine. Ich hielt mich daran fest. Reglos wie eine Statue stand die Gestalt in der Finsternis. Je länger ich hinuntersah, desto undeutlicher wurde sie und bald war ich nicht mehr sicher, ob ich tatsächlich jemanden sah oder es mir nur einbildete. Mein Herz schlug ein bisschen schneller und ich nagte nervös an der Unterlippe. Sollte ich meine Verwandten alarmieren? Wenn ich mich irrte, scheuchte ich sie grundlos aus den Betten. Die Gestalt dort unten konnte durchaus auch nur in meiner Einbildung existieren. Rasch schloss ich die Augen, schüttelte den Kopf, und als ich die Lider wieder hob, war der Platz zwischen den Bäumen leer. Hatte ich ein Trugbild gesehen? Mir verging die Lust, auf den Mond zu warten. Ich legte mich ins Bett und wartete auf den Schlaf, der mich auch bald übermannte.

Kapitel 2

Das heftige Rauschen des Regens weckte mich im Morgengrauen und der Wind trug die Tropfen weit in mein Zimmer herein. Ich war gezwungen, aufzustehen und das Fenster zu schließen. Patschnass war der Teppichboden bereits. Während ich die Fensterflügel zuklappte, schaute ich unwillkürlich wieder dorthin, wo - möglicherweise - der Mann von der Hunderennbahn gestanden hatte. Trotz des Regens war die Sicht jetzt besser, aber der Platz dort unten war selbstverständlich leer. Gähnend kehrte ich ins warme Bett zurück, zog die Decke ans Kinn und schlief noch drei Stunden. Als ich wieder aufwachte, regnete es nicht mehr, aber der Morgen war grau und trist. So ein Wetter färbte meist auf mein Gemüt ab. Ich fühlte mich nicht sonderlich wohl. Mein normalerweise sehr ausgeprägter Unternehmungsgeist ließ sich nicht finden und ich musste lange kalt duschen, um meine Lebensgeister wenigstens einigermaßen in Schwung zu bringen. Als ich mein Zimmer verließ, begegnete ich Jo auf dem Flur.

»Guten Morgen, Cousinchen«, sagte er. »Hast Du gut geschlafen?«

»Einigermaßen, und Du?«

»Mich hat der Regen geweckt.«

Max brachte Kaffee.

»Ich habe einen Mordshunger«, sagte ich zu Jo.

Er lächelte. »Kein Wunder. Du hast die ganze Nacht nichts gegessen.«

Die Stimmung war an diesem Morgen etwas besser, aber so ganz im Lot war sie immer noch nicht. Ich ließ mir das reichhaltige, ausgiebige Frühstück gut schmecken. Auf meine Linie brauchte ich nicht zu achten, die war in Ordnung. Ich hatte damit wirklich noch nie Probleme gehabt, konnte essen, soviel ich wollte, ohne dick zu werden. Wilfred befand sich nicht in dieser beneidenswerten Lage. Er musste sich schon beim Frühstück bremsen und noch mehr beim Lunch und Dinner aufpassen. Er behauptete, er würde sogar durch ein Glas Wasser zunehmen. Das war natürlich Unsinn, aber es stimmte, das er schon Fett ansetzte, wenn er sich einmal erlaubte, genauso viel zu essen wie ich. Onkel Wolfgangs Glatze spiegelte an diesem Morgen, als hätte Max sie mit Bienenwachs gewienert. Er wartete, bis wir alle mit dem Essen fertig waren und dann zündete er sich eine Zigarre an. Es war immer ein feierlicher Akt, bis die Zigarre die richtige Glutkrone hatte. In dieser Zeit durfte niemand Onkel Wolfgang stören. Er war ein bisschen eigen, aber ich mochte ihn trotz seiner Schrulligkeiten. Er und mein Vater waren Brüder und sie sahen einander auch ein bisschen ähnlich. Zum Beispiel hatten beide diese samtbraunen, gutmütigen Augen. Das Haar meines Vaters war zwar schon schütter, aber er war noch weit davon entfernt, mit einer Glatze durchs Leben laufen zu müssen. Ich erkundigte mich nicht wieder nach dem jungen Mann von der Rennbahn. Dennoch war er plötzlich wieder bei uns. Wilfred zog die Augenbrauen grimmig zusammen und sprach als Erster von ihm. »Eine Frechheit sondergleichen ist das«, sagte er. »Wieso kommt er zurück, als wäre überhaupt nichts geschehen? Kann ihn denn niemand daran hindern?«

Onkel Wolfgang betrachtete seine Zigarre, »Man wird etwas gegen ihn unternehmen,«

»Hat man denn keine Handhabe gegen ihn?«, wollte Tante Liz wissen.

»Man wird eine finden müssen«, sagte Jo.

Ich schaute neugierig in die Runde und hoffte mit meiner Frage endlich den richtigen Moment zu erwischen. »Wer ist dieser junge Mann?«

Tante Liz lehnte sich zurück, holte tief Luft, blickte mich nicht an, verriet mir aber endlich den Namen. »Pascal. Pascal Moor.«

Pascal Moor! Jetzt wusste ich, warum er mir nicht völlig fremd war. Ich hatte als Kind oft mit ihm gespielt. Wir waren sogar so etwas wie ein Liebespaar gewesen. Harmlos, unschuldig ... Aber wir hatten uns geschworen, zu heiraten, sobald wir groß waren. ›Da sieht man wieder, was man von solchen Kinderschwüren halten konnte‹, dachte ich. Gestern erkannte ich Pascal nicht einmal wieder. Er schien mich aber wiedererkannt zu haben. Wahrscheinlich hatte ich mich nicht so sehr verändert wie er. Pascal war im Haus der Arends immer gern gesehen gewesen. Wieso fanden sie ihn auf einmal so unausstehlich, dass es fast zwölf Stunden dauerte, bis sie seinen Namen aussprachen?

 

»Er hat hier im Ort nicht mehr zu suchen!«, sagte Onkel Wolfgang unerbittlich.

»Aber er ist doch hier aufgewachsen«, wagte ich einzuwerfen.

Wilfred sah mich an, als hätte ich ihm den Krieg erklärt. »Du weißt nicht, was geschehen ist.«

»Du kannst es mir gerne verraten«, erwiderte ich ärgerlich. »Was hat Pascal verbrochen? Welche eine schreckliche Schuld hat er auf sich geladen?« Ich rechnete nicht damit, dass mir Wilfred darauf eine Antwort geben würde, aber er tat es und sie bestand nur aus einem Wort: »Mord!«

Mir war, als hätte mich mit jemand Eiswasser übergossen. Pascal Moor sollte ein Mörder sein? Niemals! Ich weigerte mich, diesen Unsinn zu glauben. Es war eine Ungeheuerlichkeit, Pascal sowas zu unterstellen. Ich hätte nicht übel Lust, meinem Cousin zu sagen, er sei verrückt. Er schien mir das anzusehen.

»Du glaubst mir nicht?«, fragte er.

»Nein«, sagte ich leidenschaftlich. »Pascal war immer ein anständiger, netter, sympathischer Junge.«

»Das liegt mindestens zehn Jahre zurück«, sagte Wilfred.

»Pascal ist kein Kind mehr. Er wurde mittlerweile ein Mann.«

»Ich bin sicher, sein Wesen hat sich nicht geändert«, verteidigte ich meinen ersten glühenden Verehrer. »Er ist charakterlich bestimmt immer noch so wie früher.«

»Leider irrst Du Dich, Cousinchen«, schaltete sich Jo in das Gespräch ein. »Pascal Moor hat sich total geändert. Aus dem Schaf wurde ein Wolf.«

»Ein Schaf im Wolfspelz«, fügte Wilfred hinzu. Die anderen sagte nichts, aber ich merkte, dass sie alle derselben Meinung waren. »Er sieht immer noch harmlos aus«, sagte Wilfred. »Aber er ist ein gefährlicher Einzelgänger geworden.« Ich wollte wissen, wen Pascal angeblich umgebracht hatte. »Werner Schüler«, sagte Wilfred. »Den reichsten Farmer hier im Ort. Kannst du dich an ihn erinnern?« Ich schüttelte den Kopf. »Reich, unleidlich, habgierig. Obwohl er der größte Grundbesitzer im weiten Umkreis war, konnte er nie genug kriegen. Unersättlich war er. Keinen einzigen Freund hatte er im Ort, es gibt kaum jemanden, der diesen Mann nicht gehasst hat, aber deshalb wäre es keinem in den Sinn gekommen, ihn umzubringen. Moor hat es getan.«

»Und warum?«

»Schüler wollte das Land haben, auf das Moors Haus steht.« Jo fuhr fort: »Moor erklärte, er würde auf keinen Fall verkaufen, um keinen Preis. Da fing Schüler an, ihm das Leben schwer zu machen. Aber anstatt zur Polizei zu gehen, ging Pascal Moor den falschen Weg.«

Ich glaubte es weiterhin nicht. Meine Cousins konnten mir erzählen, was sie wollten. Für mich war Pascal kein Mörder. »Wenn er wirklich schuldig wäre, könnte er doch nicht frei im Ort umherlaufen«, sagte ich.

»Das ist ja die Schweinerei«, erklärte Onkel Wolfgang. »Es gab einen Zeugen - Pepe Hufmüller.«

»Pepe Hufmüller?«, fiel ich meinem Onkel ins Wort, obwohl er es nicht schätzte. »Du meine Güte ... Soviel ich weiß, ist Hufmüller ein schwachsinniger Analphabet und ein Säufer noch dazu.«

»Hufmüller hat Moor gesehen«, sagte Onkel Wolfgang energisch. »Daraufhin holte man Pascal Moor aus seinem Haus und brachte ihn fort. Wir dachten nicht, ihn jemals wiederzusehen und plötzlich taucht er wieder auf, als sei nichts vorgefallen.«

»Man hat ihn sicher vor Gericht gestellt«, sagte ich.

»Das ist klar«, sagte Onkel Wolfgang, »aber irgendein verkalkter Richter muss ihn aus Mangel an Beweisen wieder auf freien Fuß gesetzt haben. Und nun lebt ein Mörder unter uns.«

»Kann es nicht sein, dass man Pascal den Mord in die Schuhe zu schieben versuchte?«, fragte ich.

Onkel Wolfgang blickte mich missmutig an. »Dieser Mann ist schuldig, so wahr ich Wolfgang Arend heiße! Wir wollen ihn nicht im Ort haben.«

»Ihr könnt ihm den Aufenthalt hier nicht verwehren.«

»Du hast keine Ahnung, was wir alles können, wenn wir zusammenhalten, Pam. Dieser Mann wird bald den ganzen Ort gegen sich haben. Wie lange, glaubst du, wird er das aushalten können?«

Ich war erschüttert. Pascal Moor wurde von meinen Verwandten verurteilt, obwohl das Gericht dazu nicht in der Lage gewesen war. Selbstherrlich stempelten sie ihn als Mörder ab und diesmal hatte Pascal keine Chance sich zu verteidigen. Denn was man gegen ihn vorbrachte, sprach man nicht in seiner Gegenwart aus und Onkel Wolfgang würde im Ort mit Sicherheit viele Gleichgesinnte finden. Ich hatte Mitleid mit dem jungen Mann.

Es liegt in meinem Wesen, dass ich mich immer auf die Seite des Schwächeren stelle und das war in diesem Fall eindeutig Pascal Moor. Ein Idiot, ein Alkoholiker, hatte angeblich den Mord beobachtet. Ein Mann, dem sonst niemand etwas glaubte. Aber dieses eine Mal nahm man ihn für voll und seine Aussage sollte Pascal zu Fall bringen. Glück für Pascal, dass der Richter sie nicht gelten ließ. Er schien nicht so verkalkt zu sein, wie Onkel Wolfgang behauptete. Dennoch sprachen die Arends den Freigesprochenen das Recht ab, mit ihnen im Dorf wieder zu leben. Das Dorf gehörte nicht nur ihnen. Es gehörte genauso Pascal Moor, auch er war ein Teil davon.

Ich hatte gestern den Eindruck gehabt, sein Blick sei traurig gewesen. Ich hatte mich nicht geirrt. Jetzt wusste ich, dass er in diesem Ort seines Lebens nicht mehr froh werden würde. An seiner Stelle hätte ich das Dorf verlassen, aber das kam für ihn wahrscheinlich nicht in Frage und ich konnte das sogar verstehen. Er pochte auf sein Recht, im Dorf leben zu dürfen. Wäre er fortgegangen, hätte man es ihm vielleicht als Flucht oder Schuldbekenntnis ausgelegt. Wahrscheinlich war es richtiger, zu bleiben und zu kämpfen.

»Übrigens«, sagte Jo, während er die Stoffserviette mit großer Sorgfalt zusammenlegte. »Kurz bevor ich ins Bett ging, glaubte ich, Pascal zwischen den Bäumen stehen zu sehen.«

Wilfred stieg die Zornesröte ins Gesicht. »Er war hier?«

»Ich bin nicht sicher«, sagte Jo.

Da er es aber auch sagte, war ich davon überzeugt, kein Trugbild gesehen zu haben.

»Du hättest sofort zu mir kommen sollen!«, sagte Wilfred aggressiv.

»Was hättest du getan?«, wollte Jo wissen.

»Ich hätte ein Gewehr genommen und ...«

Mich fröstelte es, obwohl Wilfred nicht weiter sprach. Ich war davon überzeugt, dass er ohne mit der Wimper zu zucken auf Pascal geschossen hätte. War das dann kein Mord? In Wilfreds Augen nicht, denn er glaubte, das Recht zu haben, Pascal wie einen tollwütigen Hund zu erschießen zu können.

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