Kristin Lavranstochter

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Kristin Lavranstochter
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Sigrid Undset

(1882–1949) gilt als eine der größten und einflussreichsten Schriftstellerinnen Norwegens. Ihre zeitgenössischen Romane Frau Marta Oulie und Jenny wurden wegen ihrer allzu selbständigen jungen Heldinnen zum Skandal. Als engagierte Antifaschistin stand Undset ganz oben auf der Roten Liste der Nazis und nach der Besetzung Norwegens konnte sie sich nur durch eine lebensgefährliche Flucht auf Skiern durch das Gebirge retten. Sigrid Undset erhielt 1928 »vornehmlich für ihre kraftvollen Schilderungen des nordischen Lebens im Mittelalter« den Literaturnobelpreis. Außer Kristin Lavranstochter schrieb sie die Erfolgsromane Olav Audunssohn, Viga-Ljot und Vigdis, Ida Elisabeth, Das glückliche Alter und viele andere mehr.

Gabriele Haefs

ist eine der bekanntesten Übersetzerinnen Deutschlands für den skandinavischen Raum (u. a. von Jostein Gaarder, Camilla Grebe, Anne Holt, Alexander L. Kielland). Sie wurde u. a. mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis ausgezeichnet, 2008 mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für ihr übersetzerisches Gesamtwerk, 2011 mit dem Königlich-Norwegischen Verdienstorden.

Zur Übersetzung

Die erste deutsche Übersetzung, von J. Sandmeier und S. Angerman, die in den 1920er Jahren entstanden ist, weist einige Abweichungen vom norwegischen Original auf: Eigennamen, Amtsbezeichnungen (die nicht übersetzt, sondern in der Originalfassung beibehalten wurden) und Ortsnamen sind vielfach in der dänischen Schreibweise wiedergegeben, was den Verdacht nahelegt, dass damals von der dänischen Übersetzung her übersetzt worden ist, nicht vom norwegischen Original. Beweisen können wir das allerdings nicht. Die vorliegende ist also vermutlich die erste Übersetzung ins Deutsche aus dem norwegischen Original.


Sigrid Undset

Kristin Lavranstochter

Band I: Der Kranz

Aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs

Mit Anmerkungen

1. Auflage, Stuttgart, Kröner 2021

ISBN DRUCK: 978-3-520-62101-6

ISBN EBOOK: 978-3-520-62101-7

Originaltitel: Kristin Lavransdatter. Kransen, 1920

Diese Übersetzung wurde publiziert mithilfe

der finanziellen Unterstützung durch


Umschlaggestaltung Denis Krnjaić unter Verwendung von:

Helen Allingham: Picking daisies at Westerham, Kent

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2021 Alfred Kröner Verlag Stuttgart · Alle Rechte vorbehalten

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

I Jørundhof

II Der Kranz

III Lavrans Bjørgulfssohn

Glossar

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Der Kranz


I Jørundhof
I

Nach dem Tod des jüngeren Ivar Gjesling auf Sundbo im Jahre 1306 fiel sein Grundstück in Sil an seine Tochter Ragnfrid und deren Ehemann Lavrans Bjørgulvssohn. Bisher hatten die beiden auf dem Lavrans gehörenden Hof Skog in Follo in der Nähe von Oslo gelebt, nun aber siedelten sie auf den in Gudbrandsdalen gelegenen Jørundhof über.

Lavrans stammte aus der Sippe, die in Norwegen als die Lagmannssöhne bekannt war. Sie waren aus Schweden gekommen, als Laurentius Østgøtalagmann die Schwester des Bjelbojarls, Jungfrau Bengta, aus dem Kloster Vreta entführt hatte und mit ihr nach Norwegen geflohen war. Herr Laurentius hatte bei König Haakon dem Alten in Diensten und in hohem Ansehen gestanden; der König hatte ihm den Hof Skog übertragen. Doch Laurentius lebte erst seit acht Jahren in Norwegen, als er an einer Seuche starb, und seine Witwe, die Folkungentochter, wie die Königstochter in Norwegen genannt wurde, kehrte nach Schweden zurück, söhnte sich mit ihrer Familie aus und ging schließlich in einem anderen Land eine reiche Heirat ein. Sie und Herr Laurentius hatten keine Kinder gehabt, und deshalb fiel Skog an Bengtas Schwager Ketil Skog. Der nun war Lavrans Bjørgulfsssohns Großvater gewesen.

Lavrans war schon als sehr junger Mann verheiratet worden. Er war erst achtundzwanzig, als er nach Sil kam, drei Jahre jünger als seine Gattin. Als Halbwüchsiger hatte er am Königshof in Diensten gestanden und eine gute Erziehung genossen, doch nach seiner Heirat war er auf seinem Hof geblieben, denn Ragnfrid war ein wenig wunderlich und schwermütig und fühlte sich unter den Menschen im Süden des Landes nicht wohl. Nachdem sie dann auch noch drei kleine Söhne in der Wiege verloren hatte, war sie geradezu menschenscheu geworden. Lavrans siedelte also vor allem deshalb nach Gudsbrandsdalen über, damit seine Frau in der Nähe ihrer Freunde und Verwandten wäre. Als sie dort eintrafen, hatten sie ein lebendes Kind, ein kleines Mädchen namens Kristin.

Doch auch nachdem sie sich auf dem Jørundhof niedergelassen hatten, lebten sie dort in aller Stille; Ragnhild schien keinen besonderen Wert auf ihre Verwandten zu legen, denn sie traf sie nur, wenn es sich anstandshalber nicht vermeiden ließ. Eine gewisse Rolle spielte dabei, dass Lavrans und Ragnhild außergewöhnlich fromme Menschen waren, die eifrig die Kirche besuchten, gern Diener Gottes, Menschen, die im Auftrag der Kirche unterwegs waren, und Pilger bei sich zu Gast hatten, wenn die auf dem Weg nach Nidaros durch das Tal kamen, und sie erwiesen ihrem Pfarrherrn – der ihr nächster Nachbar war und auf dem Romundshof wohnte – die höchsten Ehren. Die Menschen im Tal fanden eigentlich, dass das Reich Gottes sie an Abgaben, Gütern und Geld ohnehin genug kostete, deshalb meinten sie, es mit Fasten und Gebeten nicht übertreiben und Priester und Mönche erst ins Haus holen zu müssen, wenn die dort unbedingt gebraucht wurden.

Die Leute vom Jørundhof waren ansonsten hochgeachtet und überall gern gesehen, besonders Lavrans, der als starker und mutiger Mann bekannt war, dazu als friedliebend, zurückhaltend und gerecht, zuverlässig, höflich, als überaus tüchtiger Bauer und ausgezeichneter Jäger; vor allem machte er leidenschaftlich Jagd auf Wölfe, Bären und Raubtiere aller Art. In wenigen Jahren brachte er einen gewaltigen Grundbesitz an sich, war jedoch seinen Pächtern ein guter und hilfsbereiter Grundherr.

Ragnfrid ließ sich so wenig sehen, dass man schließlich kaum noch über sie sprach. In der ersten Zeit nach ihrer Rückkehr ins Tal hatten viele sich gewundert, denn sie erinnerten sich noch an die junge Ragnfrid in ihrem Elternhaus auf Sundbu. Sie war zwar nie schön gewesen, aber damals hatte sie doch anziehend und fröhlich gewirkt; nun wirkte sie so verhärmt, dass man sie für zehn und nicht für drei Jahre älter als ihren Mann hätte halten können. Allgemein war man der Ansicht, dass sie den Verlust ihrer Kinder zu schwernahm, denn ansonsten ging es ihr doch in jeder Hinsicht besser als den meisten anderen Frauen – sie lebte in großem Wohlstand und hohem Ansehen, und sie vertrug sich gut mit ihrem Mann, soweit andere das sehen konnten. Lavrans trieb es nicht mit anderen Frauen, er suchte in allen Angelegenheiten ihren Rat, und niemals sagte er ein böses Wort zu ihr, ob er nun nüchtern oder betrunken war. Und sie war doch noch jung genug, um noch viele Kinder zu bekommen, wenn Gott ihr also welche schenken wollte.

Es war nicht ganz leicht, Dienstboten auf den Jørundhof zu holen, da die Hausfrau so schwermütig war und weil alle Fasttage so streng eingehalten wurden. Ansonsten hatte das Gesinde dort ein gutes Leben, und nur selten waren Beschimpfungen oder Vorwürfe zu hören; Lavrans und Ragnfrid gingen bei allen Arbeiten mit gutem Beispiel voran. Lavrans war zudem auf seine Art auch gesellig, war gern beim Tanz dabei und machte den Vorsänger, wenn sich die Jugend in den Vigiliennächten auf dem Kirchplatz vergnügte. Als Dienstboten aber gingen vor allem ältere Menschen auf den Jørundhof, sie fühlten sich wohl dort und blieben lange.

 

Als die kleine Kristin sieben Jahre alt war, sollte sie einmal ihren Vater zu einer ihrer Almen begleiten.

Es war ein schöner Morgen im späteren Sommer. Kristin stand auf dem Dachboden, wo sie jetzt im Sommer schliefen; sie sah, dass draußen die Sonne schien, und sie hörte ihren Vater auf dem Hofplatz mit den Knechten reden – sie freute sich so, dass sie nicht stillhalten konnte, während ihre Mutter sie anzog, sie hüpfte und sprang herum, sowie ihr ein neues Kleidungsstück angelegt worden war. Sie war noch nie oben im Gebirge gewesen, sondern nur durch die Schlucht nach Vågå gelaufen, wenn die Verwandten ihrer Mutter auf Sundbo besucht wurden, und außerdem in den Wäldern der Umgebung, zusammen mit der Mutter und den Hausmägden, wenn sie Beeren pflücken gingen, mit denen Ragnfrid ihr Dünnbier anreicherte. Sie bereitete außerdem ein saures Mus aus Preiselbeeren und Moosbeeren zu, das in der Fastenzeit vor Ostern anstelle von Butter zum Brot gegessen wurde.

Die Mutter wickelte Kristins lange blonde Haare auf und verstaute sie in ihrer alten blauen Mütze, küsste die Tochter auf die Wange, und Kristin rannte zu ihrem Vater hinunter. Lavrans saß bereits im Sattel, er hob seine Tochter hinter sich, wo er seinen Umhang wie ein Kissen zum Sitz aufgerollt hatte. Dort saß Kristin dann rittlings und hielt sich an seinem Gürtel fest. Sie riefen der Mutter einen Abschiedsgruß zu, doch die kam mit Kristins Umhang angelaufen, reichte ihn Lavrans und bat ihn, gut auf das Kind aufzupassen.

Die Sonne schien, aber in der Nacht hatte es heftig geregnet, deshalb sprühten und rauschten die Bäche überall am Hang, und Nebelschwaden trieben an den Felswänden vorbei. Über dem Hügelkamm jedoch schwebten weiße Schönwetterwolken in der blauen Luft, und Lavrans und seine Männer sprachen darüber, dass es wohl doch ein heißer Tag werden würde. Lavrans hatte vier Knechte bei sich, und alle waren ordentlich mit Waffen ausgestattet, denn um diese Jahreszeit trieb sich allerlei Gesindel im Gebirge herum – obwohl sie so viele waren und eine so kurze Strecke vor sich hatten, dass ihnen wohl kaum etwas passieren würde. Kristin mochte diese Knechte gern, drei waren schon etwas älter, der vierte jedoch, Arne Gyrdssohn von Finsbrekken, war ein halbwüchsiger Junge und Kristins bester Freund; er ritt dicht hinter Lavrans und ihr, und er sollte ihr alles erklären, was sie unterwegs sehen und beobachten konnten.

Sie ritten zwischen die Häuser des Romundshofes und begrüßten den Priester Eirik. Der stritt sich vor dem Haus mit seiner Tochter, die ihm den Haushalt führte, über eine Lage frischgefärbter Wolle, die sie am Vortag draußen vergessen hatte; jetzt war alles vom Regen verdorben.

Am Hang oberhalb des Pfarrhofs stand die Kirche, sie war nicht groß, aber schön, in gutem Zustand und frisch geteert. Bei dem Kreuz vor dem Kirchhofstor nahmen Lavrans und seine Männer die Hüte ab und verneigten sich; dann drehte sich der Vater im Sattel um, und er und Kristin winkten der Mutter zu, die sie auf der Hauswiese vor ihrem Hof sehen konnten. Ragnfrid winkte mit einem Zipfel ihres Kopftuchs zurück.

Hier auf der Kirchwiese und auf dem Kirchhof spielte Kristin fast jeden Tag, heute aber, da sie eine so weite Reise antreten sollte, kam dem Kind der vertraute Anblick von Hof und Dorf ganz neu und fremdartig vor. Die Gebäude auf dem Jørundhof schienen kleiner und grauer geworden zu sein, wie sie dort im Tal lagen. Der Fluss schlängelte sich glitzernd vorbei, und das Tal breitete sich vor ihr aus, mit seinen grünen Wiesen und Mooren ganz unten und den Höfen mit Feldern und Weiden an den Hängen unter den steilen, grauen Felswänden.

Kristin wusste, dass tief unten, wo die Berge sich trafen und den Weg versperrten, der Loptshof lag. Dort hausten Sigurd und Jon, zwei weißbärtige alte Männer, die immer mit ihr spielen und scherzen wollten, wenn sie auf den Jørundhof kamen. Kristin hatte Jon gern, denn er schnitzte wunderschöne Holztiere für sie, und einmal hatte er ihr einen goldenen Ring geschenkt. Bei seinem letzten Besuch, das war zu Pfingsten gewesen, hatte er ihr einen Ritter mitgebracht, der so prachtvoll geschnitzt und bemalt war, dass Kristin glaubte, nie ein schöneres Geschenk bekommen zu haben. Sie musste ihn jeden Abend mit ins Bett nehmen, doch wenn sie morgens aufwachte, stand der Ritter auf dem Absatz vor dem Bett, in dem sie zusammen mit ihren Eltern schlief. Der Vater sagte, der Ritter springe beim ersten Hahnenschrei auf, aber Kristin wusste, dass die Mutter ihn wegnahm, wenn sie eingeschlafen war, sie hatte Ragnfrid nämlich sagen hören, er sei so hart und kantig, dass sie nachts nicht aus Versehen auf ihm zu liegen kommen wolle. – Vor Sigurd vom Loptshof fürchtete Kristin sich allerdings, und sie wollte nicht auf seinem Schoß sitzen müssen, denn dann sagte er immer, wenn sie erst alt genug wäre, würde sie in seinen Armen schlafen. Er hatte zwei Frauen überlebt, und er meinte, die dritte würde er sicher auch noch unter die Erde bringen, und dann könnte Kristin die vierte werden. Doch wenn sie deshalb weinte, lachte Lavrans und meinte, Margit werde wohl nicht so schnell den Geist aufgeben, aber wenn es doch so schlimm käme und Sigurd auf Freiersfüßen bei ihm erschiene, würde er sich eine Absage holen, da brauche Kristin sich keine Sorgen zu machen.

Ungefähr einen Bogenschuss nördlich der Kirche lag ein gewaltiger Steinblock neben dem Weg, umgeben von dichtstehenden Birken und Espen. Dort spielten die Kinder oft Kirche, und Tomas, der jüngste Sohn von Priester Eiriks Tochter, las nach dem Vorbild seines Großvaters die Messe, spritzte mit Weihwasser um sich und taufte, wenn sich in den Mulden im Stein genug Wasser angesammelt hatte. Im vergangenen Herbst hatte dieses Spiel einmal ein böses Ende genommen. Zuerst hatte Tomas Kristin und Arne getraut – Arne war noch nicht zu alt, um mit den Kindern zu spielen, wenn seine Pflichten ihm das erlaubten. Dann hatte Arne ein Ferkel eingefangen, und das wurde nun zur Taufe getragen. Tomas salbte den Täufling mit Schlamm, tunkte ihn in ein Wasserloch und äffte seinen Großvater nach, er sang auf Latein und schimpfte die Gemeinde aus, weil sie nicht genug geopfert hatte – und da lachten die Kinder, denn sie hatten die Erwachsenen oft genug über Eiriks gewaltige Geldgier reden hören. Und je mehr sie lachten, um so wildere Einfälle hatte Tomas; jetzt behauptete er, dieses Kind sei in der Fastenzeit gezeugt worden, und sie müssten dem Priester und der Kirche für ihre Sünden Buße leisten. Die großen Jungen schrien nun vor Lachen, aber Kristin schämte sich so sehr, dass ihr die Tränen kamen, wie sie da mit dem Ferkel in den Armen stand. Und während sie mit diesem Spiel beschäftigt waren, kam zu ihrem Unglück Eirik von einem Besuch in der Gemeinde zurückgeritten. Als er begriff, was die Kinder da trieben, reichte er das heilige Gefäß so plötzlich Bentein, seinem ältesten Enkel, der ihn begleitet hatte, dass diesem die silberne Taube mit dem Leib des Herrn fast auf den Boden gefallen wäre; der Priester aber stürzte sich auf die Kinder und schlug auf alle ein, die er zu fassen bekam. Kristin ließ das Ferkel los, und das jagte kreischend und mit wehendem Taufkleid den Weg hinab, so dass sich die Pferde des Priesters vor Schreck aufbäumten; der Priester schüttelte auch Kristin so heftig, dass sie stürzte, und er trat so heftig nach ihr, dass ihr noch viele Tage später die Hüfte wehtat. Als Lavrans davon hörte, meinte er, Eirik sei doch zu streng zu Kristin gewesen, sie sei doch noch so klein. Er sagte, er werde mit dem Priester darüber reden, aber Ragnfrid bat ihn, das nicht zu tun, denn dem Kind sei nur Recht geschehen, hatte es sich doch an einem dermaßen gotteslästerlichen Spiel beteiligt. Lavrans erwähnte die Sache danach nicht wieder, verpasste Arne aber die schlimmsten Prügel, die der Junge jemals erhalten hatte.

Als sie nun an dem Stein vorüberritten, zupfte Arne Kristin am Ärmel. Er wagte nicht, vor Lavrans etwas zu sagen, schnitt aber Grimassen, grinste und klopfte sich auf das Hinterteil. Doch Kristin senkte beschämt den Kopf.

Der Weg führte durch einen dichten Wald. Sie ritten unter Hammerås weiter, das Tal wurde eng und finster, und das Rauschen des Flusses wurde lauter und wilder – als sie für einen Moment den Lågen sahen, strömte er eisgrün und von weißem Schaum bedeckt zwischen steilen Felswänden dahin. Das Gebirge war auf beiden Seiten des Tales schwarz bewaldet, es war düster und unheimlich und eng hier in der Schlucht, und ein eiskalter Wind wehte. Sie ritten über den Steg, und bald sahen sie unten im Tal die Brücke über den Fluss. In einer Höhle ein Stück flussab von dort hauste ein Nöck. Arne wollte Kristin davon erzählen, aber Lavrans untersagte dem Jungen streng, hier im Wald solche Reden zu führen. Und als sie die Brücke erreicht hatten, sprang er vom Pferd und führte es am Zaum hinüber, während er seiner Tochter den anderen Arm um den Leib legte.

Am anderen Flussufer führte ein Weg steil nach oben, deshalb stiegen die Männer ab und gingen zu Fuß, der Vater aber hob Kristin auf den Sattel, damit sie sich am Sattelknauf festhalten könnte. Nun durfte sie also allein auf Gullsvein reiten.

Neue kahle Felskuppen und Gipfel mit Schneeflecken ragten über ihnen auf, als sie weiter hinauf kamen, und jetzt ahnte Kristin zwischen den Bäumen das Dorf im Norden der Schlucht. Arne zeigte auf die Höfe, die sie erkennen konnte, und erzählte ihr, wie sie hießen.

Hoch oben am Hang erreichten sie ein kleines Gehöft. Sie blieben am Bretterzaun stehen, und ihre Rufe hallten zwischen den Bergen wider. Zwei Männer kamen zwischen den schmalen Ackerstreifen nach unten gerannt, die Söhne des Hofbesitzers. Sie waren tüchtige Teerbrenner, und Lavrans wollte sie in Dienst nehmen. Ihre Mutter folgte ihnen mit einer großen Schüssel Milch aus dem Keller, denn es war ein heißer Tag geworden, wie die Männer es erwartet hatten.

»Ich habe gesehen, dass du deine Tochter mitgebracht hast«, sagte die Frau nach der Begrüßung. »Und da wollte ich sie doch einmal anschauen. Nimm ihr die Mütze ab, ich habe gehört, dass sie so schöne Haare hat.«

Lavrans tat ihr den Gefallen, und Kristins Haare fielen ihr über den Rücken und bis auf den Sattel. Sie waren üppig und golden wie reifer Weizen. Isrid, wie die Frau hieß, griff hinein und sagte:

»Ja, jetzt sehe ich, dass es nicht übertrieben ist, was über deine kleine Tochter erzählt wird – sie ist schön wie eine Lilie und sieht aus wie das Kind eines Ritters. Sanfte Augen hat sie; sie kommt nach dir und nicht nach den Gjeslingen. Gebe Gott, dass sie dir Freude macht, Lavrans Bjørgulfssohn! Und du reitest so elegant wie ein Mann vom Hofe auf Gullsvein«, scherzte sie und hielt die Schüssel, während Kristin trank.

Das Kind errötete vor Freude, denn es wusste, dass der Vater als der schönste Mann weit und breit galt, und er sah wirklich aus wie ein Ritter, wie er hier zwischen seinen Männern stand, und dabei war er gekleidet wie ein Bauer, so, wie er im Alltag zu Hause eben angezogen war. Er trug eine ziemlich weite, kurze Jacke aus grüngefärbtem Fries, am Hals offen, so dass das Hemd zu sehen war; ansonsten hatte er Strümpfe und Schuhe aus ungefärbtem Leder und auf dem Kopf einen altmodischen, breitkrempigen Wollhut. Sein Schmuck bestand nur aus einer glatten, silbernen Gürtelschnalle und einer kleinen Silbernadel am Hemdausschnitt; außerdem war an seinem Hals ein Stück einer goldenen Halskette zu sehen. Die trug Lavrans immer, und an ihr hing ein goldenes, mit großen Bergkristallen besetztes Kreuz. Das Kreuz ließ sich öffnen, es enthielt ein Stück vom Leichenhemd Sankt Helenas von Skøvde und einige ihrer Haare, denn die Lagmannssöhne leiteten ihre Sippe von den Töchtern dieser seligen Frau her. Wenn Lavrans im Wald zu tun hatte oder andere schwere Arbeit verrichten musste, schob er das Kreuz auf seine nackte Brust, um es nicht zu verlieren.

Er sah in seiner groben Alltagskleidung allerdings vornehmer aus als manche Ritter oder Hofleute im Festgewand. Er war wunderschön gewachsen, groß, mit breiten Schultern und schmalen Hüften, dazu ein wenig länglichen Gesichtszügen – etwas füllige Wangen, ein schön gerundetes Kinn und einen perfekt geschwungenen Mund. Außerdem war er blond, hatte einen hellen, gesunden Teint, graue Augen und dichte, glatte, seidenweiche Haare.

 

Er blieb noch eine Weile stehen und plauderte mit Isrid über deren Angelegenheiten, erkundigte sich nach Tordis, einer Verwandten von Isrid, die in diesem Sommer auf der Alm des Jørundhofes beschäftigt war. Tordis hatte erst kürzlich ein Kind bekommen! Isrid wartete nur auf sicheren Schutz durch den Wald, dann würde sie den Jungen zur Kirche bringen und taufen lassen. Lavrans meinte, dann solle sie mit ihnen hinauf kommen, er werde am nächsten Abend wieder hinunterreiten, und dann hätten sie und das kleine Heidenkind viele Männer zur Begleitung.

»Ehrlich gesagt habe ich auf dieses Angebot gewartet«, erwiderte Isrid. »Wir Armen hier oben am Rand des Ödlandes wissen, dass du uns gern einen Gefallen tust, wenn du herkommst.« Dann lief sie zum Gehöft zurück, um einen Umhang zu holen und ihn umzubinden.

Lavrans fühlte sich wohl bei diesen kleinen Leuten, die hoch oben am Rand des Dorfes auf Rodungen und Siedlerstätten hausten; bei ihnen war er immer munter und zu Scherzen aufgelegt. Mit ihnen sprach er über die Wanderungen der Tiere im Wald und der Rentiere auf der Hochebene und über die vielen Spukgestalten, die an solchen Orten umgehen. Und er stand ihnen mit Rat und Tat und Handreichungen zur Seite, kümmerte sich um ihr krankes Vieh, half ihnen in der Schmiede und bei Zimmermannsarbeiten – ja, manchmal wandte er all seine Kraft auf, wenn Steine oder Wurzeln aus dem Boden gebrochen werden mussten. Deshalb wurden Lavrans Bjørgulfssohn und Gullsvein hier freudig begrüßt. Gullsvein, der große rote Hengst, war ein schönes Tier mit blankem Fell, weißer Mähne und hellen Augen – stark und kühn wurde er in den Dörfern genannt, Lavrans gegenüber aber war der Hengst lammfromm, und Lavrans behauptete immer das Tier so sehr zu lieben wie einen jüngeren Bruder.

Als Erstes wollte Lavrans nach dem Holzhaufen auf Heimhaugen sehen, denn in den harten Fehdezeiten vor hundert Jahren oder mehr hatten die Bauern an einigen Stellen oben im Tal Baumstämme aufgehäuft, wie die Meldefeuer entlang der Fahrwasser an der Küste, doch diese Markierungen im Gebirge wurden offiziell nicht als Teil der Landesverteidigung angesehen. Die Bauerngilden hielten sie instand, und die Gildenbrüder wechselten sich mit der Instandhaltung ab.

Als sie sich der ersten Alm näherten, ließ Lavrans alle Pferde außer dem Saumpferd auf die Koppel laufen, und darauf folgten sie einem steilen Pfad nach oben. Riesige Kiefern standen dort tot und knochenweiß am Rand der Moore – und Kristin sah in allen Richtungen kahle Felskuppen vor dem Himmel auftauchen. Sie wanderten lange Zeit durch Geröllhalden, an einigen Stellen floss ein Bach über den Pfad, und dann musste der Vater sie tragen. Der Wind hier oben war kräftig und frisch, und die Heide war schwarz vor Beeren, aber Lavrans sagte, sie hätten jetzt keine Zeit zum Pflücken. Arne lief bald vor, bald hinter ihnen her, riss für Kristin Zweige mit Beeren ab und erzählte ihr, wessen Alm sie dort unten im Wald gerade sahen – denn damals war ganz Høvringsvangen bewaldet. Schließlich befanden sie sich unter der letzten runden, nackten Felskuppe und sahen die in die Luft ragenden schwarzen Holzstämme und die unter einem Felshammer gelegene Wachthütte.

Als sie oben auf dem Kamm anlangten, schlug ihnen der Wind entgegen und packte ihre Kleider – und Kristin kam er vor wie etwas Lebendiges, das ihnen hier oben entgegenflog, um sie zu begrüßen. Der Wind wehte, und ihre Kleidungsstücke flatterten, während Kristin und Arne über die Moosflächen liefen. Die Kinder setzten sich an den Rand einer Felsspitze, und Kristin schaute sich mit weitaufgerissenen Augen um, nie hatte sie sich vorgestellt, dass die Welt so weit und groß sein könnte. Überall unter sich sah sie bewaldete Hochebenen, das Tal war nur ein Spalt zwischen den riesigen Bergen, und die Seitentäler wurden zu noch schmaleren Spalten. Es gab viele davon, aber trotzdem waren es wenige Täler und viele Berge. Überall ragten von flammendem Heidekraut bedeckte Felskuppen über dem Waldrand auf, und in der Ferne sah sie die blauen Bergriesen mit den weißen Schneeflecken, die sich für das Auge mit den graublauen und glänzendweißen Sommerwolken vermischten. Aber im Nordosten, ganz in der Nähe – gleich hinter dem zur Alm gehörenden Wald –, lag eine Gruppe von gewaltigen, steinblauen Bergkuppen mit Rinnen voller Neuschnee an den Seiten. Kristin begriff, dass das das Rondane-Massiv sein musste, die Eberberge, und sie sahen wirklich aus wie eine Herde von riesigen Ebern, die ins Landesinnere liefen und dem Dorf das Hinterteil zukehrten. Arne aber behauptete, sie seien doch noch einen Halbtagesritt entfernt.

Kristin hatte geglaubt, wenn sie nur den ihrem Dorf nächstgelegenen Bergkamm erreicht hätten, würde sie auf ein anderes Dorf wie ihr eigenes hinabblicken können, mit Gehöften und eingezäunten Weiden, und ihr Herz wurde seltsam schwer bei der Erkenntnis, wie weit die von Menschen bewohnten Orte voneinander entfernt lagen. Sie sah die gelben und grünen Pünktchen unten im Tal und die winzigen Lichtungen mit den grauen Haustupfen an den Hängen; sie fing an, sie zu zählen, aber als sie bei drei Dutzend angekommen war, konnte sie die Zahlen nicht mehr im Kopf behalten. Und dabei waren die Wohnstätten der Menschen doch wie nichts in dieser endlosen Wildnis.

Sie wusste, dass im Wald Bär und Wolf regierten, und unter den vielen Steinen wohnten Trolle und Wichtel und das Elfenvolk; sie fürchtete sich, denn niemand wusste, wie viele es waren, doch jedenfalls gab es sehr viel mehr davon als Christenmenschen. Nun rief sie laut nach ihrem Vater, aber er hörte sie nicht in dem rauen Wind hier oben – er und die Männer rollten riesige Felsbrocken den Steilhang hinauf, um damit die Baumstämme im Holzhaufen zu stützen.

Dann aber kam Isrid zu den Kindern und zeigte ihnen, wo die westlichen Vågåberge lagen. Und Arne zeigte ihr Gråfjell, wo die Leute aus den Dörfern in Fallgruben Rentiere fingen und die Falkenjäger des Königs in Steinhütten auf der Lauer lagen. Arne wollte später auch einmal Falkenjäger werden, aber dann wollte er auch lernen, Falken zur Jagd abzurichten – und er hob die Arme, wie um den Falken losfliegen zu lassen.

Isrid schüttelte den Kopf.

»Das ist ein hartes Leben, Arne Gyrdssohn – für deine Mutter wäre es ein großer Kummer, dich als Falkenfänger sehen zu müssen, mein Junge. Da kann keiner überleben, wenn er sich nicht mit den schlimmsten Verbrechern und denen, die noch schlimmer sind, verbrüdert.«

Lavrans war dazugekommen und hatte die letzten Worte gehört:

»Ja«, sagte er. »Da gibt es wohl mehr als nur ein Nest von denen, das weder Schulden noch den Zehnten bezahlt …«

»Ja, du kennst dich sicher aus mit solchen Dingen, Lavrans«, sagte Isrid, um ihn zum Erzählen aufzufordern. »So weit, wie du herumkommst …«

»Ach – naja.« Lavrans zögerte mit der Antwort. »Kann schon sein – aber ich finde nicht, dass man über solche Dinge sprechen sollte. Man muss den Leuten, die den Frieden hier in den Dörfern verspielt haben, den Frieden gönnen, den sie in den Bergen finden können, meine ich. Und ich habe gelbe Äcker und prachtvolle Heuwiesen dort gesehen, wo nur wenige Leute wissen, dass es Täler gibt – und ich habe Herden von Groß- und Kleinvieh gesehen, aber ich weiß nicht, ob die den Menschen oder den anderen gehören …«

»Ach ja«, sagte Isrid. »Petz und Isegrim wird die Schuld für das Vieh zugeschoben, das hier auf den Almen verschwindet, aber im Gebirge gibt es ärgere Räuber als sie.«

»Ärger nennst du sie?«, fragte Lavrans nachdenklich und strich der Tochter über die Mütze. »In den Bergen südlich vor Rondane habe ich einmal drei kleine Jungen gesehen; der größte war wie Kristin hier – sie hatten gelbe Haare und Fellwämser. Sie fletschten vor mir die Zähne wie Wolfsjunge, ehe sie davonrannten und sich versteckten. Es ist wohl kein Wunder, wenn der arme Mann, der ihr Vater ist, sich gern eine oder zwei Kühe holen möchte …«

»Ach, Junge haben auch Wolf und Bär«, versetzte Isrid empört. »Und die verschonst du nicht, Lavrans, weder die Eltern noch die Jungen. Dabei haben sie nichts von Gesetz oder Christentum gehört, wie diese Übeltäter, für die du nur das Beste willst …«

»Findest du, dass ich für sie nur das Beste will, weil ich für sie etwas Besseres will als das Allerschlechteste?«, fragte Lavrans mit einem leisen Lächeln. »Aber komm jetzt, wir wollen mal sehen, was Ragnfrid uns heute Gutes eingepackt hat.« Er nahm Kristin an die Hand und ging mit ihr weiter. Und er beugte sich über sie und sagte leise: »Ich musste an deine drei kleinen Brüder denken, Kristin.«

Sie warfen einen Blick in die Schutzhütte, aber dort war die Luft stickig und es roch nach fauliger Erde. Kristin durfte sich kurz umsehen, doch es gab nur einige aus Erde aufgehäufte Lager an den Wänden, eine Feuerstätte mitten im Boden und außerdem Tonnen voller Teer und Bündel aus Kienspänen und Birkenrinde. Lavrans wollte lieber draußen essen, und ein Stück weiter unten bei einigen Birken fanden sie eine schöne grüne Stelle.

Sie luden das Saumpferd ab und streckten sich im Gras aus. In Ragnfrids Ranzen fanden sie allerlei Gutes – weiches Brot und feine Kuchenfladen, Butter und Käse, Speck und luftgetrocknetes Rentierfleisch, fette, gekochte Rinderbrust, zwei große Krüge voll mit deutschem Bier und einen kleinen voller Met. Rasch hatten sie das Fleisch zerschnitten und verteilt, während Halvdan, einer der Männer, Feuer machte – es war hier weniger gefährlich, ein Feuer zu entfachen, als im Nadelwald.