Eigentlich eine gute Idee

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Sigrid Schüler

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Kapitel 1: Der Anruf

Kapitel 2: Die Briefe

Kapital 3: Ich brauche eine Strategie

Kapitel 4: Ina

Kapitel 5: Brigitte

Kapitel 6: Svetlana

Kapitel 7: Annette

Kapitel 8: G.

Kapitel 9: Eine Lösung

Kapitel 10: Am Ende ist alles gut

Kapitel 11: Unvermutet

Kapitel 12: Auf dem Markt

Kapitel 13: Ganz weit weg

Kapitel 14: Vergessen bei gutem Essen

Kapitel 15: Was geschah im Sahnehäubchen?

Kapitel 16: Sonntag

Kapitel 17: Beim Arzt

Kapitel 18: Bringen Sie Klarheit in Ihre Beziehungen

Danksagung

Impressum neobooks

Vorwort

Um eins klarzustellen: Ricarda ist nicht so. Sie ist eigentlich ganz anders, und sie würde sowas nie tun. Okay, sie hat manchmal merkwürdige Ideen, aber sie meint es nicht böse. Nie! Fast nie. Und für diese Geschichte kann sie eigentlich gar nichts. Was passiert ist, ist ganz allein meine Schuld. Ricarda ist nämlich erfunden, frei erfunden, und es gibt sie gar nicht. Und diese Geschichte sollte, zumindest war das meine Absicht, ganz anders laufen. Ricarda ist als erfundene Person einfach so reingeschlittert, wie das eben im Leben so ist. Und das Leben ist nicht planbar, auch wenn wir das nicht wahrhaben wollen und andauernd Pläne schmieden. Und so war diese Geschichte auch ganz anders geplant, als sie jetzt geworden ist. Ich muss zugeben: Ich habe die Kontrolle verloren, und Ricarda muss es jetzt ausbaden. Sorry.

Kapitel 1: Der Anruf

Suche für meinen Ex, 52 Jahre, Nichtraucher, ehrlich und verantwortungsbewusst, eine Frau fürs Leben. Sie sollte zwischen 45 und 55 Jahre alt sein, häuslich und liebevoll. Gerne auch mit Kindern. Bitte nur ernstgemeinte Zuschriften. Jede Zuschrift wird beantwortet.

„Wie teuer ist das?“, frage ich empört.

„Wir berechnen unsere Preise nach Anzahl Wörter beziehungsweise nach Zeichen.“ Die Dame am anderen Ende der Leitung bleibt auch nach meinem Ausbruch gelassen und freundlich. „Ich schlage Ihnen vor, wir kürzen den Text, dann wird es für Sie günstiger.“

Was soll man da kürzen, denke ich. Ich hab schon nur wenig in den Text gepackt, zu wenig, meine ich, aber die Dame spricht unbeirrt weiter.

„Wir können zum Beispiel den Nichtraucher abkürzen, das wird dann immer noch verstanden. Die Adjektive können wir auch kürzen, soll ich mal?“, fragt sie. Ich höre sie auf ihrer Tastatur tippen, und nach wenigen Sekunden sagt sie: „Also: Suche für meinen Ex, 52, Nichtr., ehrl. u. verantwortungsbew., Frau fürs Leben, zw. 45 u. 55, häusl., liebev., gerne m. Kindern. Nur ernstgem. Zuschr., alle werden beantw.. Das sind jetzt noch 172 Zeichen beziehungsweise 27 Wörter, vorher waren das 266 Zeichen und 38 Wörter.“

„Klingt verstümmelt“, sage ich. „Und wie teuer ist das jetzt?“

Sie nennt den Preis, und ich überlege, ob der Text vielleicht nicht doch noch ein bisschen zu lang ist. Schließlich geht mein Ex-Mann Holger auch sehr verantwortungsbewusst mit seinem Geld um, und ich sollte das mit meinem auch tun, denke ich. Mir wird ja schließlich auch kein Euro geschenkt.

„Kann man noch was kürzen?“, frage ich deshalb. Die grundsätzliche Frage, ob er mir das wirklich wert ist, hatte ich für mich bereits vor einigen Tagen mit einem „Ja“ beantwortet, denn es geht ja schließlich nicht nur um sein Wohlbefinden, sondern auch um meines.

„Jaah, mal sehen“, sagt die freundliche Dame geduldig. Sie scheint an Kunden wie mich gewöhnt zu sein. Einen Augenblick später spricht sie: „Suche für meinen Ex, 52, Nichtr., ehrl., verantwortungsbew., Partn. ab 45, häusl., liebev., gerne m. Kind. Nur ernstgem. Zuschr.. 19 Wörter, 128 Zeichen. Ich glaube, kürzer kriegen wir es nicht hin.“

„Wie ist das, schicken die Frauen wohl ein Foto mit?“, möchte ich wissen.

„Das weiß ich nicht. Wir können die Bitte um ein Foto natürlich in den Text aufnehmen.“

„Nein danke, nicht nötig“, sage ich rasch und bestelle die Kontaktanzeige für die Samstagsausgabe unserer örtlichen Tageszeitung.

Ein paar Stunden lang habe ich mich an meiner genialen Idee, für meinen geschiedenen Mann eine neue Frau zu suchen, erfreut. Anders gesagt: Ich bin stolz auf mich, diesen klugen Schritt getan zu haben. Seit ich ihn verlassen habe (und dafür gab es gute Gründe), ist er allein. Es sind nun schon acht Jahre vergangen, aber er scheint überhaupt nichts zu unternehmen, um jemanden neues kennenzulernen. Er geht nicht aus, gönnt sich keine Abwechslung (habe ich von den Kindern gehört, die ihn natürlich besuchen, wenn sie nach Hause kommen).

Ich würde mich für ihn freuen, wenn er jemanden kennenlernt. Allein, das passiert einfach nicht.

Ich habe den Verdacht, dass er mich mit seiner Passivität ärgern will. Die hat etwas Anklagendes, so nach dem Motto: Du hast mich verlassen und hast deinen Spaß, und mir bleibt nichts außer der Arbeit.

Vielleicht bin ich jetzt ungerecht, denn er war schon immer häuslich. Und natürlich hat er das nicht wörtlich gesagt, aber bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen wir uns seit unserer Scheidung begegnet sind, spricht sein Blick Bände. Und der Blick sagt immer das Gleiche und spricht von meiner Schuld.

Mich ärgert das maßlos, denn zu einer gescheiterten Ehe gehören immer zwei (meine ich). Mir hat es gut getan, eigene Wege zu gehen, und ich bin sicher, das Leben hat auch ihm viel zu bieten.

Ich frage mich, wieso ich mich nach all den Jahren immer noch so sehr an seinem vorwurfsvollen Blick störe. Meine Baustelle ist das doch nicht mehr! Aber wenn ich ehrlich bin, also wirklich ganz ehrlich zu mir selbst, dann muss ich sagen: Ja, ich habe ein schlechtes Gewissen. Mir geht es nämlich richtig gut, und wenn es auch ihm richtig gut ginge, dann wäre doch für uns beide alles in Ordnung.

Deshalb die Idee mit der Kontaktanzeige, die er, sparsam und verantwortungsbewusst wie er ist, nie selbst aufgeben würde.

Ich rufe meine beste Freundin Marie an, um ihr von meiner tollen Aktion zu berichten.

„Was hast du gemacht?“ Ihre Stimme klingt entgeistert.

Obwohl ich denke, dass ich das Richtige getan habe, bin ich jetzt ein bisschen verunsichert.

„Sag mal, Ricarda, was denkst du dir eigentlich dabei? Ist doch ein bisschen viel Einmischung in Holgers Leben, meinst du nicht?“

Obwohl ich dachte, dass ich das Richtige getan habe, bin ich jetzt sehr verunsichert. Ich muss schwer schlucken.

„Na ja“, sage ich. „Stimmt schon, aber… Du weißt doch, wie schlecht er immer in die Hufe kommt… Also, ich glaube, die Idee war gut.“

Marie schweigt. Marie schweigt anklagend. Das höre ich durch das Telefon. Dann sagt sie: „Das Beste für Holger und dich ist doch, dass jeder sein Ding macht.“

„Ja aber er macht nicht sein Ding!“

„Das behauptest du! Vielleicht ist das ja sein Ding, so, wie er jetzt lebt. Vielleicht will er es nicht anders. Vielleicht…“

„Ist doch Quatsch!“, unterbreche ich sie. „Wenn das sein Ding wäre, dann wäre er viel zufriedener. Viel ausgeglichener. Entspannter.“

„Vielleicht ist er ja entspannt“, meint Marie, „wenn du nicht da bist. Das kann doch sein. Ich meine, du hast ihn verlassen! Du hast ihn verletzt! Was erwartest du? Dass er dir dafür um den Hals fällt?“

Ich hatte bis jetzt Marie auf meiner Seite geglaubt. Habe ich mich so sehr in ihr getäuscht? Oder noch schlimmer: Habe ich so falsch gehandelt, falsch gedacht, falsch empfunden? Gibt es überhaupt etwas in meinem Leben, das ich richtig gemacht habe? Meine Gedanken laufen komplett aus dem Ruder. Sie laufen Amok!

Ich frage mich: Habe ich der Menschheit Leid zugefügt? Wie kann ich es wieder gut machen? Ich werde in der Hölle schmoren! Ich muss noch einmal schwer schlucken, als mir mein Schicksal bewusst wird. Automatisch gehe ich in den Verteidigungsmodus.

 

„Jetzt mach aber mal halblang“, sage ich entschiedener, als ich mich fühle. „Die Briefe gehen doch an mich, nicht an ihn. Holger weiß doch gar nichts davon. Es ist doch noch gar nichts passiert.“

„Ja, aber genau das macht mir Sorgen: Dass irgendwas passiert, wenn du dich einmischst“, sagt Marie.

Ich höre, wie sie tief Luft holt.

„Ich meine das nicht böse!“, sagt sie. „Es war richtig, dass ihr euch getrennt habt, aber ich finde, du musst Holger sein Leben leben lassen. Du darfst dich nicht einmischen. Du willst bestimmt auch nicht, dass er das bei dir tut.“

„Ach er mischt doch überhaupt nicht, nicht für sich und nicht für andere“, sage ich.

„Ja, aber das war schon immer so, und deswegen bist du gegangen“, sagt Marie. „Und das war richtig. Aber wenn Holger was anderes machen soll, dann muss er das selbst wollen. Das ist nicht in deiner Verantwortung.“

Ich bin ein bisschen erleichtert, weil es anscheinend doch etwas gibt, das ich richtig gemacht habe. Außerdem war die Annonce gut gemeint, ich will ihm nichts Böses.

Marie versteht das, denn sie sagt: „Ich weiß, du meinst es gut.“

„Ich habe einfach das Gefühl, dass Holger nicht glücklich ist“, sage ich.

„Ja, Ricarda, aber es liegt nicht an dir, ihn glücklich zu machen. Mit deinem schlechten Gewissen, das du hast, musst du anders klarkommen.“ Und sie fügt hinzu: „Du musst kein schlechtes Gewissen haben. Die Dinge sind so, wie sie sind.“

Marie hat Recht, aber dennoch weiß ich (ich weiß es einfach!), dass diese Kontaktanzeige sein muss. Sie wird ein Schritt nach vorne sein, für Holger, und für mich auch, denn ich denke, Holger braucht nur einen kleinen Schubs, und dann kann er endlich sein Glück finden. Vielleicht schafft er es dann sogar, dass er wieder mit mir reden kann.

Als Marie danach fragt, was ich mit den Zuschriften machen werde, sie Holger offiziell überreichen oder sie ihm einfach in den Briefkasten stecken, wird mir klar, dass ich keinen richtigen Plan dazu habe. Bis jetzt hatte ich nur daran gedacht, sie bei der Zeitung abzuholen, und vielleicht auch selbst einen Blick reinzuwerfen.

Zum Glück haben wir die Zusage, jede Zuschrift zu beantworten, gestrichen, denke ich. Die, die sich melden, werden nicht unbedingt mit einer Antwort rechnen. Ach, vielleicht lasse ich es ganz bleiben und werfe die Zuschriften, falls überhaupt welche kommen, gleich in den Müll. Das Ganze läuft über Chiffre, also wird niemand wissen, wer die Anzeige geschaltet hat. Und überhaupt, wahrscheinlich wird sich sowieso niemand melden, wenn eine Frau für ihren Ex eine Anzeige aufgibt.

„Du hältst mich aber auf dem Laufenden“, sagt Marie abschließend. Sie besteht darauf, zu erfahren, wie viele Antworten ich erhalte.

Nanu, denke ich, sie ist aber doch ganz schön neugierig.

„Also, ich muss zugeben, ein bisschen spannend ist das schon“, gibt sie zu.

Kapitel 2: Die Briefe

Acht Tage später habe ich einen Stapel Briefe vor mir auf dem Küchentisch liegen. Es sind fünf Personen, die sich auf die Kontaktanzeige gemeldet haben. Sehr übersichtlich, finde ich, aber vielleicht ist das auch kein Wunder. Die Anzeige war schließlich winzig, fiel überhaupt nicht auf in der großen Zahl an Anzeigen, die auf dieser Seite zu lesen waren. Ich hatte sie nicht auf Anhieb finden können und hatte schon vor, mich bei der Anzeigenannahme der Tageszeitung zu beschweren.

Marie hatte die Anzeige allerdings direkt entdeckt und gemeint, ich hätte meinen Ex doch durchaus interessanter beschreiben können. Wer wolle sich denn melden, wenn jemand lediglich mit den Attributen ehrlich, verantwortungsbewusst und nichtrauchend beschrieben werde.

„Langweiliger geht´s kaum“, hatte sie festgestellt. „Und ich dachte, du suchst jemanden, der ihn glücklich macht!“

„Ich bin einfach nur ehrlich“, war meine Antwort gewesen.

Marie hatte laut gelacht. „Ja klar. Aber du hättest ja durchaus auch schreiben können, dass er gutaussehend ist, gut verdient, so was in der Art.“

Stimmt, Holger sieht gut aus. Und wenn er sich aufbrezelt, dann macht er richtig was her. Sein Haupthaar ist auch nur wenig ausgedünnt, auch das hätte man erwähnen können. Aber halt! Ich erklärte Marie, wie die Zeitung die Texte berechnet. Und die Rechnung werde ja schließlich ich übernehmen müssen.

Marie meinte, wenn ich bei sowas nicht in die Vollen gehe, brauche ich gar nicht erst anzufangen. Und: Nicht kleckern, sondern klotzen, solle hier die Devise lauten, andernfalls könnte ich das Geld gleich auf ihr Konto überweisen, dann sei es wenigstens sinnvoll angelegt.

Marie weiß, dass ich heute bei der Zeitung war, um die Briefe zu holen. Deshalb hat sie angerufen.

„Und? Wie viele haben sich gemeldet? Hast du schon mal reingeschaut?“, will sie wissen.

„Wie stellst du dir das vor?“, frage ich. „Hast schon mal was vom Briefgeheimnis gehört?“

„Wieso, die Briefe sind doch an dich gerichtet, nicht an Holger. Also darfst du sie aufmachen und reinschauen!“

Marie hat gut reden. Natürlich überlege ich, ob ich da mal reinschauen soll. Ich möchte gerne wissen, wer sich gemeldet hat (das ist keine Frage von Neugier, sondern das ist ein Informationsbedarf). Sind Fotos dabei? Was schreiben die so?

Doch, ich gebe es zu: Ich bin neugierig, aber wahrscheinlich sollte ich die Post ungeöffnet an meinen Ex weitergeben. Dann kann er einen Blick in die Wundertüten riskieren oder aber die Briefe wegwerfen, ganz wie er möchte.

Ach Blödsinn, ich weiß doch, was er möchte: Mich mit seiner Passivität strafen, und deshalb darf ich ihm die Post nicht einfach so überlassen. Ich muss handeln!

Marie findet weitere Argumente. Als sie sagt: „Du hast die Musik schließlich bezahlt, also darfst du zumindest mal reinhören!“, habe ich, das Telefon zwischen Schulter und Ohr geklemmt, mit einem Küchenmesser den ersten Brief bereits geöffnet.

Der Brief enthält ein Foto, das eine unspektakuläre Mittfünfzigerin zeigt (meine Schätzung), rundes Gesicht, warme Augen, Frisur aus den 80ern. Sie lächelt freundlich. Im Brief schreibt sie, dass sie Brigitte heißt und nach einer Enttäuschung den Mann fürs Leben sucht. Ich schiebe Foto und Brief wieder in den Umschlag und widme mich dem nächsten Brief. Das Telefon rutscht mir weg und kracht auf die Tischplatte, und ich höre Marie sagen: „Was ist denn jetzt? Sag doch mal! Machst du die Briefe auf?“

„Ja, mache ich“, sage ich, als ich den Hörer wieder am Ohr habe.

Ich bitte meine Freundin, dass wir das Gespräch jetzt beenden, denn ich möchte mich auf die Post konzentrieren. Ich verspreche ihr, später Bericht zu erstatten. Marie lädt sich spontan für heute Abend zu einem Glas Wein ein. Sie will einen guten Tropfen mitbringen, sagt sie.

Den zweiten Brief, den ich geöffnet habe, hat Svetlana geschrieben. Sie stammt aus der Ukraine und sucht einen Mann, den sie glücklich machen kann. Sie ist 45 Jahre alt, schreibt sie, gelernte Schneiderin, kocht und tanzt gerne. Als ich mir das Foto ansehe, das sie mitgeschickt hat, falle ich fast vom Stuhl. Diese Frau ist nicht hübsch, sie ist schön. Sie sieht deutlich jünger aus, eher wie 35, aber ich tröste mich mit dem Gedanken, dass sie vielleicht ein älteres Foto mitgeschickt hat. Trotzdem bleibt sie eine schöne Frau, auch wenn man sich zehn oder zwanzig Jahre dazu denkt. Ein zweites Bild fällt aus dem Umschlag: Svetlana in einem dünnen Sommerkleid, das ihr ausgesprochen gut steht und ihre tolle Figur betont.

Ich gehe sofort in Abwehrhaltung. Die will bestimmt nur sein Geld, denke ich. Gut, dass ich nicht „vermög.“ oder „gesichert. Eink.“ in die Anzeige gesetzt habe. Svetlana - eine Frau, die sich die Kerle aussuchen kann. Was will sie von Holger? Ich schiebe Fotos und Brief zurück in den Umschlag, auf den ich gedanklich den Stempel „Kommt nicht in Frage“ drücke.

Ina, die nächste Kandidatin, ist Lehrerin in einer Grundschule. Sie trägt einen praktischen Kurzhaarschnitt, schaut den Betrachter ihres mitgeschickten Fotos unheimlich klug an, sehr organisiert und entschlossen, als ob sie gleich eine Ansage machen möchte. Es sieht aus wie ein Bewerbungsfoto, denke ich, aber dann fällt mir ein, dass Ina sich ja tatsächlich bewirbt. Sie spielt in ihrer Freizeit Gitarre und wandert für ihr Leben gern, schreibt sie. Zum Beweis hat sie ein zweites Foto mitgeschickt, das Ina auf einem Berggipfel zeigt (Alpen oder Anden, ich kann es nicht einordnen). Eine Altersangabe fehlt - na ja, ich finde, von einer Lehrerin kann man mehr erwarten. Ich wette, wenn ihre Schüler ein vermeintlich wichtiges Detail in einer Arbeit vergessen, dann ahndet sie das mit Punktabzug. Die wäre was für Holger, wenn ich ihm übel wollte.

Der vierte Brief stammt von Annette, Ende vierzig, Verwaltungsfachkraft beim Landkreis. Brief und Foto machen einen ordentlichen, aufgeräumten Eindruck. Die Schrift ist zwar nicht schön oder besonders gut zu lesen, aber sauber und gleichmäßig. Das Foto zeigt eine gutaussehende Frau mit korrekt frisiertem Haar, rötlich gefärbt mit Strähnchen.

Mir fällt auf, dass bislang keine der Frauen etwas von Kindern geschrieben hat, aber vielleicht sind die alle schon groß und leben nicht mehr zu Hause, genau wie Holgers und meine Kinder.

Der kleine Stapel an Zuschriften ist fast abgearbeitet, und ich muss gestehen, ich bin ein bisschen enttäuscht. Die Kandidatinnen scheinen mir alle so…ich weiß nicht…unpassend? So normal? Andererseits: Was habe ich denn geglaubt, wer sich da melden würde?

Ich nehme den letzten Brief zur Hand und will ihn gerade öffnen, als es an der Tür klingelt. Es ist Marie. In der einen Hand hält sie eine Flasche von ihrem Lieblingswein, in der anderen eine Flasche Calvados. Ich schaue auf die Uhr: Es ist sechs.

„Ja, ich bin ein bisschen früh dran“, sagt Marie. Sie geht sofort in die Küche, stellt die Flaschen ab, holt Butter und Aufschnitt aus dem Kühlschrank und sagt: „Wir essen jetzt erst noch zu Abend. Ich denke, für so eine Arbeit brauchst du eine ordentliche Grundlage.“

Ich weiß wirklich nicht, ob ich das jetzt so gut finde, dass Marie in meiner Küche das Kommando übernimmt. Ich hätte die Briefe gerne in Ruhe allein gelesen. Aber Marie merkt davon nichts, holt Teller, Besteck und Gläser und deckt den Tisch. Da ich nichts mache, fragt sie: „Wo hast du Brot?“

Na gut, vielleicht ist es wirklich nicht so schlecht, wenn wir gemeinsam einen Blick in die Briefe werfen. Und ich muss zugeben, dass Maries Elan mein schlechtes Gewissen, irgendein Briefgeheimnis gebrochen zu haben, auf der Stelle beruhigt.

Ich hole das Brot, vorsichtshalber noch eine Flasche Wasser, und wir setzen uns an den Tisch und essen erst einmal. Marie hat den Wein geöffnet (eigentlich trinke ich nur abends mal ein Glas, aber okay, es ist 18.15 Uhr), und nun schaut sie mich erwartungsvoll an.

„Ich hab noch nicht alle Briefe geöffnet“, sage ich.

„Wie viele sind es denn?“

„Fünf“, sage ich zerknirscht.

„Ja, ich hab dir ja gesagt, du hättest deinen Ex vielleicht ein bisschen interessanter schildern sollen.“

„Ja ja, hätte hätte…“, sage ich.

„Zeig mal her“, sagt sie und nimmt den Brief, den ich eben zur Hand genommen habe, an sich. Es ist der, den ich noch nicht geöffnet habe. Ich nehme ihn ihr wieder weg und sage: „Wenn überhaupt, dann schaue ich als Erste rein.“

Vor ein paar Tagen noch hat Marie mir vorgeworfen, ich mische mich mit der Kontaktanzeige zu sehr in Holgers Leben ein. Das hat sie jetzt, da die Flasche Wein fast leer ist, irgendwie nicht mehr auf dem Schirm. Im Gegenteil: Sie lässt ihrer Neugier freien Lauf. Und ich laufe mit.

Marie teilt den restlichen Wein sehr gerecht auf unser beider Gläser, hebt das Glas, prostet mir zu, nimmt einen Schluck und widmet sich wieder den Briefen vor uns. Wir haben inzwischen alle geöffnet, auch den letzten, der von einer Unbekannten geschrieben wurde. Der Vorname ist tatsächlich nur durch einen Buchstaben abgekürzt. Eigentlich stört mich das ganz gewaltig. Kein Foto, kein Name, nur ein geheimnisvolles G..Aber Marie sagt, sie kann das verstehen, denn die Briefe sind ja an eine Chiffre geschickt worden und ich bleibe damit genauso anonym. Und nach zwei Glas Wein muss ich sagen, dass ich das durchaus nachvollziehen kann.

Es ist ja auch nicht so, dass der Brief nichts über die Person sagt. Ganz im Gegenteil. Das Briefpapier fühlt sich ganz wunderbar an. Der Brief ist nicht mit Kugelschreiber geschrieben, sondern mit einem Füllfederhalter. So etwas habe ich den vergangenen zwanzig Jahren nicht öfter als dreimal in der Hand gehabt. Es ist wirklich eine schöne Schrift, in der der Brief geschrieben ist - schwungvoll, aber nicht verschnörkelt, präzise, aber nicht nüchtern. Es liest sich total schön und interessant, was G. aus ihrem Leben berichtet. Warum sie sich für eine Ausbildung im sozialen Bereich entschieden hat, wie wichtig ein gutes Buch ist, welche Musik sie mag, und welche Kitschecken sie hat. Unglaublich: G. glaubt an Wünschelruten, genau wie ich - ich bin fasziniert.

 

Ich stelle erfreut fest, dass ich mit G. auf einer Wellenlänge bin. Das scheint eine echt nette Frau zu sein, denke ich. Wofür steht G.? Geraldine? Gina? Gabriella? Ghada? Oder für Gisela oder Gerhild? Faszinierend, aber: Wenn wir auf einer Wellenlänge senden, dann wird sie bestenfalls meine Freundin, aber nicht die von Holger.

Marie ist auch von G.s Brief angetan. „Tolle Person“, sagt sie beschwipst.

Und G. schreibt, dass sie kein Foto schickt, denn sie möchte, dass ich ihr unvoreingenommen begegne, wenn wir uns treffen, um über meinen geschiedenen Ehemann zu sprechen.

G. ist die erste, die ein solches Vorab-Treffen vorschlägt. Und damit stellt sich wieder die grundsätzliche Frage, auf die ich noch keine Antwort habe: Was mache ich mit den Briefen? Wie gehe ich weiter vor?

„Na, du triffst die Frauen!“, sagt Marie und kichert. „Du musst doch wissen, wer das ist. Und ob die zu deinem Ex passen!“

„Ja, aber eigentlich bin ich doch wohl nicht Diejenige, die beurteilen kann, wer zu Holger passt“, widerspreche ich.

„Du bist überhaupt die Einzige, die das beurteilen kann“, meint Marie beschwingt, trinkt den letzten Schluck Wein aus ihrem Glas und steht auf, um die Gläser für den Calvados zu holen.

Ich höre das gerne. Dass ich die Einzige bin, die das beurteilen kann. Aber ich bin noch nicht so betrunken, dass nicht doch ein Funken von Ehrlichkeit in mir aufflammt. „Ich bin höchstens die Einzige, die beurteilen kann, wer nicht passt!“

Ich denke an G.. Das ist jemand, der mit mir seelenverwandt ist (möglicherweise). Sehr sympathisch. Aber wird eine solche Frau zu Holger passen? Ich bin mir nicht sicher. Marie ist sich auch nicht sicher.

„Die passt höchstens zu uns!“, stellt Marie launig fest, als sie den Calvados eingießt.

Ich stehe auf und hole aus dem Vorrat eine Packung Erdnüsse, die uns hoffentlich ein bisschen mehr Zeit bis zu unserem Absturz geben wird. Der Abend ist noch jung, es ist erst neun Uhr. Mir wird etwas bange.

„Okay, also G. passt nicht. Wer dann? Schau doch noch mal die Fotos an? Svetlana?“

Marie nimmt die Fotos zur Hand. „Scharfe Braut“, sagt sie anerkennend. „Die wird deinem Ex gefallen.“

„Ja, aber passt sie auch? Was will die von dem? Der ist doch… viel zu normal für die!“

Marie stützt ihren Kopf in beide Hände, sieht mich an und sagt: „Du musst jetzt ganz stark sein, Schätzchen. Sie will Sex!“

„Kein Geld?“

„Ja, vielleicht auch Geld. Wer weiß das schon.“

Oh Mann, denke ich bestürzt, was wissen wir überhaupt? Ich gieße mir Mineralwasser ein und nehme eine Handvoll Erdnüsse.

„Und du musst das auch von der praktischen Seite sehen“, fügt Marie hinzu. „Svetlana kocht gerne. Sie kann nähen. Sie kann tanzen. Eine Frau für die Rund-um-Versorgung, ein richtiger Männertraum.“

„Ja eben“, sage ich. „Die könnte jeden haben, und die ist scharf auf Holger?“ (Ich glaube, mein Sprechtempo hat sich geringfügig verlangsamt).

Marie denkt nach. Schließlich argumentiert sie, dass ich, als ich arbeitslos war und eine Stelle gesucht habe, mich auch bei verschiedenen Arbeitgebern beworben habe. Svetlana würde es vielleicht auch so halten.

Ich brauche zwei Momente, um zu verstehen, was sie mir sagen will. Aber ich hab doch nicht die Anzeige aufgegeben, damit sich so eine Svetlana an ihn ranschmeißt und ihn dann enttäuscht, denke ich.

„Weißt du“, sagt Marie schließlich, und sie spricht langsam, weil sie sich auf ihren Gedankengang konzentrieren muss, „vielleicht ist so eine Svetlana genau die Richtige. Vielleicht trifft sie ihn, er ist scharf auf sie, sie lässt ihn fallen. Bums. Dann sieht er, dass du nicht die einzige Frau bist, die ihn verlässt, du bist nicht mehr der Oberarsch für ihn - alles in Butter. Was willst du mehr!“

Ich habe Mühe, ihrer Argumentation zu folgen, aber nach einem kleinen Schluck Calvados erscheint mir der Gedanke, Svetlana könnte meine Reputation wieder herstellen, naheliegend.

Marie gießt unsere Gläser wieder ein und schaut sich die anderen Bilder an. Sie findet Brigitte auch nicht übel. Ich bin erstaunt, aber beim Blick auf das Foto sehe ich jetzt eine Frau mit schönen Augen. Ja, nicht übel, ich kann sie mir an Holgers Seite vorstellen.

„Und was ist mit Ina?“, fragt Marie.

„Eine sehr sportliche Lehrerin“, sage ich.

Marie signalisiert mit einer Handbewegung, dass an dieser Stelle Vorsicht geboten ist. „Die wissen immer alles besser, auch wenn sie es nicht besser wissen“, meint sie. Sie schaut sich das Bild noch einmal an. „Aber gut, sagen wir mal, wenn sie eine ganz perverse Technik kennt, dann könnte das trotzdem klappen.“

Marie sollte keinen Wein mehr trinken, denke ich. Dann kommt sie nämlich auf komische Ideen. Ich nehme deshalb die Weinflasche vom Tisch und stelle sie auf die Arbeitsplatte der Küche. Als ich mich umdrehe, ist mir ein bisschen schwindelig. Keinen Wein mehr, denke ich. Als ich wieder sicher am Tisch sitze, prosten wir uns mit dem Calvados zu und beraten über Annette, die kommunale Verwaltungsfachfrau.

„Ich wette, die kann Steuerklärungen“, sagt Marie.

„Okay, ich kann sie ja mal fragen“, sage ich.

Wir haben alles besprochen, und jetzt sitzen wir uns gegenüber, stoßen noch einmal an und schweigen. Ich schaue auf die Briefe, die Fotos, die Lebensläufe und frage mich, was um alles in der Welt ich mit diesen Frauen besprechen soll. Vielleicht wäre es doch besser, die Briefe ungeöffnet an Holger zu geben. So sieht das doch irgendwie blöd aus, so, als ob ich das Briefgeheimnis nicht geachtet hätte oder so.

Ich teile Marie meine Bedenken mit, und sie sagt: „Ja, ich glaube, du hast recht. Tu das.“ Und sie fügt hinzu: „Gute Strategie!“

Ich überlege, was ich jetzt mit meiner Steuererklärung machen soll.

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