Die Wilderer von der Schinderleit'n

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Die Wilderer von der Schinderleit'n
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Siegmund Klakl

DIE WILDERER VON DER SCHINDERLEIT’N

Jagdgeschichten zum Nachdenken und Schmunzeln

Mit Illustrationen von Walter Thorwartl


Leopold Stocker Verlag Graz – Stuttgart

Titelgestaltung:

DSR Werbeagentur Rypka GmbH, 8143 Dobl/Graz, www.rypka.at

Titelbild: Aquarell von Walter Thorwartl

Skizzen im Innenteil:

Walter Thorwartl

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ISBN 978-3-7020-1821-4

eISBN 978-3-7020-1995-2

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.

© Copyright by Leopold Stocker Verlag, Graz 2019

Layout: DSR Werbeagentur Rypka GmbH, 8143 Dobl/Graz, www.rypka.at

Printed in AUSTRIA

Inhalt

Vorwort

Dialekt-Übersetzung

Hirschbrunft

Über das Leuchten in den Augen

Der Bock vom Unterland

Der Wödhabel-Luis

Die Geschichte von Karo, der Birkhahnjägerin

Vierundzwanzig Stunden

Die Wilderer von der Schinderleiten

Volker und Helene

Die Anni

Der Zittersitz oder Kraumer, bleib bei deine Ladln

Der Wildeinkäufer

Beim Mooswirt

Eine denkwürdige Gamsjagd

Der Stefaniriegler

Bauernsilvester

Aufregung im Hochwildrevier

Zwei Hahnen an einem Morgen

Als ich meinem Vater das Jagern verbieten musste

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser!

Am Jägerstammtisch wird sehr oft ernsthaft und lange diskutiert, denn die Jagd ist ein weites Feld, und jeder hat sein eigenes Wissen und seine eigenen Erfahrungen. Manchmal geht es aber auch sehr lustig zu, und da kommt meist das Jägerlatein ins Spiel. Es handelt sich dabei aber nicht einfach um Lügengeschichten, wie die Nicht-Jäger wahrscheinlich vermuten, sondern es sind meist Jagderlebnisse mit einem wahren Kern, die der Erzähler mit seiner Fantasie mehr oder weniger „anreichert“. Die Kunst des Jägerlateins besteht also darin, eine Geschichte, die nicht ganz wahr ist, so zu erzählen, dass sie wahr sein könnte! Ich kam als Wirt in einem kleinen Dorf in der Obersteiermark in den 1980er- und 90er-Jahren über 20 Jahre lang ständig in den Genuss, Stammtisch-Erzählungen zu lauschen. Hier wurden jagdliche Freundschaften geschlossen, Erfahrungen ausgetauscht und unzählige Erlebnisse erzählt. In meinen Geschichten nimmt dieser Tisch also eine zentrale Rolle ein. Einige Erzählungen sind wahr, ich habe sie selbst erlebt, einige haben einen wahren Kern und einige sind frei erfunden. Namen und Örtlichkeiten sind natürlich geändert, viele Figuren weilen auch längst nicht mehr unter den Lebenden.

Und noch etwas ist mir wichtig: Natürlich ist das Ziel einer Jagd letztlich das Beutemachen, beim Erzählen meiner Geschichten habe ich aber mehr Augenmerk auf das „Drumherum“ gelegt. Denn nicht immer läuft alles nach Plan bei der Jagd, und über so manche „Nebensächlichkeit“ kann man getrost auch ein bisschen schmunzeln.

Übrigens, bei uns in der Obersteiermark reden die Leut’, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Deshalb habe ich die Dialoge in den Geschichten oft in Mundart belassen und in „Lautschrift“ geschrieben. Da unser Dialekt ein uriger ist, der möglicherweise nicht von allen verstanden wird, sind als kleine Hilfestellung auf der folgenden Seite die „exotischsten“ Ausdrücke aufgelistet und „übersetzt“.

Viel Freude beim Lesen, Mitfiebern und Spekulieren darüber, welche meiner Jagdgeschichten selbst erlebt, nacherzählt oder erfunden sind!


Siegmund Klakl Sommer 2019

Dialekt-Übersetzung

auffi – hinauf

Beil – Biene

Bindbam – Holzstange zum Niederbinden/Befestigen einer Fuhre Heu für den Heimtransport

dapocken – schaffen

deis – das, dieses

Eierschwammerln – Pfifferlinge

einbüd – eingebildet

einwassern – betrunken machen

fests Trumm – großes Stück

geih ma – gehen wir

Göd – Geld

Grastasche – buschiger Ast von einem Nadelbaum

Groamahd – zweiter Schnitt

groußa Hauhn – großer Hahn (Auerhahn)

Habel – Angel

Hauhnen – Hähne

haum – haben

haun – habe

heign – heuen

hest – hättest

hiaz – jetzt

hiefln – Heu wird zum Trocknen um einen in den Boden gesteckten Holzstecken gewunden

Hirschgweich – Hirschgeweih

hoabuachan – stark und kräftig wie eine Hainbuche

hoamlig – heimlich

höfen – helfen

huits eich eichern Hirsch hoit söba – holt euch euren Hirsch eben selbst

kaust – kannst

Kraumer – Krämer, Kaufmann

Lampl – Lämmchen

Leitn, Leite – steiler Berghang

lous – los

mahn – mähen

neammer – nicht mehr

neit – nicht

neixts Joahr – nächstes Jahr

nou – noch

oamoi – einmal

pechern – voller Pech = Harz

Puderl – kleine Karaffe

Schanti – Gendarmen

Schauß – Chance

Schligowitz – Slibowitz

Schmoitier – Schmaltier

Schneeteller – Schneeschuhe

schou – schon

Schwedenreiter – Gestell aus Holzstecken und dazwischen gespanntem Draht, auf dem Heu zum Trocknen aufgehängt wird

Schwoga – Schwager

staubiger Tee – sehr starker Tee mit viel Schnaps

Weidmannshaö – Weidmannsheil

Wöd – Welt

Wüdbrat – Wildbret

Wüdara, Wüdschitz – Wilderer

wuits n liegn lossn – wollt ihr ihn liegen lassen

zach – zäh

zaht – zerrt

Hirschbrunft

Ja, die Hirschbrunft, das ist so eine Sache. Mein erstes Erlebnis damit hatte ich als ziemlich kleiner Bub. Infiziert vom jagdlichen Fieber war ich ja von Anfang an. Mein Großvater war Jäger, mein Vater war Jäger und mein Onkel auch, und alle Männer, so kam es mir damals jedenfalls vor, die in unserem Haus aus und ein gingen, waren ebenfalls Jäger. Sobald ich so halbwegs auf eigenen Beinen stand und „Hirsch“ und „Gams“ sagen konnte, nahm mich mein Vater schon mit auf die Pirsch, da gab es also kein Entrinnen. Und meine Mutter, so sehr sie auch um mein Wohl bemüht war, hatte dem nichts entgegenzusetzen.

 

Im Alter von sechs oder sieben Jahren war ich jagdlich bereits voll ausgerüstet. Ich besaß ein zünftiges Jagahütl, Knickerbocker und Bergschuhe, einen Rucksack, einen Bergstecken, einen Gucker und ein aus Lärchenholz geschnitztes Gewehr. Damit ging ich auch schon einmal alleine jagern, ich entwickelte großen Ehrgeiz darin, meinen Vater und meinen Onkel nachzuahmen. Die Erwachsenen fanden das damals natürlich zum Lachen komisch, mir war es aber bitterer Ernst. Ich erlegte auch manchmal ein Stück Wild mit meinem Holzgewehr, der Hirsch oder der Rehbock war dann halt eine abgebrochene Grastasche, die ich mit großer Sorgfalt nach Hause brachte und in unsere Fleischkammer hängte. Meist hing sie, bis die Nadeln abfielen. Mein Vater wagte es jedenfalls nicht, sie einfach wegzuwerfen.

Im Sommer verbrachte ich die meiste Zeit auf dem Bauernhof meines Onkels. Das war paradiesisch für mich. Ich liebte alles dort, die Menschen, die Tiere, den Geruch, den rauen Umgangston, den fetten Speck und das grobe Brot, die deftige Suppe zum Mittagessen und vor allem die goldgelbe Butter, die meine Großmutter im hölzernen Butterfassl gerührt hat und von der ich dann immer ein „Butterkugerl“ bekommen habe, welches ich mit großem Genuss und ohne Brot verzehrt habe. Und natürlich faszinierte mich auch die harte Arbeit im Stall und auf dem Feld, wenn ich auch ohne Zweifel mehr im Weg herumgekugelt bin, als dass ich helfen hätte können.

Bei der Feldarbeit im Sommer, also beim „Mahn und Heign“, halfen auch mein Vater und noch ein paar andere kräftige Männer mit, denn damals bedurfte es noch vieler fleißiger Hände, um das Heu trocken in die Scheune zu bringen. Ich erinnere mich noch gut ans „Hiefl mochn“ und ans „Schwedenreitern“, an den Leiterwagen, der von Moni, der alten, gutmütigen Stute gezogen wurde. Mein Großvater turnte darauf herum, musste das Heu, das die starken Männer hinaufreichten, fassen und mit dem „Bindbam“ niederbinden. Turmhoch waren manchmal die Fuhren, und die Männer hatten ihre Gaudi, wenn der Großvater wieder einmal herunterpurzelte.

An einem sonnigen Septembertag waren wieder einmal alle auf dem Feld, um die „Groamahd“ einzubringen. Da ich immer noch keine große Hilfe für die Bauersleute war, meinte Harald, mein Onkel, ich könne doch ein bisschen jagern gehen, oben im Wald. Vielleicht bekäme ich einen Fuchs zu sehen oder einen Rehbock. Ich ließ es mir nicht zweimal sagen, holte meine Jagasachen aus dem Haus und stapfte Richtung Hochwald. „Aber pass auf die Hirschn auf, hiaz faungt die Brunft aun, und do kunnts gfährlich wern!“, riefen mir die Jäger nach.


Natürlich hatte ich großen Respekt vor dem König des Waldes, aber dass mir hier gleich neben dem Feld ein Hirsch begegnen würde, hielt ich doch für sehr unwahrscheinlich. Ich ahmte den Gang meines Vaters nach und strebte mit ernster Miene dem Walde zu. Die Bauersleute mögen hinter mir gelacht haben, das war mir egal. Sehr weit wagte ich mich freilich nicht hinein in die Düsternis, aber immerhin, so fünfzig Meter war ich schon entfernt vom Waldrand, als auf einmal in der dicht stehenden Fichtenkultur ein paar Äste knackten und ein gewaltiger Brunftschrei erschallte, der mir durch Mark und Bein fuhr. Und gleich noch einer, und noch ein drittes Mal dröhnte es in meinen Ohren. Der Hirsch musste ganz in der Nähe sein, wahrscheinlich gleich hinter den nächsten Bäumen. Da rutschte das Herzerl des kleinen Jägersmannes aber ordentlich in die Hose, ich begann um mein Leben zu laufen, über Stock und Stein, fiel auf die Nase, schlug mir beide Knie auf, verlor Hut und Stecken, stolperte, raffte mich wieder auf und rannte hinaus auf die rettende Wiese. Die Bauersleute erzählten später, dass ich vor Angst geschrien hätte. Mein Vater fing mich auf in seinen starken Armen und bemühte sich sehr, mich wieder zu beruhigen. Ich glaube, den Rest dieses Tages schlotterte ich am ganzen Körper und war kaum fähig, das Erlebte zu erzählen. Dass gleich nach mir mein Onkel Harald am Waldrand auftauchte und gemächlich schmunzelnd wieder seiner Arbeit nachging, verwunderte mich zwar einigermaßen, einen Zusammenhang mit dem Röhren des Hirsches sah ich damals aber nicht. Erst viel später haben mir die Halunken einmal gebeichtet, dass natürlich Harald der „Hirsch“ war, und am Stammtisch der Jäger sorgte die Geschichte noch einige Zeit für Erheiterung, auf Kosten eines kleinen, ernsthaften Jägersmannes!

Viele Jahre später, als ich mein Holzgewehr längst gegen ein richtiges getauscht hatte, versöhnte ich mich aber mit der Hirschbrunft. In meinem kleinen Bergrevier hatte sich Mitte September ein kleines Rudel Hochwild eingestellt, und es begann sehr bald ein reger Brunftbetrieb. Ich beobachtete das Treiben einige Tage und erlegte am Ende einen kapitalen 16-Ender, den besten Hirsch meines Lebens. Die Hirschbrunft hatte ihren Schrecken verloren, und meine Jägerehre war wieder hergestellt.

Über das Leuchten in den Augen

Spätsommer. Feistzeit. Die Hirsche schlagen sich um diese Zeit die Wänste voll und sind misstrauisch, heimlich. Es war Anfang September, früher Schnee hatte die Berggipfel und Almen schon zum ersten Mal angezuckert, doch die milden Tage danach hatten das wieder vergessen gemacht. Im Hochwildrevier in den steirischen Bergen war ein Jagdgast angesagt, der sollte auf einen Feisthirsch gehen. Es herrschte herrliches Herbstwetter, ein rechter Altweibersommer.

Hartmut Müller aus Berlin reiste in einer ausladenden Limousine an, er war schon mehrmals hier im malerischen Bergdorf auf Einladung seines Geschäftsfreundes, der hier eine riesige Jagd in Pacht hatte, nur auf einen guten Hirsch hatte es bisher nicht gepasst. An seiner Seite wie immer seine herzallerliebste Ehefrau, die ihren Mann mit einer sonderbar frivolen Unterwürfigkeit überall hin begleitete, also auch zur Jagd, obwohl sie selbst keinem Tier etwas zu Leide tun könnte, wie sie stets kokett beteuerte.

Hartmut und Brigitte bezogen ein zirbenholzgetäfeltes Zimmerchen im kleinen Gasthaus, das sich ganz in der Nähe des Jagdhauses am Ausgang des Dorfes befand und von Sebastian, dem bedächtigen Pirschführer, betrieben wurde. (Vielmehr natürlich von dessen Frau, denn der Wastl, wie er hier gerufen wurde, musste ja das Revier betreuen.) Rasch schnappten sich die beiden, die noch städtische Straßenkleidung trugen, ihr Gepäck und verschwanden in ihrem Zimmer, um nach wenigen Minuten in zünftiger Jagdkleidung in der Gaststube zu erscheinen. Jetzt konnte die große Begrüßung stattfinden, Umarmungen und Küsschen, ein paar Mitbringsel für die Kinder, ein kolossales Blumengesteck für Liesl, die Wirtin, und für Wastl ein sündteures Jagdmesser in einem aufwendigen Lederetui; ein bisschen was musste man schon investieren in so eine Jagdeinladung.

Hartmut war ein untersetzter, kräftiger Mann in den 50ern mit einem etwas zu stark angeschwollenen Wohlstandsbauch, schütterem Haar und einem lächerlich struppigen Schnauzbart. Jetzt, mit seiner tadellosen Hirschledernen, gestrickten Stutzen, Haferlschuhen und dem grünen Jägerhemd stand er da wie die Karikatur eines Steirers, zusammen mit seinem scharfen Berliner Akzent ergab das ein ziemlich verwackeltes Bild. Aber er stand das durch, mit einem erstaunlichen Selbstvertrauen. Und seine um einige Jahre jüngere Brigitte, eine blonde, adrette und recht nobel wirkende Dame, schmückte ihn in einem eng an ihren wohlgeformten Körper anliegenden Lederkostüm. Dem Jäger Sepp, der mit zwei weiteren Gästen in der Wirtsstube saß, blieb gleich einmal die Luft weg. Es fiel ihm sichtlich schwer, seinen Blick von der Dame abzuwenden.

Bei Bier und Schnaps verwickelten sich Hartmut und Wastl alsbald in tiefschürfende jagdliche Fachsimpelei, Brigitte wandte sich der Wirtin zu, setzte sich mit ihr an einen anderen Tisch und nahm einen Piccolo zu sich, um ihren Kreislauf wieder in Schwung zu bringen. Als sie am Tisch von Sepp vorbeistolzierte, meinte dieser, einen zarten Hauch der Errötung über ihr Gesicht huschen zu sehen, aber das behielt er selbstverständlich für sich.

„Hartl“, so nannte der Wastl seinen Jagdgast mit einem Anflug verwegener Respektlosigkeit, „hiaz gemma amoi Scheibn schieaßn“. Das war eisernes Gesetz bei Wastl, vor der Jagd wurde die Treffsicherheit von Jäger und Waffe überprüft. Dazu diente ein einfacher Schießstand gleich hinter dem Haus, die selbst bemalte Scheibe stand etwa hundert Meter entfernt, und der Schuss hatte im zehn Zentimeter großen Mittelkreis zu sitzen. Erst wenn das der Fall war, war der Wastl bereit, mit dem Gast auf die Jagd zu gehen. Hartmut verzitterte seinen ersten Schuss, der zweite saß aber mitten drin, und Wastl war zufrieden.

Am frühen Abend erfolgte der erste Pirschgang. Brigitte hatte inzwischen die Koffer ausgepackt und die Jagdsachen feinsäuberlich zurechtgelegt. Hartmut zog sich um, verstaute wärmende Zusatzkleidung im Rucksack, stieg in seine Bergschuhe, hängte sich Fernglas und Gewehr um und setzte seinen breitkrempigen Hut auf. Ein makelloser Jägersmann stand da, und seine Augen bekamen ein Leuchten, das Brigitte in Berlin niemals zu sehen bekam. Sie drückte ihrem Mann ein Küsschen auf die Wange und sagte: „Weidmannsheil“. Hartmut reckte seine Brust heraus, so gut es eben ging, und schritt geradezu majestätisch auf den Platz vor dem Gasthaus, wo Wastl mit dem alten Jeep des Jagdherrn schon auf ihn wartete.

Sie fuhren bis zum Lärchboden, von dort pirschten sie einen feinsäuberlich geputzten Steig taleinwärts durch lichten Lärchenbestand und erreichten nach einer halben Stunde ohne nennenswerten Anblick den Bodensitz unter der Wetterfichte. Da saßen sie zwei Stunden lang und sahen kein jagdbares Wild. „Hiaz is ruhig im Revier“, brummte Wastl beim Hinuntergehen, „vor da Brunft sans hoamlig, die Hirschn.“

Doch Hartmut war trotzdem selig. Hier in den wilden steirischen Bergen war er jetzt der verwegene Hirschjäger, der er so sehr sein wollte, und nicht der terminüberladene, stets getriebene Manager in der großen Stadt. Seine Geschäftigkeit und Hektik, die ihn daheim in Berlin durch sein Berufsleben jagte, legte er in jenem Augenblick ab, in dem er sein Jägergewand anlegte. Und jetzt war er ein anderer. Milde schmunzelnd setzte er sich in den Jeep, hörte gar nicht, was Wastl vor sich hin grummelte, und wähnte sich sehr weit weg, in einer anderen Welt.

Als die beiden in die Gaststube traten, dampfte es dort schon gewaltig. Eine dichte Wolke, die nach Bier, Schnaps, Tabakqualm, Schweinsbraten und Schweißfüßen roch, schwebte über dem Stammtisch, der voll besetzt war von zechenden und lärmenden Jägern. Mitten unter ihnen saß zur großen Erheiterung von Hartmut seine liebe Ehefrau Brigitte. Ihr Gesicht hatte die Farbe ihrer roten Bluse angenommen, sie war allerbester Stimmung und selbstverständlich der attraktive Mittelpunkt der Gesellschaft. Sagen wir es ruhig, sie wurde von allen Seiten angebalzt, dass es eine Freude war. Und Sepp, der neben der Umschwärmten saß, schien dabei zu sein, deren Sympathie zu gewinnen, was ihn einige Male den gebotenen Respektabstand zu einer Dame vergessen ließ. Die Gegenwehr der Dame hielt sich aber ohnehin in Grenzen. Hartmut und Wastl zwängten sich auch noch an den Tisch, Liesl brachte ihnen Bier und Braten, und Hartmut bestellte eine Runde Obstler. Gewisse Anzüglichkeiten mussten sich die Gebirgsjäger nun wohl verkneifen, der Stimmung tat das aber kaum einen Abbruch. Und Hartmut schwelgte sowieso in seiner Rolle als wilder Jäger, dass sich seine Brigitte hier so spontan unters Volk gemischt und offenbar auch schon ziemlich tief ins Glas geschaut hatte, amüsierte ihn nur am Rande.

Der morgendliche Ansitz war wiederum erfolglos. Beim Frühstück in der Gaststube, aus der der Dampf des Vorabends noch nicht gewichen war und beißend in die Nase kroch, stand der Sepp mit seiner Krachledernen bereits an der Theke. Er wollte nur schauen, ob es schon zum „Hirschn ziagn“ wäre, genehmigte sich ein Stamperl und flirtete ziemlich ungeniert mit der Dame. Auch die Abendpirsch verlief enttäuschend, einmal sprangen Tier und Kalb über den Pirschsteig, am Wieseneck stand ein guter Rehbock, doch kein Hirsch war zu sehen. „Morgen“, raunte der Wastl seinem Jagdgast zu, „morgen gemma auf die Hittn, ba den scheinen Wetter san die Hirschen sicher weita obn in der Olm.“

 

Der Abend in der Gaststube verlief wie der vorige, die Weidmänner waren wieder vollzählig versammelt, mitten drin der attraktive Gast aus Berlin, und an Bier und Schnaps wurde nicht gespart. Selbstverständlich war auch Sepp wieder zur Stelle und wich der über die Maßen gut gelaunten Brigitte nicht von der Seite. Hartmut zahlte wieder ein paar Runden Obstler und amüsierte sich weiterhin über seine feine Gattin, deren überschäumende Fröhlichkeit und das erstaunliche Leuchten in ihren Augen, das er in Berlin niemals zu sehen bekam.

Am nächsten Tag verabredeten sich die beiden Jäger zu Mittag. Wastl wollte mit seinem Gast zur Jagdhütte oben im Stierkar und dort auch übernachten. „Die Jausn richtet uns die Liesl, ois aundere is eh obn ba da Hittn“, brummte der Jagdführer und zog genüsslich an seiner Pfeife. Für Hartmut war das die Krönung. In der Jagdhütte übernachten, das durften bei Weitem nicht alle Gäste, und es erhob ihn in eine Art adeligen Ritterstand. So empfand er es jedenfalls, und seine Augen leuchteten, dass es eine Freude war. Und Brigitte freute sich mit ihrem mutigen Jägersmann. Pünktlich um 12 Uhr Mittag rauschte der Jeep vom Hof, am Rücksitz mit temperamentvoller Jagdfreude Hirschmann, der treue Bayerische Gebirgsschweißhund von Wastl. Der Fahrweg reichte weit hinein ins Tal und endete am unteren Ende des Weitgrabens. Von dort war’s dann noch ein einstündiger Aufstieg bis zur Hütte, die sich knapp unter der Baumgrenze neben der Quelle eines kleinen Bächleins in eine windgeschützte Mulde drückte, so idyllisch, so urtümlich, dass Hartmut meinte, in einem romantischen Heimatfilm gelandet zu sein. Gemächlich sperrte Wastl die Hüttentür auf, öffnete beide Fenster und die knarrenden Balken und ließ die frische Bergluft herein. Hartmut saß auf dem wackeligen Bankerl vor der Hütte und konnte sich nicht sattsehen. Die herbstliche Sonne warf ihr mildes Licht auf die Bergrücken ringsum, die rötlich-gelb verfärbten Lärchen standen wie brennende Kerzen im schütteren Fichtenwald.

Nachdem der Wasserzulauf zum Brunnen ausgeputzt war und im Ofen Feuer brannte, mahnte Wastl zum Aufbruch. Unweit der Hütte befand sich an eine alte Zirbe gelehnt ein Bodensitz, von dem aus man das ganze Stierkar absehen konnte, dorthin setzten sie sich und hofften Aufschluss darüber zu erhalten, wo sich die Hirsche herumdrückten.

Und tatsächlich, ganz drüben unter der Gamsstelle, einem mächtigen Felsbrocken unterhalb des Wettersteins, sahen sie in den wuchernden Latschenfeldern die Geweihe von zumindest fünf Hirschen hin und her wacheln. Weiter unten auf einer Blöße standen sogar einige Stück Kahlwild, und etwas später zog ein passabler, aber viel zu junger Kronen-Zwölfer ganz gemütlich knapp am Bodensitz vorbei. Oben, unter dem Karlspitz, tummelte sich eine Schar Gämsen, die Kitze genossen die herbstliche Sonne mit übermütigem Spiel, und irgendwo mitten im riesigen Kar hörte man hin und wieder auch ein Murmeltier pfeifen. Für ein Angehen der Hirsche war es schon zu spät, die Dämmerung kroch bereits herauf aus dem dunklen Tal. Die beiden Jäger verließen vorsichtig ihren Posten und pirschten zur Hütte zurück. Wastl stellte Teewasser auf den Herd, in dem es heimelig knisterte, und dann machten sie sich über die Jause her, die ihnen Liesl in den Rucksack gepackt hatte. Bei einigen Häferln staubigen Jägertees wurde so einiges erzählt. Wastl bediente sich wie immer bei solchen Gelegenheiten seiner Lieblingssprache, dem Jägerlatein. Hartmut gefiel das, er wusste, dass er nicht alles glauben musste. Andächtig lauschend und leicht angesäuselt gab er sich der archaischen Rauheit der Wildnis hin und verschwendete kaum einen Gedanken an seine im Gasthaus zurückgebliebene Brigitte.

Zeitig am Morgen machten sie sich wieder auf die Socken. Das Morgengrauen warteten sie im Bodensitz an der alten Zirbe ab, dann prüfte Wastl mit großer Sorgfalt den Wind, leuchtete noch einmal sehr bedächtig das ganze Kar mit seinem Fernglas ab und resümierte schließlich kurz und bündig: „Passt!“ Ein Pirschsteig führte auf halber Höhe bis hinüber zur Gamsstelle, geschickt angelegt und immer wieder die Deckung von kleinen Baumgruppen oder Latschenfeldern ausnutzend, den nahmen sie jetzt, Hirschmann an der Leine bei Fuß. Wastl mahnte zu äußerster Vorsicht, hinter jeder kleinen Biegung konnte Hochwild stehen. An einem kleinen Bächlein vorbei mussten sie ein Stück steil bergauf steigen, um ein Latschenfeld zu umgehen. Dann schoben sie sich auf dem Boden robbend über die nächste Kuppe. Unter ihnen, auf einer kargen Wiese zwischen Steingeröll und Latschen, ästen zwei Hirsche! Wastl griff zum Glas und sprach an – eine unendlich lange Zeit lang, so schien es Hartmut, dessen Herz ihm nun bis zum Halse schlug. Hirschmann lag brav fünf Meter hinter den Jägern, ein aufgeregtes Hecheln konnte er aber nicht unterdrücken. „Traust di schieaßn? Es is holt vadaumt weit!“, raunte Wastl seinem Gast zu. Es waren wohl über 200 Meter. Hartmut nickte mit zittrigen Händen. „In rechten nimmst, loss da aber Zeit, woat, bis a broad steht.“ Hartmut ging in Anschlag, Wastl hatte ihm seinen Rucksack als Auflage gerichtet. Es dauerte eine Weile, bis er sich in seiner Lage einigermaßen sicher fühlte, dann atmete er durch, tief und lang, und spürte trotzdem seine Hände zittern. Er suchte durch das Zielfernrohr seinen Hirsch, setzte wieder ab, atmete noch ein paar Mal tief durch und nahm all seine Konzentration zusammen, denn jetzt stand der Hirsch breit. „Hoch aunfoarn muasst, hiaz kaust schiaßn!“ Der Schuss gellte hinaus und hallte wider im ganzen Kar, der Hirsch zeichnete nur schwach und trottete hinter eine kleine Latschengruppe. „Repetieren!“, rief Wastl mit einiger Aufregung und behielt sein Glas oben, unverwandt die Stelle im Auge behaltend, an der der Hirsch verschwunden war. Es dauerte tatsächlich nicht lange, und der Hirsch trat unterhalb der Latschen wieder aus. Er stellte sich breit, mit seinem Haupt immer wieder heftige Bewegungen nach hinten vollführend. „Schiaßn!“, befahl Wastl, und schon krachte der zweite Schuss aus der Büchse des Berliner Jägers. Der Hirsch brach auf der Stelle zusammen und lag im Feuer. Wastl nahm sein Glas nicht herunter und wies Hartmut an, noch einmal zu repetieren, es wäre nicht das erste Stück, das nach einem Krellschuss zusammenbricht und nach ein paar Sekunden wieder auf den Läufen ist. Doch der Hirsch war verendet, nach ein paar Minuten klopfte Wastl seinem Gast freudig auf die Schulter. „Weidmannsheil!“

Hartmut stand der Schweiß auf der Stirn, nun sank er in sich zusammen und – es war nicht zu verhehlen – eine Träne kollerte ihm über seine Wange. Wastl steckte sich ein Pfeiferl an und beruhigte seinen Jagdgast mit einem kräftigen Schnapserl, dann machten sie sich auf zum erlegten Hirsch. Für Hirschmann war dabei nichts zu tun, sie sahen den Kapitalen ja schon von weitem daliegen. Der Hund freute sich aber trotzdem und begann ein aufgeregtes „Totverbellen“. Es war ein reifer Hirsch, der ungerade Vierzehn-Ender prahlte mit einer ungewöhnlich weiten Auslage. Hartmut war selig, er steckte sich den von Wastl feierlich überreichten Latschenbruch mit stolz geschwellter Brust an seinen Hut und den letzten Bissen in den Äser des erbeuteten Hirsches. Die „rote Arbeit“ verrichtete Wastl. Auf der Suche nach Ein- und Ausschuss allerdings kam er aus dem Staunen nicht heraus. Am Ziemer oberhalb des Blattes war eine Fleischwunde zu sehen, das war gewiss der erste Schuss, der den Hirsch nur gestreift hatte, mit den Bewegungen seines Hauptes hatte der Hirsch wohl versucht, mit seinem Lecker die schweißende Wunde zu erreichen. Doch von einem tödlichen Einschuss war nichts zu sehen. Kopfschüttelnd erledigte Wastl den Aufbruch, drehte den Hirsch von links nach rechts und wieder zurück – kein Einschuss! „I moan, den Hirsch hot da Schlog troffn“, meinte er noch, doch dann, bei der nochmaligen Betrachtung des majestätischen Geweihs, fiel ihm ein Schweißtropfen am Haupt des Hirsches knapp hinter dem rechten Licht auf. Da saß der Schuss! Der Berliner Jäger hatte seinen Kapitalen mit einem Kopfschuss erlegt, auf 250 Meter, offenbar in dem Moment, als der Hirsch zum wiederholten Male sein Haupt zurückwarf, um an seine Schusswunde am Ziemer zu gelangen! Da kann man auch unter Jägern einmal von Glück sprechen.

Wastl zog den Hirsch ein Stück weit unter die Latschen und verblendete ihn, denn zur Bringung musste er sich einen Gehilfen holen, alleine war das nicht zu schaffen. Die beiden Jäger gingen zurück zur Hütte, um dort alles aufzuräumen und die Balken zu schließen, dann ging es frohen Schrittes hinunter ins Tal. In der Gaststube – es war später Vormittag – stand abermals der Jäger Sepp in seiner Krachledernen mit leichten Ringen unter den Augen an der Theke und trank ein Bier. Der Beutebruch an Hartmuts Hut war gut sichtbar, also stürmte er ihm gleich entgegen. „Weidmannsheil! Weidmannsheil!“, dröhnte er durch die Stube, „Wird’s dou nou zan Hirschn ziagn!“ Hartmut wunderte sich ein bisschen darüber, dass der Sepp nicht nur nach Bier und Tabak roch, sondern auch von einer irgendwie vertraut wirkenden, eigentümlich lieblichen Duftwolke umnebelt schien, doch was kümmerte ihn das, er freute sich darüber, dass er seine Hilfe anbot und sich über den Jagderfolg mitfreute.

Nach einem zünftigen Schnapserl, mit dem sie den Schützen hochleben ließen, machten sich Sepp, Wastl und der Jagdgehilfe Franz auf den Weg, den Hirsch aus dem Stierkar zu holen. Hartmut zog sich zurück in sein Zimmerchen, wo er seine Brigitte im reizvollen Negligé vor dem Spiegel in ausgesprochen beschwingter Laune vorfand. Sie hatte wohl schon mitbekommen, dass der Hirsch gefallen war und schwebte ihrem Herzallerliebsten mit einem strahlenden Lächeln entgegen, drückte und herzte ihn überschwänglich und wünschte ihm „Weidmannsheil“.

Drei Stunden später lag der Hirsch am Vorplatz des Gasthauses, gebettet auf Fichtenästen und Latschen, das Geweih stolz aufgerichtet. Rundum versammelte sich alles, was Beine hatte in dem kleinen Dorf und selbstverständlich alle Jäger des Stammtisches, die sich so eine Hirschfeier niemals entgehen ließen. Wastl griff sogar zum Jagdhorn und schmetterte mit Inbrunst das „Hirsch tot“ in den wolkenlosen Nachmittagshimmel. Drei der anwesenden Jäger erwiesen sich als passable Sänger und jodelten ein paar Jägerlieder in die Runde, bis dann der Hias mit seiner Harmonika kam und das Ganze beinahe zu einem Volksfest werden ließ – ein Ganghofer’sches Spektakel vor dem Gasthaus von Elisabeth und Sebastian in dem kleinen Dorf in den steirischen Bergen.