Die Sonne über Seynako

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Aus der Reihe: Seynako & Peiramos #1
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Die Sonne über Seynako
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Die Sonne

über Seynako

Sheyla McLane

Für Alex

Impressum

Texte: © Copyright Sheyla McLane

Umschlag: © Copyright by AmpersandBookCovers

Distributor: epubli, ein Service der

neopubli GmbH, Berlin

Auflage Februar 2019

Vorgeschichte

Die Dämmerung hatte sich bereits wie ein zarter, goldener Schleier über Seynako gesenkt und die Schatten des Steinkreises länger werden lassen, als Allan aus seiner Hütte trat. Da er in Lumpen gekleidet war, erinnerte er mehr an einen Bettler als an einen Mann, der durch seine Voraussagungen den Takt des Reiches beeinflusste und auf dessen Rat selbst König Darius wertlegte. Allan befand es nicht für nötig, sich in Gold zu kleiden, obgleich sein Stand es ihm erlaubt hätte. Er wusste, dass an kostbare Roben Erwartungen geknüpft waren. Mehr, als er zu erfüllen bereit war.

Ehrerbietig neigten die Menschen ihre Köpfe, als er zu ihnen trat. Seinen Schritten wohnte noch die Kraft der Jugend inne, seinen Zügen aber die Würde des Alters. Die gütige Wärme der sinkenden Sonne schenkte ihm Zuversicht und half Allan, die vielen Augenpaare zu ertragen, die angespannt auf ihm ruhten. Sie würden dem Land von seiner Weissagung Kunde geben. Nichts würde ihnen entgehen. Durch sie blickte ganz Seynako in diesem Moment auf ihn.

Er weitete seinen Geist in Richtung des in überirdischer Schönheit erstrahlenden Himmels. Fast schien es so, als lächle Sol der Sonnengott selbst auf ihn herab. Zeit und Raum standen offen. Und er nahm es erleichtert zur Kenntnis. Begleitet von einem tiefen Atemzug hob der Seher die Arme. Er spürte eine gewaltige Energie. Den Funken göttlicher Gnade, der über ihren Häuptern schwebte und begann mit dem Gebet, das sein Ritual eröffnen sollte. Anfangs waren die Zauberformeln nur vage auf seinen Lippen zu erahnen, doch bald wurde seine Stimme lauter und seine Muskeln zitterten vor Erregung.

Plötzlich schrien die Umstehenden auf, als ein goldener Blitz in der Mitte des Steinkreises ein Feuer entfachte. Furchtsam verneigten sie sich vor der Gewalt des Sonnengottes, während Allan schwer atmend die Arme sinken ließ. Ein Kribbeln schoss durch seine Adern, farbige Visionen bemächtigten sich seiner. Angestrengt kniff er die Augen zusammen, so als ob die Bilder, die er sah, dadurch an Schärfe gewinnen würden.

„Hört mich an! Eine Gefahr droht, unter Land zu vernichten!“, rief er mit Grabesstime. Die silbergrauen Strähnen, die ihm von seiner einstigen Haarpracht geblieben waren, hatten sich gelöst und fielen wirr über seinen mit Löchern und Flicken übersäten Leinenumhang. „Die Sonne über Seynako wird sich verdunkeln und erst wieder scheinen, wenn der rechtmäßige Herrscher seinen Thron bestiegen hat. Ein Übel wird auf unser Land zukommen, das wir nicht bekämpfen können, weil wir sein wahres Gesicht nicht kennen. Wer sich ihm entgegenstellt, wird viele Unschuldige mit sich in den Tod reißen.“

Das Wimmern eines kleinen Mädchens, das sich an den Rocksaum seiner Mutter klammerte, durchbrach die aufgeladene Stille. Die Familie der Kleinen war weder wohlhabend noch auf irgendeine andere Art einflussreich. Der einzige Grund, aus dem sie hier zwischen den Priesterinnen, Adligen und Feldbesitzern stand, war, dass es etwas gab, was sie von allen anderen unterschied. Seinen Eingebungen folgend, wies Allan auf das Kind. Inmitten der Menschentraube wirkte es wie ein vollkommen unreales Wesen, eine Kuriosität. Sein Haar schimmerte dunkelblau in seinen Ansätzen und wurde zu den Spitzen hin immer heller, bis es fast weiß wirkte.

„Dieses Mädchen!“, verkündete der Seher mit erhobener Stimme. „Sie allein wird unser Land bewahren können, denn die Soldaten mit ihren Schwertern und Bögen werden machtlos sein gegen den Feind. Nur die Waffen, die dieses Mädchen besitzt, werden ihn in die Knie zwingen.“

Die Kleine klammerte sich noch enger an ihre Mutter, die die Besonderheit ihrer Tochter nicht teilte. Ihr Haar schimmerte weizenblond im Widerschein des Feuers, ebenso wie das aller anderen Bewohner des Landes.

Der Legende nach war der Sonnengott Sol einst herabgestiegen, um die Sonne aus der Sicht der Menschen zu betrachten. Dabei verliebte er sich in die blühende Landschaft des Südens unter der strahlend hellen Sonne. Doch sooft er kam, um die grünen, fruchtbaren Haine zu genießen, die Felder zu durchreiten und sich im sanften Schatten der Wälder zu verlieren, wurde er von den Menschen gestört, die versuchten, ihn seiner goldenen Haare zu berauben. Sie glaubten, ihr Besitz verleihe ihnen ebenfalls göttliche Kräfte. Doch Sol vergalt diesen Aberglauben, indem er durch einen Zauber bewirkte, dass das gesamte Volk des Südens blonden Hauptes war, so wie er.

Augenblicklich verlor das goldene Haar seinen Reiz und die Leute schämten sich ob ihrer eigenen Torheit.

Eines nachts erschien Trivia, die Schirmherrin des Mondes und Göttin der Magie, dem Sohn des damals herrschenden Königs. „Ich habe dich von allen Erdenwesen auserwählt, mir zu folgen.“, sprach sie. „Durch mich wirst du so mächtig werden, dass du selbst deinen Vater an Einfluss übertriffst. Was kann Seynako dir bieten? Ein paar sonnige Jahre, in denen du über ein Volk von Dummköpfen regieren und goldene Pantoffel tragen darfst. Ein bedeutungsloser Name in einer langen Reihe noch bedeutungsloserer Vorfahren, das wirst du sein. Hier im Norden aber gibt es neues Land. Ein Reich, das den Hunger deiner Seele stillt und über dessen Geschichte du allein bestimmen sollst. Du brauchst nichts zu tun, als mir zu gehorchen.“

Der Prinz folgte ihrem Ruf gen Norden und erbaute ihr zu Ehren eine Kathedrale. Trivia hielt ihr Versprechen – und mehr als das. Sie schenkte ihm einen Sohn, der zur Hälfte göttlich und von engelsgleicher Schönheit war. Überdies besaßen alle Menschen im Reich des Nordens eine dunkle Haarfarbe, weil Trivia das Gold der Sonnenanbeter verabscheute. Seitdem war der Kontinent in nur zwei große Länder gespalten, die von einem mächtigen Gebirge getrennt und durch ihre Feindschaft für immer entzweit bleiben sollten.

Der Seher gehörte zwar zu den Ältesten Seynakos, doch weder sein Vater noch sein Großvater hatten die Zeit erlebt, in der die Götter noch auf Erden weilten. Sie lag viele hundert Jahre zurück und niemand, den er kannte, trauerte ihr mehr nach. Die Menschen hatten vergessen, dass ihr blondes Haar sie einmal als Strafe heimgesucht hatte. Sie dankten Sol für seine Güte und fühlten sich ihm, dem Schöpfer der lebenspendenden Sonne, die sie mehr als alles andere verehrten, in Ewigkeit verbunden.

„Papa, ich will ein Held sein!“

Herzlich lächelnd strich Darius über das erhitzte Gesicht seines Sohnes. „Das wirst du, wenn du groß bist.“

Alec stieß die Hand seines Vaters fort, erzürnt über dessen milde Worte. „Ich will aber jetzt ein Held sein!“ Bald, das war ihm bewusst, würde er in die Fußstapfen seines Vaters treten und Regent über ein gigantisches Reich werden. Er würde auf den wildesten Pferden reiten, mit den gefährlichsten Feinden kämpfen und rauschende Feste feiern, natürlich zu seinen Ehren. Das Erwachsenwerden konnte ihm gar nicht schnell genug gehen.

Darius nahm ihn gegen seinen Willen auf den Schoß. „Wie oft habe ich dir das schon erklärt?“, begann er. „Von königlichem Blut zu sein, heißt nicht gleichzeitig, auch ein Held zu sein.“

Das Kind hielt sich die Ohren zu. „Nicht schon wieder, Papa!“

Sanft nahm er die kleinen, trotzig verkrampften Hände in seine. „Heute werde ich dir noch etwas Anderes sagen, Alec. Hör mir genau zu. Wie du weißt, ist unser Land seit Urzeiten verfeindet mit dem Reich des Nordens. Doch das war nicht immer so...“

Aufmerksam spitzte Alec die Ohren.

„Peiramos, das Reich des Nordens, war vor sehr langer Zeit einmal ein friedliches Land, in dem die Völker der Menschen ebenso frei und unabhängig lebten, wie die der magischen Wesen.“

„Magische Wesen? Wie Drachen?“, hakte Alec mit großen Augen nach.

„Ja, dergleichen.“, schmunzelte Darius. „Aber diese Zeit fand ein blutiges Ende und seit vielen Jahrhunderten herrscht nun der unsterbliche König Alefes wie ein Tyrann. Sein Gesicht soll die Engel an Schönheit, und sein Herz alle Monster an Grausamkeit übertreffen. Manche behaupten, er habe einen Schatten anstatt einer Seele in sich und der solle direkt aus der Unterwelt stammen. Doch wie viel Wahrheit tatsächlich in diesen Gerüchten steckt, vermag niemand zu sagen, da nicht einmal die Bewohner seines Landes selbst ihn je zu Gesicht bekommen haben. Generationen sind unter seiner Herrschaft vergangen und die, die behaupteten, ihn gesehen zu haben, sind schon lange gestorben. Doch der ritterliche Clan, der sich um Alefes` Burg herum angesiedelt hat, sorgt mit eiserner Härte für die Einhaltung der Gesetze.“

„Aber…“, unterbrach Alec seinen Vater. „Wenn ihn noch keiner gesehen hat, können die Leute gar nicht wissen, ob es ihn tatsächlich gibt!“

Darius nickte. „Das mag sein. Aber seine Existenz anzuzweifeln, ist den Bewohnern von Peiramos unter Androhung der Todesstrafe verboten.“

„Aber das ist doch klar! Dieser Clan hat die Macht an sich gerissen und herrscht jetzt unter dem Namen eines Königs, der schon lange tot ist.“

„Sol gebe, dass der Tyrann nur ein Gespinst der alten Sagen ist.“, sagte Darius, erfreut über die Anteilnahme seines Sohnes. „Aber was, wenn nicht? Immerhin soll Alefes ein Halbgott sein. Was ist, wenn ihn das wirklich unsterblich macht?“

„Pah! Vor dem alten Schaf fürchte ich mich nicht! Wenn ich groß bin, werde ich in Peiramos einmarschieren. Und wenn es den König gibt, dann werde ich ihn vom Thron stürzen und den Clan vernichten und die Untertanen befreien und… ich werde ein Held sein!“

 

„Sicher wirst du das.“, lächelte Darius. „Aber vergiss nicht, es gehört auch zu den Aufgaben eines Helden, den Frieden zu wahren. Peiramos aus eigener Initiative anzugreifen, widerspricht den Werten, die unser Land verkörpert. Wichtig ist nur, dass wir für alle Fälle vorbereitet sind. Das hat mich mein Vater gelehrt und das sage ich dir heute.“

„Hast du Angst?“

Es war nicht Alecs Absicht gewesen, seinen Vater mit dieser Frage zu provozieren. Seine kindliche Neugier wollte wissen, ob ein Held jemanden, den er noch nie gesehen hatte, fürchten solle oder nicht.

Gereizt schob ihn Darius von sich. „Was? Wie sollte ich Angst haben? Dafür gibt es überhaupt keinen Grund! Seynako hat die tapfersten Krieger und die besten Generäle weit und breit. Im Falle eines Angriffs wären wir selbstverständlich in der Lage, unser Land zu verteidigen! Was verstehst du schon davon, Alec.“ Und er wandte sich ab.

Kapitel 1

Dreizehn Jahre später

Keuchend stellte Azur die Wassereimer ab und lockerte ihre Schultern. Sie hatte noch nicht einmal die Hälfte des Weges hinter sich und verging bereits vor Hitze. Der Bach in der Nähe ihrer Hütte war seit Wochen nahezu ausgetrocknet und so musste die Familie das Wasser aus dem Brunnen in der Stadt holen.

„Azur!“ Ein Bauer, der einen Korb mit Früchten huckepack trug, blickte sie fragend an. „Du wirst doch nicht die schweren Eimer nach Hause schleppen? Wo ist dein Bruder?“

Colin, der gewöhnlich das Wasser vom Brunnen holte, half ihrem Vater auf dem Feld. Das Mädchen deutete mit einer ausladenden Geste hinaus auf die, wie jedes Jahr, blühenden und fruchtbaren Felder von Seynako.

„Feldarbeit, was? Ja, ja, die Ernte wird gut.“

Azur lächelte und nahm die Wassereimer wieder auf.

„Aber das schaffst du unmöglich allein. Mein Sohn wird dir helfen, warte kurz, ich rufe ihn.“

Hilfsbereitschaft war eine Tugend, sagte man. Aber das Mitleid des Mannes ärgerte sie. Tapfer setzte sie ihren Weg mit beiden Eimern fort, während sie sich bemühte, möglichst wenig von deren Inhalt zu verschütten. Der Wind spielte mit ihrem langen, blauen Haar, das in der Sonne schimmerte und ihr außer Bewunderung auch eine Menge Häme eingebracht hatte. Alle, die sie kannte, besaßen einen goldblonden Schopf. Da war es nicht verwunderlich, dass sie auffiel.

Sie brauchte nur einen Fuß in die Stadt zu setzen, schon war sie von Menschen umringt. Jedermann kannte sie oder hatte wenigstens von ihr gehört. Sie zeigten mit dem Finger auf sie, tuschelten und unterhielten sich ganz ungeniert, ohne dabei das Wort an sie zu richten.

Das wäre auch überflüssig gewesen, denn Azur war stumm. Nicht seit ihrer Geburt, als kleines Mädchen hatte sie genauso gern mit den anderen im Wirtshaus zusammengesessen, hatte getanzt und geschwatzt, hatte es genossen, dass alle sie sehen und ihr Haar anfassen wollten. Doch mit jedem Wort, jedem lauten Lachen und staunendem „Oh!“ gewahrte sie, dass es zwischen den Menschen etwas gab, woran sie nie würde teilhaben können. Eine Verbindung, die ihr verborgen blieb, weil sie diejenige war, die Sols Segen nicht empfangen hatte. Ihr blaues Haar war wie Eis, das die sonnigen Gemüter abkühlte, statt an ihnen zu schmelzen. Darum hörte sie auf, zu sprechen, zu tanzen und zu lachen. Ihre Stimme war müde geworden und hatte sich schlafen gelegt.

Wenn man das Wort an sie richtete, lag Azur die Antwort förmlich auf der Zunge, aber ihr Mund blieb verschlossen. Sie brachte keinen Laut mehr heraus. Sie konnte nicken und lächeln oder bedächtig den Kopf wiegen, aber reden konnte sie nicht, wofür die besten Ärzte der Stadt – zumindest diejenigen, für die ihr Vater das Geld hatte aufbringen können – keine Erklärung fanden. Azur wusste, dass es keinen erklärbaren Grund für ihre Stummheit gab. Ihre Stimme war erschöpft, musste sich ausruhen und würde irgendwann wiederkommen. Doch wie hätte sie das jemandem mitteilen sollen?

Abermals setzte sie die Eimer ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Himmel war wolkenlos und hinderte die Sonne nicht daran, Azur zu blenden. Sie war das Wappenzeichen von Seynako und verkörperte alle Eigenschaften, die das Land sich zum Gesetz gemacht hatte. Wärme, Mitgefühl, Frohsinn und Leichtigkeit.

„Die Sonne nervt, was?“ Der halbwüchsige Bengel blinzelte spitzbübisch und biss in den Apfel, den er in der Hand hielt. „Blendet und macht Hitze.“, meinte er kauend.

Azur zuckte die Schultern und nahm die Wassereimer wieder auf.

„Hey, nicht doch, lass das lieber einen Mann erledigen.“ In hohem Bogen warf er den halb aufgezehrten Apfel von sich und nahm ihr die Eimer aus der Hand. „Wir wollen schließlich nicht, dass du dir deine hübschen Knöchel verstauchst.“

Es war nicht zu leugnen, dass Azur tatsächlich hübsche Knöchel besaß. Trotzdem hätte er sie nicht in diesem Tonfall darauf hinweisen sollen. Unbehaglich zupfte sie an ihren Röcken, die nicht ganz bis über die Fußgelenke reichten. Azur war gewachsen und ihr Vater konnte es sich nicht leisten, Stoff für ein neues Kleid zu kaufen.

Glücklicherweise war der Junge den Rest des Weges so mit dem Gewicht der randvollen Wassereimer beschäftigt, dass er vergaß, sich noch mehr großspurige Sprüche auszudenken.

Die Straße führte sie aus der Stadt hinaus und gabelte sich dann vor ihnen auf. „In welche Richtung?“, schnaufte er und drehte sich nach Azur um, die bis jetzt anständig hinter ihm hergelaufen war. Nun streckte sie die Arme nach den Eimern aus, um ihm zu signalisieren, dass sie sie die letzten Meter allein tragen werde. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn und seine Wangen waren gerötet. Anscheinend war es ihm recht, von der Last der Wassereimer befreit zu werden, denn er überreichte sie Azur ohne eine unflätige Bemerkung. Unterwegs hatte er einen beträchtlichen Teil ihres Inhalts verschüttet, weshalb Azur sie nun viel leichter zu tragen vermochte als vorher. Sie knickste höflich, den Blick gesenkt, und schlug dann rasch den Feldweg ein.

Dies war zwar nicht der Ausdruck von Dankbarkeit, den ihr Helfer sich erhofft hatte, doch er sagte nichts und blickte ihr bewundernd nach, wie ihre zierliche Gestalt behände beide Eimer den unebenen Weg entlang trug. Das Mädchen mit dem blauen Haar war doch ganz anders, als seine Freunde sich im Wirtshaus erzählten.

Azurs Großmutter saß wie immer am Fenster und starrte angestrengt in die Luft. „Gut, dass du kommst, Kindchen. Dein Vater hat schon nach dir gefragt.“, sagte sie zur Begrüßung, ohne ihre Blickrichtung zu verändern. „Geh ruhig schon hinein, ich muss hierbleiben, um den Himmel zu beobachten.“ Der Himmel war Großmutters zweitgrößtes Anliegen nach ihrer Familie. „Einer muss ihn im Auge behalten, damit er keinen Unfug macht.“, pflegte sie stets zu sagen. „Es ist Sache der Alten, das zu übernehmen. Die wissen am besten, was es mit ihm auf sich hat.“

Heute war er strahlend blau, wie meistens im Sommer. Abgesehen von ein paar Schäfchenwolken, die sich in der leichten Brise nach kürzester Zeit wieder auflösten, gab es nichts Verdächtiges zu beobachten.

Azur stellte die Eimer in die Küche, wo ihr ein Jahr jüngerer Bruder Lloyd Gemüse putzte. Seine Augen strahlten, als er sie erblickte. „Azur ist heimgekommen!“, rief er dem Vater zu, welcher derweil am Tisch saß und mit verkniffenen Augen versuchte, seine Hose zu flicken. Sie hatte sich bei der Arbeit einen Riss zugezogen, aber seine Bemühungen, selbigen zuzunähen, scheiterten schon bei dem Versuch, einen Faden durch das Nadelöhr zu ziehen.

„Wieso kommst du erst jetzt? Das hat länger gedauert als nötig.“, rügte er seine Tochter. Azur legte ihre Finger auf seine kräftigen, wulstigen Hände und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Sofort erhellte ein Lächeln das braungebrannte Gesicht ihres Vaters. Im Grunde war er nur ärgerlich gewesen, weil er es nicht fertiggebracht hatte, seine Hose auszubessern. Sie nahm ihm das Nähzeug ab und machte sich daran, den Riss zu flicken.

„Deine Großmutter hat den ganzen Tag nichts anderes im Kopf, als darauf zu achten, dass uns der Himmel keine Schwierigkeiten macht. Sobald sich nur die kleinste Wolke zeigt, springt sie auf, zündet eine Kerze an und murmelt ein Gebet. ‚Damit das Wetter gut bleibt, bis wir die Ernte eingeholt haben.‘ Aber es war doch bis jetzt jeden Sommer gut, sag ich. ‚Na siehst du‘, sagt sie. ‚Woher willst du wissen, dass nicht ich es bin, die den Sonnengott seit Jahren dazu bringt, die Regenwolken zu vertreiben?‘“

„Ja, weißt du es?“, pflichtete Lloyd seiner Großmutter bei. „Kann sein, Sol findet es rührend, wie sehr sie sich bemüht.“

Azur hatte gerade den letzten Stich getan, als sie draußen Hufgetrappel vernahmen. „Das wird Colin mit dem Karren sein.“, sagte Lloyd und lief hinaus, um seinem Bruder zu helfen. Gleich darauf rief er nach seinem Vater.

Zwei Männer, die die Uniformen der königlichen Garde trugen, kamen auf ihren Pferden auf das Anwesen zu galoppiert. Selbst als sie noch gut zwanzig Meter entfernt waren, fiel der Vater auf die Knie und verneigte sich so tief, dass seine Nase beinahe den Boden berührte. Unsicher tat Lloyd es ihm gleich, während die Frauen sich hinter den Gardinen versteckten, um alles unbemerkt verfolgen zu können.

Einer ritt auf einem edlen Schimmel und hatte noch mehr Orden als der andere. Er war es, der das Wort ergriff: „Ich, General Balfor, komme auf Befehl Seiner Majestät. König Darius verlangt, dass das Mädchen mit dem blauen Haar unverzüglich zum Schloss gebracht werde.“

Lloyd schielte ungläubig zu dem erhaben auf seinem Pferd ausharrenden Edelmann empor. „Das ist meine Schwester, was will der König von ihr?“

Die Hand seines Vaters traf ihn sogleich strafend am Hinterkopf. „Verzeiht meinem Sohn sein vorlautes Mundwerk – geh sofort ins Haus, Lloyd! Wenn Eure Majestät uns wohl die Gnade erweisen könnte, sich bis morgen zu gedul...“

Der andere Reiter lachte verächtlich. „Was glaubst du, wen du vor dir hast, Bauer?“

Der Vater drückte seine Nase noch tiefer in den Schmutz. „Niemand, dem ich den Gehorsam zu verweigern vermag. Ich war nur so frei, Euch die Bitte anzutragen, uns bis morgen Zeit zu geben.“

„Der König wird nicht erfreut darüber sein.“, meinte General Balfor und aus seinem Mund klang es wie eine Drohung. „Er hat uns nicht umsonst als Geleit geschickt, um zu gewährleisten, dass das Mädchen sicher bei ihm ankommt.“ Der Schimmel scharrte nervös mit den Hufen und auch das Tier seines Begleiters konnte nicht stillstehen. „Und bevor du jetzt verlangst, wir sollten morgen wiederkommen: vergiss das gleich. Wenn es nötig ist, warten wir.“

„Ich habe kein Pferd, mit dem ich Azur auf den Weg zu Eurem Herrn schicken könnte.“, sagte der Mann zähneknirschend. „Nur ein altes Pony, das augenblicklich noch mit meinem Sohn auf den Feldern ist und seinen Karren zieht.“

„Was schert mich das! Hat deine Tochter etwa nicht zwei gesunde Füße, auf denen sie zum Schloss laufen kann, wenn es sein muss?“, herrschte der Reiter ihn an.

In diesem Augenblick bog Azurs älterer Bruder Colin mit besagtem Karren auf den Feldweg ein, vor dem in aller Gemütsruhe ein braunes Pony trabte.

„Du hast zehn Minuten, um den Gaul zu satteln und deiner Tochter Lebewohl zu sagen.“, entschied der mit den vielen Orden.

Azurs Großmutter hatte bei den Worten des Generals die Arme um ihre Enkelin geschlungen und aufgeschluchzt. „Da hast du es!“, rief sie aus, sobald der Vater hereinkam. „Ich habe es dir hundertmal gesagt, aber du wolltest nicht auf mich hören. Jetzt ist der Moment gekommen, der Azur von unserer Familie trennt, und sie weiß noch immer nichts von ihrem Schicksal! Ich hätte es ihr selbst sagen sollen. Mann im Hause? Pfui, ein armseliger Feigling bist du! Das arme Kind wird von uns fortgerissen, ohne im Geringsten auf das vorbereitet zu sein, was es erwartet!“

„Wovon sprichst du?“, fragte Lloyd, der damit auch Azurs Gedanken auf den Punkt brachte. Wieso verlangte der König nach ihr? Und von welchem Schicksal sprach Großmutter?

Ihr Vater drückte sie an sich. Seine Arme waren kräftiger als er selbst. „Ich weiß, ich hätte es dir längst sagen sollen. Aber du warst so unschuldig, so ahnungslos. Wie hätte ich es dir erklären können?“

„Azur!“ Colin kam hereingestürmt. „Ich habe Doodle gesattelt. Was ist los? Was will General Balfor von ihr?“

„Sie zu König Darius bringen.“, antwortete der Vater.

„…weil sie die Auserwählte ist.“ Ihre untersetzte Statur hinderte die Großmutter nicht daran, sich zu ihrer ganzen Würde aufzurichten. „Jawohl, die Auserwählte. Es bleibt uns keine Zeit mehr, es dir schonend beizubringen, Kindchen. Und da dein Vater anscheinend nie die richtigen Worte findet,“ sie funkelte ihn an „werde ich es dir sagen. Ein Seher hat vor dreizehn Jahren prophezeit, dass du diejenige sein wirst, die unser Land rettet. Du trägst eine Waffe in dir, die kraftvoller ist, als eine ganze Armee mit Speeren, Schwertern und Bögen. So. Und nun geht beiseite und lasst sie mich ein letztes Mal umarmen.“

 

„Ich konnte doch nicht wissen, dass es soweit kommt. Ich wollte sie beschützen!“, verteidigte sich der Vater, während seine Kinder ihn fassungslos ansahen. „Versteht mich bitte, ich habe es gut gemeint.“

Azur warf sich in seine Arme. Sie hatte ihm schon vergeben, doch das machte ihr den Abschied nicht leichter. Lloyd weinte und Colin drückte sie so fest wie noch nie, so lange, bis General Balfor sie ungeduldig daran erinnerte, dass es Zeit zum Aufbruch war.

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