Die Rache des Mondes

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Aus der Reihe: Seynako & Peiramos #2
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Die Rache des Mondes
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Sheyla McLane

Die Rache des Mondes

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Impressum neobooks

Kapitel 1

Im Reich Eframon

Itamo rannte, spürte kaum mehr den Boden unter den Füßen. Sein Atem rauschte in seinen Ohren. Um ihn verschmolz das Buschwerk zu einer grünen Masse, durch die kaum Licht, wohl aber die Rufe seiner Verfolger drangen. Sie kämpften zornig gegen das Dickicht an, das sie daran hinderte, seine Spur aufzunehmen.

Es war, als würden alle Pflanzen sich bei den Händen halten. Ineinander verschlungene Zweige, Kletterpflanzen und Gestrüpp stellten sich einem wie eine kilometerdicke grüne Wand entgegen, es sei denn, man kannte die Pfade, die hindurchführten. Itamo war jede Wurzel, jeder herabhängende Ast seit seiner Kindheit vertraut. Wie von selbst wich er Stämmen aus, griff nach Schlingpflanzen, an denen er sich über Sumpflöcher und Dornenbüsche schwang, und übersprang die Erdnester der Bienen. Der Bogen, der wie eine Schärpe über seine Schulter hing, behinderte ihn nicht. Gleich einem fliegenden Vogel bewegte Itamo sich in seinem Element. Sein Körper war eins mit dem Geist dieses Ortes, den er liebte, als seien die Wege des Waldes seine Adern, und der Geruch der Erde das Blut, das in ihnen floss.

Seine Sippe hatte sich in diesen dicht verwachsenen Teil des Waldes zurückgezogen, um sich vor dem Zugriff der königlichen Familie zu schützen. Der Stamm der Oduaki, dem Itamo angehörte, blieb nie länger als einen Sonnenkreis lang am selben Ort. Die Pfade, die sie nutzten, waren so sorgfältig angelegt, dass sie in der undurchdringbar scheinenden Irre des Dickichts kaum zu erkennen waren und selbst wenn ein Unwissender sie zufällig entdeckte, führten sie ihn unweigerlich in die Orientierungslosigkeit.

Dank des Wissens, das die Oduaki mit dem Wald verband, hatte es seit vielen Jahren keine Entführung mehr gegeben. Die Jäger der königlichen Familie hatten die Oduaki nicht erreichen können - bis heute.

Sie stürmten das Lager, gewaltsam und roh, wie es ihre Art war. Einige, darunter Itamo, hatten die Jäger angegriffen, doch sie mussten einsehen, dass sie nichts gegen die Übermacht ausrichten konnten, außer ihren Familien einen Vorsprung zu verschaffen, den sie zur Flucht nutzen konnten. Ein Wurfmesser traf Itamos Cousine in den Kopf, als sie versuchte, ihre Tochter vor den Jägern in Sicherheit zu bringen. Itamos Bruder hatte das weinende Mädchen aus den Armen seiner sterbenden Mutter befreit und war auf einem Weg, der parallel zu seinem verlief, mit ihm in den Wald geflohen.

Zum Glück war es den Jägern nicht gelungen, das Lager zu umzingeln. Obgleich die königliche Familie ohne Unterlass Späher in den Wald schickte, hatten sie von den hunderten Pfaden nur einen einzigen entdeckt und sicher waren Wochen vergangen, bis sie seinen Verlauf nachvollziehen konnten. Viele Späher wurden ausgesandt, aber wenige lebten lange genug, um ihren Herrinnen Bericht zu erstatten. Itamo selbst hatte mehr von ihnen getötet, als Blütenblätter den Kelch einer Baumlilie schmückten. Sie waren wie Fliegen, die aus den Därmen stinkenden Aases gekrochen kamen, doch niemand sah, woher und aus welcher Richtung. Sie schienen zahllos zu sein, aufdringlich, aber ebenso hilflos, wenn sie in die Falle gegangen waren, und selbst wenn man eine zerquetschte, kamen immer neue nach.

Abrupt blieb Itamo stehen. Vor ihm lichtete sich das Buschwerk. Der Ort, an dem die Oduaki sich sammeln würden, war ganz in der Nähe. Er konnte ihre Stimmen erahnen und das beunruhigte Itamo mehr als die Jäger in seinem Rücken. Etwas war nicht so, wie es sein sollte. Sie mussten sich still verhalten, wenn sie die Feinde nicht auf ihre Spur locken wollten.

Er schob sich durch das Unterholz, nun langsam und auf jedes Geräusch bedacht. Je näher er den Stimmen kam, desto deutlicher spürte er ihre Angst. Seine Fußsohlen kribbelten. Ein kaum wahrnehmbares Beben breitete sich aus, durchlief die abertausend Wurzeln des Waldes und erfasste seine eigenen Wurzeln. Er wusste, was es bedeutete. Seine Familie litt Schmerzen. So, wie es den ganzen Wald erschüttert, wenn ein Baum fällt, durchlitt Itamo die Angst seines Vaters, seiner Mutter, seiner Geschwister und deren Kinder. Ihr Fleisch war die Wurzel, die sie alle miteinander verband, ihre Sensitivität die heilige Verbindung zum Leben und zur Weisheit der Bäume.

Vor ihm lag die Lichtung, auf der die Oduaki sich gesammelt hatten. Itamo spähte durch das Buschwerk hindurch. Jäger umstellten sie, stießen immer wieder in die sich ängstlich zusammendrängende Menschenmenge und zerrten sie auseinander, trennten die Frauen von ihren Männern, rissen ihnen die Kinder aus den Armen, und so sehr sie auch weinten und flehten, die Jäger blieben unerbittlich. Dann zerrten sie die Alten fort, die Großmütter und -väter, stießen denen, die nicht schnell genug fortkamen, den Schaft ihrer Klingen in den Rücken.

Itamo begriff, dass es den Jägern nie darum gegangen war, das Lager einzukreisen. Vielmehr waren sie geschickt worden, um die Oduaki aufzuscheuchen. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit hatten sie den Ort gefunden, den der Stamm in einer Notsituation aufsuchte, und hatten sie hier erwartet.

Es blieb ihm nichts übrig, als in seinem Versteck darauf zu harren, was als Nächstes geschehen würde.

Angestrengt suchte er in der Menge nach seinen Verwandten. Er konnte seine Mutter in der Gruppe der Frauen ausmachen. Sein Vater war unter den Alten, die die Jäger offenbar ausgemustert und an den Rand der Lichtung abgedrängt hatten. Einige flohen in den Wald zurück, die Jäger hinderten sie nicht daran. Doch Itamos Vater nutzte die Gelegenheit nicht. Er hob den Kopf und fixierte einen Punkt am anderen Ende der Lichtung. Mit seinem Kranz aus verfilztem Haar ähnelte er einem ergrauten Löwen.

Er folgte dem Blick seines Vaters über das Gedränge hinweg und Hass stieg wie kochend heißer Dampf in ihm auf. Dort stand ein Pferd, mager und langbeinig wie ein Windhund, mit hellgoldenem Fell. Es trug eine Frau auf seinem Rücken, unverkennbar ein Mitglied der königlichen Familie. Sie war jung, fast noch ein Mädchen, doch ihre Schönheit übertraf alles, was Itamo je als schön empfunden zu haben glaubte. Ihre Haut erinnerte ihn an dunklen Honig, viel heller als die seine. Selbst über die Entfernung, die zwischen ihnen lag, meinte er, ihr von dichtem, schwarzem Haar umrahmtes Gesicht zu erkennen. Sie wirkte beinahe gelangweilt.

Er verstand den Hinweis seines Vaters und insgeheim erfüllte es ihn mit Stolz, wie klug und gefasst der alte Mann sich verhielt.

Itamo zog einen Pfeil aus seinem ledernen Köcher und spannte den Bogen. Er ahnte, dass sich außer ihm noch andere im Schutz der Bäume verbargen. Womöglich zielten in diesem Moment ein Dutzend Pfeile auf die Anführerin, die nichtsahnend mit der Mähne ihres Pferdes spielte und auf die Oduaki herabschaute. Auf die Frauen, die flehend die Hände nach ihren Kindern streckten. Zu den aufbegehrenden Männern, die von den Jägern in Schach gehalten wurden. Itamo konnte sehen, wie sie den Blick über sein Volk schweifen ließ, das furchtsam ihrem Urteilsspruch entgegensah, und sie lächelte. Angesichts ihrer Macht und der vielen Schicksale, die ihr zu Füßen lagen, verzog ihr Mund sich zu einem abscheulich schönen, zufriedenen Lächeln. Wenn Itamo noch einen Ansporn gebraucht hätte, wäre allein das Grund genug gewesen, sie zu töten.

 

Alle Muskeln seines Körpers verhärteten sich und die Sehne des Bogens schnitt in seine Finger, als er mitten auf ihre Brust unter dem hochgeschlossenen, bronzebestickten Kleid zielte. Das Pferd stand ruhig, vom Tumult auf der Lichtung ebenso unbeeindruckt wie seine Reiterin. Innerhalb weniger Sekunden gelang es Itamo, sein Ziel zu fokussieren. Er fragte sich, ob die anderen genug Geistesgegenwart besaßen, das Überraschungsmoment der Jäger, wenn sie ihre Gebieterin vom Pferd stürzen sahen, zur Flucht zu nutzen. Viel Zeit würde ihnen nicht bleiben.

Im selben Augenblick, in dem er die Sehne nach vorn schnellen ließ, packte ihn jemand, der sich von hinten angeschlichen hatte, und riss ihn zurück, sodass der Pfeil seiner Kontrolle entglitt. Er rammte dem Angreifer seinen Bogen in den Bauch und wirbelte herum.

Sein Bruder krümmte sich vor Schmerz und taumelte rückwärts. „Nein“, keuchte er. „Nicht auf sie schießen.“

„Was tust du!“, fuhr Itamo in an.

„Sie hat versprochen, niemanden zu töten.“ Seine Stimme ging fast im Lärm unter, der auf der Lichtung ausgebrochen war. Und Itamo starrte ihn an, viel zu lange, gebannt durch die schreckliche Erkenntnis. Das gab den Jägern genug Zeit, um ihn zu fassen.

Sie zerrten Itamo unter Geschrei aus seinem Versteck. Er bäumte sich auf, ließ die Fäuste fliegen, doch für jeden Mann, den er niederstreckte, kamen drei weitere nach. Itamo sprang hoch und sein Tritt traf einen der Jäger an der Schläfe. Es knackte, als die Wucht des Angriffs seinen Schädel traf und er zu Boden ging.

Sie warfen einander Seile zu und umkreisten Itamo, der sich mit jeder Bewegung mehr in ihrem Netz verfing. Das grobe Tau schürfte über seine Haut und zog sich gewaltsam um ihn zusammen, presste ihm die Arme fest an die Seiten. Er glaubte, sein Atem müsse versiegen und seine Knochen bersten. Ein letzter Stoß ließ ihn zusammenbrechen, unfähig, sich zu rühren. Die Klinge eines Säbels fand seine Kehle und zwang ihn, den Kopf zu heben.

Sie ritt auf ihn zu, erhaben auf ihrem hellgoldenen Pferd, doch ihr Lächeln war verschwunden. „Gehört dieser seiner Familie an?“, fragte sie.

„Ja“, sagte sein Bruder.

Sie hielt direkt vor Itamo, der vor ihr knien musste, halb hernieder gestreckt und nach Luft ringend. Bronzene Ringe steckten an ihren Fingern und umschlossen ihr graziles Handgelenk. Er hätte es mit einem Griff brechen können. Da war kein Schmutz unter ihren Nägeln, keine Spur von Unordnung an ihrer Erscheinung.

Sie betrachtete ihn mit mäßigem Interesse. „Was glaubt er, wäre gewonnen gewesen, wenn der Pfeil sein Ziel getroffen hätte? Glaubt er, unsere Männer hätten sich zurückgezogen und seine Sippe verschont?“

Die Klinge des Jägers schnitt in Itamos Haut. Ein dünnes Rinnsal Blut rann an den hervortretenden Sehnen seines Halses entlang. Sie verfolgte, wie es sich in der Senke zwischen seinen Schlüsselbeinen sammelte und auf die Seile tropfte, die ihn bändigten.

„Sie hätten alle niedergemetzelt“, antwortete sie sich selbst. „Männer, Frauen, Kinder. Er hat den Tod mehr als alle anderen verdient.“

„Verehrte königliche Schwester, Feriah, Ihr habt zugesichert…“

„Wage er es nicht. Keinem Mann steht es zu, uns an unsere Versprechen zu erinnern. Wir sind dazu geboren, sie zu brechen, wann immer wir den Wunsch danach verspüren“, sagte Feriah kalt. „Aber wir sind gnädig, dieses Mal. Sabio!“

Ein Diener, gut einen Kopf kleiner als Itamo, trat neben sie. Offensichtlich nahm er eine höchst bedeutende Position ein, denn seine Weste war aus dem gleichen bronzedurchwirkten Brokat geschneidert wie das Reiterkleid seiner Herrin. Beim ersten Blick in seine längliche Visage wusste Itamo, dass dieser Mann gefährlicher war als ein ganzes Heer von Jägern, da ihn mehr mit der königlichen Familie verband als nur blinder Gehorsam.

„Er wird ohne Verzug den Preis für den Jäger zahlen, den er uns gekostet hat“, ordnete Feriah an. „Aber gib Acht, ihn nicht zu stark zu versehren. Einer von solchem Wuchs ist ein Prachtexemplar in unserer Sammlung.“

Sabio vollführte einen heuchlerischen Knicks, doch als er wieder aufsah, blitzten seine Kojotenaugen vor Vergnügen. Feriah hatte sich abgewandt und ritt entlang der Reihen der gefangenen Oduaki, musterte sie, und wenn ihr Finger auf jemanden zeigte, trennten die Jäger ihn von der Gruppe und schleppten ihn fort.

Es blieb Itamo keine Gelegenheit, zu verfolgen, wen Feriah aussuchte. Sie drückten ihn zu Boden, das Gesicht ins Gras, und lösten das Gewirr der Seile um ihn. Dennoch war er nicht imstande, sich zu befreien. Sie zwangen ihn, die Arme nach vorn zu strecken und banden seine Hände zusammen. Einige knieten sich auf seine Beine, jemand legte ihm eine Schlinge um den Hals.

„Haltet ihn gut fest.“

Aus den Augenwinkeln erfasste er Sabios Füße. Plötzlich setzten die Geräusche um ihn wieder ein, die verstummt waren, als er den Pfeil auf Feriah abgeschossen hatte. Verzweifelte Rufe, Weinen, Schluchzen. „Nicht sie“, flehte Itamos Bruder irgendwo in der Nähe. „Nicht sie, sie gehört zu meiner Familie. Ihr habt versprochen, meine Familie zu verschonen. Bitte, Ihr habt es mir versprochen.“

Begleitet von einem zischenden Knall traf eine Peitsche Itamos Rücken. Zwei Mal, drei Mal. Er glaubte, es ertragen zu können. Doch nach wenigen Schlägen schoss der Schmerz wie flüssiges Feuer durch ihn hindurch, der Lärm der Hiebe erschreckte ihn.

Sabio verstand sich auf sein Handwerk. Anstatt wild auf Itamo einzuprügeln, zog er die Abstände zwischen den Schlägen in die Länge, gab dem Schmerz Zeit, anzuschwellen, sich auszubreiten, und er zielte nie nur auf einen Punkt, viel mehr fühlte es sich an, als schlitze er ihn der Länge nach auf. Itamo schrie. Wissend, dass es ihm nichts nützte. Als er sich umzudrehen versuchte, zurrten sie den Strick enger um seinen Hals. Seine Adern pochten, wehrten sich gegen den Druck, das Blut staute sich hinter seiner Stirn und Sabio ließ die Peitsche wie zu einem trägen Rhythmus auf seinem Rücken tanzen, während er laut zählte: „…elf, zwölf, dreizehn…“

Itamo nahm das Chaos aus Stimmen und den Hall seiner eigenen Schreie nur noch als ein fernes Rauschen wahr, unterbrochen von den Amplituden des Schmerzes in seinem Fleisch. Er konnte nicht sagen, bei welcher Zahl Sabio angelangt war, als es endlich aufhörte und er wieder atmen konnte.

Sie richteten ihn auf. Er blickte in das entsetzte Gesicht seines Bruders, doch es war zu spät für Reue.

Jemand rief seinen Namen. Mutter. Es war die Stimme seiner Mutter. Trugen sie ihn fort oder schwebte er?

Das Letzte, was Itamo sah, bevor Ohnmacht sich gnädig über ihn senkte, war Feriahs makellose Gestalt, die sich vom Rücken ihres Pferdes aus über sein Volk erhob.

Kapitel 2

Jahre später in Peiramos

Estana zog an der Eisenklinke. Sie musste ihr ganzes Gewicht einsetzen, um die Tür wenige Zentimeter weit zu öffnen. Das Holz war wurmstichig und die Angeln standen in ihrem Rost. Vertrocknetes Gras, das ihr bis zur Hüfte reichte, blockierte den Öffnungswinkel. Sie trampelte es nieder und zog noch einmal, zwängte sich schließlich zwischen den Spalt zwischen Holz und Mauerwerk und stemmte ihren Rücken gegen die Tür, bis sie sich genug Platz verschafft hatte, um hindurch zu schlüpfen, hinein in den schwarzen Raum dahinter.

Mit ihrem Eintritt in die Kathedrale war es, als sei sie in ein anderes Land gereist. Ein einziger Schritt nur und die Zeit schien sich zurückzudrehen. Nicht Frühling umgab sie länger, sondern winterliche Kälte, eine Landschaft aus kahlem Stein und Dunkelheit. Wo Licht durch Löcher im Mauerwerk fiel, zeichnete es bleiche Flecke auf den Boden.

Vorsorglich ließ Estana ihre Schuhe am Eingang zurück, um sie dem Staub und Schmutz, der im Laufe der Zeit in jede Fuge gekrochen war, nicht auszusetzen. Obwohl sie häufig barfuß ging und Kälte gewohnt war, biss die eisige Temperatur des Steinbodens ihr in die Fußsohlen.

Vom Altar war nur noch ein Haufen Schutt übrig, so als hätten hunderte von Spitzhacken sich in blinder Zerstörungswut auf ihn gestürzt. Sie raffte den Rock ihres Kleides, erklomm auf Zehenspitzen die Stufen und nahm ihren Platz auf der zerbrochenen Steinplatte ein, die sich genau unter der offenen Kuppel befand. Von Tallulah hatte sie erfahren, dass darauf früher Lebewesen geopfert worden waren. Manchmal Tiere, meistens Menschen. Von dort aus, wo das Dach offen für den Schein des Mondes war, der zur Zeit der Zeremonien genau über der Kuppel stand und sein silbernes Licht auf den Opferstein warf, hatten die Raben beobachtet, was jeden Monat in der Kathedrale vor sich ging.

Auch ihr Vater musste es gewusst haben. Vor ihrer Geburt war er Alefes‘ Diener gewesen. Er, Ivar und all die anderen, die in der Stadt der Ritter von Donovon lebten, hatten hingenommen, was immer der Halbgott verlangte, hatten seine Befehle ausgeführt, ungeachtet seiner Grausamkeit. Heute schwiegen sie darüber, als könne das Alefes‘ jahrhundertelange Herrschaft ungeschehen machen.

Das wenige, das Estana über die Vergangenheit in Erfahrung hatte bringen können, wusste sie von den Raben. Tallulah kannte Geschichten, die ihre Vorfahren sich erzählten. Manche davon reichten bis zu den Anfängen von Peiramos zurück und jeder Rabe, von dem Estana sie hörte, schmückte die Legenden anders aus. In manchem stimmten sie allerdings überein: Ein Königssohn aus Seynako war vor langer Zeit in das Reich des Nordens vorgedrungen, wo er sich mit der Göttin des Mondes vereinigt und das Reich Peiramos begründet hatte. Ihr zu Ehren war diese Kathedrale errichtet worden. Nach dem Tod des Prinzen hatte dessen Sohn Alefes das Zepter übernommen und dank der Macht seiner göttlichen Mutter die Kunst der Magie erlernt – dunkle Magie, die nichts erschuf, sondern nur zerstören konnte.

Die Raben hielten es nicht für nötig, zu verschweigen, dass auch sie Alefes zu Diensten gewesen waren. Ganz im Gegenteil, sie brüsteten sich sogar mit der Bedeutung, die der Halbgott ihrer Zunft beigemessen hatte. Die Tiere aus den Käfigen der Rabenzüchter waren von besonderem Wert für ihn gewesen, denn sie waren darauf abgerichtet, in telepathischen Austausch mit ihrem Herrn zu treten und ihm ihre Beobachtungen zuzutragen, die sie auf ihren Reisen sammelten. Ihre Augen waren seine Augen und wenn er es wünschte, reichten sie bis nach Seynako.

„Trübsinn an einem Tag wie diesem?“ Estana empfing Tallulahs Gedanken, als die Rabendame durch die offene Kuppel zu ihr hinab schwebte, ein Schemen im Halblicht der Kathedrale.

„Papa will nicht, dass ich herkomme“, sagte Estana.

„Ich weiß“, antwortete Tallulah.

Blair schätzte es nicht, wenn seine Tochter sich in dem verlassenen Tempel der Mondgöttin aufhielt. Doch Estana genoss es, auf den Spuren dieser entrückten Zeit zu wandeln. Je mehr ihr Vater daraus ein Geheimnis machte, desto stärker wuchs die Neugierde, die Estana dazu brachte, all die verbotenen Orte aufzusuchen, an denen jede Pore und jeder Mauerspalt gesättigt war von einer fremden Aura. Vielleicht war es nur Estanas Fantasie, die ihr Truggespinste vorgaukelte und sie glauben ließ, das Schloss und die Kathedrale seien deswegen lebendig, weil Alefes in ihnen gelebt, in ihnen geatmet hatte. Weil seine Füße und der Saum seines Umhangs denselben Boden berührt hatten, auf dem heute Estana ging.

Leichtfedrig landete Tallulah neben ihr auf dem Stein. Estana berührte das schimmernde Gefieder und vernahm, wie Tallulah sagte: „Du solltest nicht hier sitzen.“ Niemand außer Estana konnte es hören, was nicht nur darauf zurückzuführen war, dass sie beide allein waren. Nur wenige besaßen die Gabe, mit Raben zu sprechen. Estana kannte niemanden sonst, der diese Fähigkeit besaß. Außer natürlich den alten Lancelot, aber der zählte nicht, schließlich war er Rabenzüchter.

„Du klingst wie mein Vater.“ Estanas Stimme klang patziger, als sie es beabsichtigt hatte, vervielfacht durch den Hall der Kathedrale.

Tallulah legte den Kopf schief. „Nicht einmal ich kann wissen, wie viel Blut dieser Stein gekostet hat. Und du sitzt darauf, als sei es ein Thron.“

 

„Das ist lange her“, sagte Estana, diesmal ruhiger, obwohl Tallulah genau den Grund erkannt hatte, der sie an dem zerbrochenen Opferstein anzog. Hier war das leise Rauschen, das durch ihre Nerven strömte, am stärksten. Manchmal, wenn sie an dieser Stelle hockte und die Dunkelheit fixierte, meinte sie, Alefes zu sehen. Sie hätte sein Äußeres nicht beschreiben können. Dennoch wallte etwas in ihr auf, wenn sie sich vorstellte, wie er zur Tür hereinkam und auf sie zuging, in einen schwarzen Umhang gehüllt, barfuß wie sie.

„Das Frühlingsfest hat schon begonnen“, mahnte Tallulah. Als Estana gleichgültig mit den Schultern zuckte, fügte sie hinzu: „Es gibt Torte.“

„Und damit rückst du erst jetzt heraus?“ Mit wehenden Röcken sprang Estana auf und eilte auf den schmalen Lichtstreifen zu, der durch die angelehnte Tür fiel. Belustigt schüttelte Tallulah ihr Gefieder und verschwand durch die Kuppel der Kathedrale.

Zur selben Zeit, an einem Ort so kalt wie eine klare Vollmondnacht im Winter, eine bei der der Sternenhimmel so nah und weit ist, dass man glaubt, hineintauchen zu können, an einem solchen Ort glomm ein blauer Lichtschein hinter einer eisenbeschlagenen Tür. Von der Außenwelt unbemerkt, da der Raum hinter der Tür kein Fenster besaß. Ein Laut wie berstendes Glas, von niemandem gehört. Und die Angeln der Tür regten sich, nachdem sie zehn Jahre lang stillgestanden hatten.

Knirschend erwachte der steinerne Wasserspeier auf dem Gang zu neuem Leben, wo er zehn Jahre lang unbewegt gestanden hatte. Fast hätte man den Laut, den seine steifen Glieder verursachten, für ein trockenes Kichern halten können. Eine ebenso kalte Hand legte sich auf seinen gehörnten Kopf und ruhte dort einen zeitlosen Augenblick lang, während sich auf den Zinnen der Burg verwitterte Gestalten erhoben, belebt von grimmigem Triumph. Kerzenlicht zischte an feuchten Dochten empor und ein Gemälde lächelte zum ersten Mal seit einem dunklen, leblosen Jahrzehnt.

In Seynako

Nach Atem ringend tauchte Azur aus dem Alptraum auf, der sie im Schlaf heimgesucht hatte. Unbewusst hatten ihre Finger sich um das Laken gekrampft, nur Zentimeter von Alecs Arm entfernt. Da ruhte er, nichtsahnend und friedlich. Ihr Mann, der Bruder des Königs von Seynako.

Verzweiflung, die sie bis in die Wirklichkeit verfolgte, trieb Azur Tränen in die Augen. Es musste ein Traum gewesen sein. Ein böses Spukgespenst, hervorgegangen aus gestorbenen Erinnerungen. Ein einziges Mal hatte sie vor dieser Tür gestanden, das Leuchten vor sich gesehen, sowie die Fratze des Gargoyles, der sie bewachte.

Sie schloss die Augen, in der Hoffnung, den Bildern entfliehen zu können, die sie heimsuchten. Aber es misslang. Die Tür existierte, und wer immer sie öffnete, würde das Unheil bringen, das Azur die ganze Zeit über heimlich gefürchtet hatte.

Aber es war unmöglich. Vielleicht hätte jemand, der von der Geheimtür wusste, sie benutzen und durch sie den Gang betreten können. Unter Umständen einer der ehemaligen Diener. Aber in ihrem Traum war die Gestalt nicht durch das Schloss gegangen, um den Geheimgang aufzusuchen. Sie war darin erschienen, hatte sich materialisiert, begleitet von gespenstischem, blauem Licht.

Zitternd zog Azur die Decke über sich. Eingerollt wie ein Kätzchen wartete sie darauf, dass die Furcht in ihrem Herzen verebbte und die Wärme ihres Bettes, Alecs Nähe und die Sicherheit des Schlosses sie wieder in Geborgenheit hüllten. Doch sobald sie wieder in Halbschlaf verfiel, wandten ihre Sinne sich gegen sie, ließen Alefes für sie auferstehen. Wie er auf Knien kroch, Schweiß benetzte die bleiche Stirn und Angst klaffte wie eine eitrige Wunde in seinem Gesicht. Er, die gewaltigste Kreatur, die ein Mensch sich auszumalen in der Lage war, robbte vor ihr im Schmutz, sterblich, schon im Zerfallen begriffen. Noch im Schlaf weinte Azur um sich selbst und um das einzige Wort, das ihr seit ihrer fernen Kindheit je über die verstummten Lippen gekommen war. Sein Name. Alefes. In dem Moment, da er starb.

Wenn es jemanden gab, der das Entsetzen, den Schmerz, den übermächtigen Hunger verstand, der Jahrhunderte lang in Alefes gewohnt hatte, dann war es Azur, denn all das war in ihr zurückgeblieben. Nur Pooka und seinem magischen Schmuckstück war es zu verdanken, dass sie noch lebte. Obwohl sie sich kaum daran erinnern konnte, wie es aussah, schwebte das Amulett des Gestaltenwandlers in dieser Nacht durch ihre Träume.

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