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Sebastian Below

SCHNEEZEIT

Im Winter allein durch Lappland

Für Adrian

SCHNEEZEIT

Im Winter allein durch Lappland

Sebastian Below

Copyright: © 2012 Sebastian Below

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

E-Book-Produktion: MELLE New Media, Potsdam

ISBN 978-3-8442-2911-0


Im Waldland


Über die Seen (Karats)

Das Feuer in der Schneegrube brannte lichterloh, meterhoch schlugen die Flammen in die sternklare Nacht. Der riesige Gluthaufen wärmte, am Feuer liegend merkte ich von der Kälte nicht viel. Wurde es von hinten kühl, drehte ich mich auf meinem Rentierfell eine Weile um. Dann schien mir der glasklar leuchtende Vollmond ins Gesicht und ich konnte meinen Blick über den tiefverschneiten Wald in der Bucht und den im Mondlicht glitzernden Schnee auf dem See gleiten lassen, während mein Rücken wieder warm wurde. Es war so hell, dass sogar der Rauch einen sacht sich bewegenden Schatten auf den Schnee warf. Über dem Feuer stieg der Rauch senkrecht empor, knickte in Höhe der Baumwipfel ab und waberte am Waldrand entlang. Draußen an der Landzunge hing eine große Rauchwolke über dem See.

Heute, Freitag, am letzten Wochenende vor Ostern, waren viele Skoter unterwegs gewesen. Diese Motorschlitten hinterlassen eine feste Spur im Schnee und das hatte ich mit meinem Ziehschlitten auch dringend gebraucht. Seit der Siedlung Karats konnte ich einem offiziellen Skoterweg über den See folgen und bin auf der festen, ebenen Spur gut vorangekommen.


Bis Karats jedoch hatte ich viel auf Waldwegen gehen müssen, wo es nur zufällig ab und zu Skoterspuren gab. Ohne diese Spuren bin ich mit meinem schweren Ziehschlitten im Tiefschnee oft fast steckengeblieben. Um den 50 Kilo schweren Pulka einen Kilometer durch den Tiefschnee zu ziehen, musste ich mehr als eine Stunde schuften. Über viele Kilometer hinweg hatte das eine zermürbende Schinderei bedeutet, bei der ich mir wie ein Maulwurf vorkam. Trotz der Kälte triefte ich vor Schweiß und begann bei Verschnaufpausen sofort zu frieren. Also schuftete ich stundenlang ohne Pause und wenn ich schließlich doch eine machte, dann nur an Stellen, wo viel gutes Feuerholz in Reichweite war und ich schnell ein großes Feuer machen konnte. Stieß ich auf eine passende Skoterspur, freute ich mich wie ein Schneekönig über den plötzlich wieder gleitenden Pulka und war später um so mehr enttäuscht, wenn die Spur in eine falsche Richtung abbog. Ich konnte den Spuren nicht einfach nach irgendwohin folgen, sondern hielt mich an meine Richtung und die Waldwege, die ich mir auf der Karte ausgesucht hatte. Nach mühevollen Tagen mit langen Tiefschnee-Passagen erreichte ich schließlich Karats. Nun konnte mir auf den restlichen 70 Kilometern bis zum Ort Kvikkjokk auf diesem Skoterweg, der jedes Jahr neu abgesteckt wird und meist über Seen führt, nichts Derartiges mehr passieren.

Im Lauf des Tages waren immer mehr Skoter an mir vorbeigefahren. Ich war der einzige Skiläufer weit und breit. Langlauf ist in Lappland unter den Einheimischen nicht populär und mit Gepäck schon gar nicht. Der größte Wintervolkssport ist das Skoterfahren. Wenn diese Motorschlitten ankamen, ging ich zur Seite und machte Platz. Der Regel nach sollen Skoter Skiläufern ausweichen. Ich verließ mich aber besser nicht auf diese Vorschrift und wich seitlich in den Tiefschnee aus.


Ein Skoter mit Anhänger war von hinten angefahren gekommen, hatte gebremst und neben mir angehalten. Der Fahrer stellte den Motor ab, rückte seine Pelzmütze zurecht und fragte mich unvermittelt:

”Är du envis?“ Bist du stur?

Zuerst war ich völlig verblüfft. Es ist absolut unschwedisch, dermaßen direkt zur Sache zu kommen. Ich musste lachen.

„Wieso?“ fragte ich zurück.

„Man muss schon ziemlich stur sein, wenn man hier auf Skiern mit Pulka entlangzieht!“

Dazu konnte ich schon etwas sagen und wir unterhielten uns eine Weile. Schließlich bot er an, mich auf dem Anhänger ein Stück mitzunehmen. Ich lehnte freundlich ab. Das verstand er nun überhaupt nicht:

„Aber wenn du mitfährst, sparst du doch 20 Kilometer Ziehen!“

„Danke nein“ sagte ich, „ich will den Pulka ziehen. Ich will ja gehen. Sonst hätte ich doch gleich auf der Straße mit dem Auto nach Kvikkjokk fahren können!“

Kopfschüttelnd fuhr er ab.

Einige Stunden später kam er zurück, hielt wieder an und fragte:

„Ist das eigentlich nicht frustrierend, dauernd von Skotern überholt zu werden?“

„Nein“ meinte ich. „So sehr viele waren es heute auch gar nicht. Vielleicht vierzig.“

Und dann bedankte ich mich für die prima Skoterspur, ohne die man als Skiläufer mit Pulka bei diesen Schneeverhältnissen ja kaum vorwärts käme.

Das gefiel ihm und er lachte mit hoher Stimme.

Skoterfahrer und Skiläufer sind sich meistens nicht sehr wohl gesonnen. Man ist selten nett zueinander. Es gibt viel Streit, meistens in Hütten, wenn es um das Übernachten geht, aber auch auf den Wegen. Manchmal gibt es Unfälle, bei denen Motorschlitten Skiläufer oder Fußgänger anfahren. Es passiert viel. Und manchmal bringen sich Skoterfahrer selbst um.


Diese Maschinen können zu tödlichen Geschossen werden. Das liest sich in der Zeitung dann so: ”Jokkmokk/Årrenjarka. Es war relativ spät am Abend, nach 22 Uhr. Es war dunkel, als G. mit einigen anderen Skoterfahrern auf dem See unterwegs war. G. fuhr gegen einen Felsen und der Skoter flog 17 Meter durch die Luft, bevor er auf dem Eis aufschlug. G. selbst fand man 13 Meter vom Skoter entfernt.”

Die Skoter werden immer zahlreicher. Die Anzahl der Skoter in Schweden ist gestiegen von etwa 20.000 im Jahr 1983 auf fast 200.000 zwanzig Jahre später.

Der Skoterfahrer war auf der Suche nach einem Bekannten und fragte:

”Har du sett en lapp med en svart lapphund köra förbi på väg mot Karats?” Hast du einen Lappen mit einem schwarzen Lappenhund auf dem Weg nach Karats vorbeifahren sehen?

Nein, hatte ich nicht.

Er las meinen Blick richtig und lachte wieder mit seiner hohen Stimme:

”Jag är själv en lapp! Det har jag alltid varit och det blir bara så här. Samerna, dom är mest bara till besvär för oss lappar.” Ich bin selbst ein Lappe! Das bin ich immer gewesen und das bleibt auch so. Die Sami, die machen uns Lappen doch meistens nur Ärger.

Ich staunte nicht schlecht. Das war ein Sami, der sich ungewöhnlich deutlich ausdrückte. Auf mein Fragen hin gab er mir bereitwillig Auskunft. Er sei hier in der Gegend geboren und aufgewachsen, später an die Küste gezogen und habe dort beruflich gute Arbeitsbedingungen gefunden. Er habe eine Schwedin geheiratet und sie seien als vierköpfige Familie mit ihrem Leben in der schwedischen Gesellschaft zufrieden. Auf seine rentierzüchtenden Kollegen sei er nicht gut zu sprechen. Deren Politik arbeite mit starken Ressentiments gegen die Schweden und schaffe fortwährend Konflikte. Dabei subventioniere der schwedische Staat die Rentierzucht doch schon in hohem Maße.

Wir kamen in ein lebhaftes Gespräch, bis er schließlich wieder seine Mütze zurechtrückte, mir eine gute Tour wünschte und losfuhr, um seinen Bekannten mit dem schwarzen Hund zu suchen.


Tatsächlich machen die Rentierzüchter nur knapp ein Drittel der insgesamt 16.000 in Schweden lebenden Sami aus. Sie bestimmen die samische Politik, sind aktiv, präsentieren sich rege in den Medien, haben ein eigenes Parlament, bestehen in Wort und Schrift strikt auf ihrem Status als ”Sami” und verstehen sich als die Ursprungsbevölkerung. Sie machen es der schwedischen Regierung nicht leicht mit ihren Forderungen nach Sonderrechten. Dabei ist die Begründung immer, als erste dagewesen zu sein. Als ”lapp” wurde man einst unterdrückt, als ”same” will man nun sein Land zurück. Die Sympathie für diese Politik ist dort am größten, wo man weit weg von Lappland ist und wenig darüber weiß. In Lappland selbst, wo die treibenden Motoren des gesellschaftlichen Lebens im Wesentlichen die Holz-, Elektrizitäts- und Stahlindustrie sind, stößt diese Politik zumeist nur auf Kopfschütteln oder Ablehnung.

Die restlichen zwei Drittel der Sami beteiligen sich nicht an dieser Politik und verstehen sich mehr als Schweden.

Ich selber sage nicht „ein Lappe“ und „die Lappen“, sondern „ein Sami“ und „die Sami“. Damit folge ich dem Vorschlag von Svenska Institutet für den deutschen Sprachgebrauch. Lappland ist für mich aber dennoch Lappland und nicht Sameland, Sápmi oder Same Ätnam.

“Lapp“ kommt ursprünglich vom finnischen “lappalainen“ („jemand im abgelegenen Land im äußersten Norden“) und ist die Abkürzung. Dies war der Ursprung des schwedischen “en lapp“ („ein Lappe“) und “Lappland“. “Lapp“ konnte aber auch herabsetzend gemeint sein, da “lapp“ im Schwedischen „Fetzen, Flicken, Lappen, Zettel“ bedeutet. Dies hat im Zusammenhang mit der jahrhundertelangen Unterdrückung der Sami inzwischen im Rahmen der politischen Emanzipierung dazu geführt, dass das Wort „Sami” zum Politikum geworden ist. Genauso wie „Eskimo“ für Inuit und „Zigeuner“ für Sinti ist „Lappe“ für Sami politisch gesehen ein Schimpfwort.

 

Das ist selbstverständlich zu akzeptieren. Dennoch spreche und schreibe ich aber weiterhin von ”Lappland”, ”Kebnekaise”, ”Kiruna” oder ”Jokkmokk”. Das sind geographische Namen, die in jedem Atlas der Welt zu finden sind. Viele samische Politiker sehen darin aber rassistische Tendenzen enthalten, fühlen sich diskriminiert, pochen lautstark auf samische Grundrechte und fordern Änderungen. Das hat teilweise merkwürdige Konsequenzen.

Bei den Ortsnamen zum Beispiel halte ich mich an die schwedische Schreibweise, weil sich die samischen Namen in schwedischer Schreibweise leichter aussprechen lassen. Das war bis vor 20 Jahren auch überall so üblich. Dann kam die samische Schreibweise hinzu, die Namen wurden also in zwei Sprachen geschrieben, wie das inzwischen auch bei den Ortsschildern der Fall ist. Inzwischen werden die Namen in den Wanderkarten aber nur noch auf Samisch geschrieben. Das hat zur Folge, dass auch ortsunkundige Schweden hier draußen gar nicht mehr sagen können, wo sie eigentlich sind oder was wo ist, weil sie die Namen nicht aussprechen können. Warum muss in der Karte ”Jåhkamåhkke” stehen, wenn die Aussprache [jokkmokk] ist? Warum ”Ijvvárláhko” statt [ivarlako], ”Ábeskovvu” statt [abisko] oder ”Giebmegáisi” statt [kebnekaise]?

Ähnlich weit über ethnische Anliegen hinausgeschossen wie Verlage sind Reiseveranstalter, die das Wort Lappland durch ”Sápmi” oder ”Same Ätnam” ersetzt haben. Touristisch gesehen hat das Wort Lappland einen hohen Klang. Wörter wie ”Lappland”, ”Rio”, ”Serengeti” oder ”Himalaya” lösen sofort eine starke Vorstellung aus. Das ist für den Tourismus von größtem Wert. Wer für Lappland werben will und aus ethnischen Gründen mit ”Sápmi” wirbt, schießt ein Eigentor. Wer in Rom, Berlin oder London weiß, was oder wo Sápmi ist und wer kann damit etwas verbinden?

Mein samischer Skoterfahrer war schon lange weg, während ich beim Skilaufen weiter den Gedanken nachhing, die das Gespräch bei mir ausgelöst hatte. Inzwischen hatte es langsam begonnen Abend zu werden.

Der kalte Wind auf dem See wehte schon den ganzen Tag von Osten her. Zum Glück hatte das für mich Rückenwind bedeutet. Andersherum hätte ich mein Gesicht vermummen und mich vor Erfrierungen in Acht nehmen müssen.

Jetzt wollte ich ans Seeufer und einen Lagerplatz für die Nacht suchen. Dafür brauchte ich eine Landzunge, die mir Windschutz und viel Holz bot. Ich hatte schon seit geraumer Zeit das Ufer mit dem Fernglas nach einer Bucht mit Kiefern mit vielen dürren Ästen abgesucht. Ich wollte ein großes Feuer machen können, ohne deswegen von weit her Holz heranschleppen zu müssen. Der Himmel hatte eine stahlblaue Farbe, es sah nach einer kalten Nacht aus.

Die 300 Meter zum Ufer musste ich mich wieder durch Tiefschnee wühlen. “Gálav“ sagt man dazu auf Samisch, “djupränt skidföre“ auf Schwedisch: tief versinken die Skier im losen Schnee. Man stapft, von Fahren oder Gleiten kann keine Rede sein.

Trotz meiner 220 cm langen und 8 cm breiten Skier sank ich bis über die Knie ein und pflügte eine tiefe Bresche in das weiße Pulver. In dieser Rinne glitt der hoch bepackte Pulka trotz Deichselführung einfach nicht so hinterher, wie ich es gern gehabt hätte. Alle Tricks halfen nichts, weder breitbeiniges Stapfen, seitliches Gehen oder schiefes Ziehen an der Deichsel. Meistens hing der Schlitten schräg in der Rinne und kippte dann irgendwann um. Hinten war niemand, der die 50 Kilo wieder hätte aufrichten können. Also musste ich mich aus der Deichsel ausklinken, zum Pulka zurückstapfen und ihn hinstellen. Dann ging ich wieder nach vorn, schirrte mich an und zog ihn weiter, bis er nach einigen Metern wieder umkippte. Wie immer im Tiefschnee kam ich ins Schwitzen, worauf meine Brille beschlug und dann vereiste. Ich sah nichts mehr und musste ständig stehenbleiben, die Handschuhe ausziehen und die Brille frei reiben. Das ging auf die Nerven und veranlasste mich zu ausgiebigem Fluchen.

Die letzten 100 Meter ließ ich den Pulka einfach stehen, begann am Ufer die Arbeit an Zeltplatz und Feuerstelle, musste dafür immer wieder Sachen aus dem Schlitten holen und legte so mit der Zeit eine feste Loipe in den Schnee, durch die ich den Pulka schließlich leicht zum Feuer ziehen konnte. Mein Platz lag windgeschützt und schön. Gegenüber am anderen Ufer des Sees bildete der Steilabfall des Berges Farforita eine mächtige Kulisse und die im Westen tief stehende Sonne begann alles in ein goldenes Abendlicht zu tauchen.


Am Zeltplatz trampelte ich den Schnee mit den Skiern fest und stellte mein Kuppelzelt auf. Das Zeltaufstellen verrichtete ich auf Skiern und mit Handschuhen. Das musste funktionieren, denn anders ging es nicht. Von den Skiern herunter konnte ich nicht, ich wäre bis zum Bauch im Schnee versunken. Und ohne Handschuhe ging es auch nicht, mit bloßen Händen wären mir die Finger erfroren.

Es dauerte, bis das Zelt aufgestellt und eingeräumt war.

Noch länger dauerte es, bis die Feuerstelle im Schnee hergerichtet war. Die Schneetiefe konnte je nach Lage sehr unterschiedlich sein, deswegen stocherte ich mit dem umgedrehten Skistock im Schnee und suchte eine günstige Stelle, wo ich möglichst wenig Schnee schippen musste. Hier hinter der Landzunge war der Schnee aber überall über einen Meter tief und ich musste trotz meiner großen Schneeschaufel lange schippen, bis die Feuergrube ausgeschaufelt war.

Dann ging ich Holz holen. Dabei lernte ich meine Nachbarn kennen. Im Pulverschnee lag das Leben offen da wie in einem Bilderbuch, ich stieß auf Spuren von Mäusen, Hasen, Füchsen und Rentieren. Vor einem Birkengestrüpp waren Schneehühner gelandet und hatten an den Zweigen herumgepickt. Ihr Landeanflug begann mit einer immer tiefer werdenden Schneise im Schnee. Gebremst wurde nicht mit den Flügeln, sondern mit dem Körper. Abgeschlossen wurde die Landung in der weißen Watte mit einem säuberlichen Abdruck der ausgebreiteten Flügel, als hätte der Pilot zur Begrüßung seine Arme auf den Boden gelegt. Dann begann die dreizehige Fußspur. Die engen Trippelschritte bildeten eine kleine Schneise im feinflockigen Schnee.

Ich zog durch diese Geschichten, sägte trockene Kiefernäste, Dürrständer und einige junge Birken ab, verschnürte die Holzhaufen zu großen Bündeln und zog sie zur Feuerstelle. Dabei wurde es dunkel.

Das war viel Arbeit, aber dann hatte ich den Holzvorrat, der bis nach dem Frühstück reichen würde. Das war wichtig. Es wurde kalt, das Thermometer fiel langsam immer tiefer. Ich wollte mich am Feuer wärmen können, es gemütlich haben und nicht später wieder auf die Skier müssen, um im Dunkeln mit der Stirnlampe mehr Holz zu holen. Deswegen lag nun um die Feuergrube herum ein Riesenhaufen Äste und Stämme, die ich nur noch durchsägen oder klein hacken musste.

Jetzt konnte ich mich zurücklehnen.

Die Flammen züngelten an der Birkenrinde empor, das Kleinholz fing Feuer, es begann zu knistern und knacken, der Feuerschein erleuchtete die Schneegrube und der würzige Rauch stieg mir in die Nase.

Ich drehte mir eine Zigarette. Auf meinem Rentierfell war es weich, warm und bequem. Über mir funkelten die ersten Sterne am wolkenlosen Himmel. Nun begann der angenehmste Teil des Tages.

Das Feuer loderte hell und ich kochte erst einmal Tee.

Meine Thermosflasche war schon lange leer. Obwohl mein Magen vor Hunger knurrte, trank ich zuerst, um den Durst loszuwerden. Bei diesem großen Feuer war Schneeschmelzen und Teekochen eine Sache von wenigen Minuten. Ich füllte die Kanne mit Schnee, hängte sie an einen Stock und hielt sie ins Feuer.

Kälte entzieht dem Körper genauso viel Flüssigkeit wie Hitze. Man unterschätzt das leicht. Der Flüssigkeitsbedarf im Winter ist hoch, besonders bei niedrigen Temperaturen. Wenn ich morgens die Thermosflasche für unterwegs fülle, muss ich mich zwingen, nebenbei auch auf Vorrat zu trinken. Ohne Durst kann ich das nur widerwillig, aber es ist wichtig. Unterwegs Pause machen zu müssen, um Schnee zu schmelzen und Tee zu kochen, braucht sehr viel Zeit und kühlt aus. Gehen wärmt, Pausen kühlen aus. Deshalb sind Thermosflaschen im Winter so wichtig.

Der Zusammenhang zwischen Kälte und Flüssigkeitsentzug lässt sich sogar sehen an dem Phänomen, dass bei strenger Kälte der Schnee zu verschwinden beginnt. Bei –40 Grad ist die Kälte so trocken, dass sie die im Schnee gebundene Feuchtigkeit aufzunehmen beginnt. Der Oberflächenschnee löst sich dann förmlich in Luft auf, die Dicke der Schneedecke nimmt ab. „Jetzt frisst die Kälte den Schnee!“ sagt man in Lappland dazu.

Der Wind war eingeschlafen, nichts rührte sich mehr. Die Sterne funkelten, der Mond war aufgegangen und ein schwaches Nordlichtband zog sich von West nach Ost über den Himmel. Das Thermometer war auf –16 Grad gefallen.

Endlich gab es Abendessen!

Zuerst briet ich gewürfelten Schwarzwälder Speck in Butter an. Dazu gab es Makkaroni. Durch die Handklappsäge ließ sich das Nudelwasser perfekt abgießen, ohne dass auch nur ein einziger Makkaroni verloren ging. Im Nachbartopf köchelte die Sauce. Alles vermischt, war das Abendessen fertig. Im Liegen aß ich aus dem dampfenden Topf. Das war der Höhepunkt des Tages. Ich wurde satt und fühlte mich völlig zufrieden.


Als der Topf leer war, rollte ich mich auf den Rücken, rauchte und schaute in den Himmel. Nun lief alles gut. Ich hatte am Anfang der Wanderung einige Tage gebraucht, um mich an das Leben im Schnee zu gewöhnen und meinen Rhythmus zu finden. Vor dem schweren Pulka war ich mir anfangs trotz guter Gleitverhältnisse vorgekommen wie ein Ackergaul. Dann hatte es 20 Stunden ununterbrochen geschneit, was 30 Zentimeter Neuschnee und für mich eine tagelange Quälerei zur Folge hatte. Die zugeschneiten Skoterspuren hatten zuerst noch wenigstens etwas Halt unter den Skiern gegeben, dann war ich auf weiten Strecken durch unberührtes Gelände im Tiefschnee fast steckengeblieben. Bis kurz vor Karats hatte ich mich richtig quälen müssen. Nun lief es auf dem Skoterweg aber wieder gut. Bessere Bedingungen bis Kvikkjokk hätte ich mir gar nicht wünschen können.

Ich holte die Whiskyflasche aus dem Pulka und nahm einen ordentlichen Schluck.

Lappland kann zu einem Leben gehören wie das Salz zum Meer. Bei mir ist das der Fall. Als Student und später dann als Lehrer habe ich reihenweise die Ferien von Deutschland aus in Lappland verbracht. Insgesamt bin ich hier auf Wanderungen bis heute etwa 10.000 Kilometer zu Fuß unterwegs gewesen und habe somit Jahre meines Lebens nachts nicht in einem Bett, sondern im Zelt im Freien verbracht. Zusammengerechnet schlief ich von meinen jetzt 48 Lebensjahren fast 3 in Lappland im Zelt, an ungefähr 1000 verschiedenen Zeltplätzen in freier Wildbahn, mit Elch, Rentier, Bär, Luchs und Vielfraß als nächsten Nachbarn.

Meine Frau und ich zogen schließlich 1999 ganz nach Lappland und wohnten und arbeiteten im schwedischen Jokkmokk.

In Salangsdalen im nordnorwegischen Bardu wohnt mein Freund Anton. Wir kennen uns seit langem. In den 70er Jahren, als Studenten noch nicht zum Urlaub in die Karibik jetteten, sondern per Anhalter oder Interrail durch Europa reisten, tauchte Anton eines Tages unter uns Freiburger Musikstudenten auf. Ich habe ihn dann bald in Bardu besucht und seitdem sind wir gute Freunde. Ich habe ihn oft von Jokkmokk aus besucht, um mit ihm fischen oder jagen zu gehen. Mit dem Auto sind es über Gällivare, Kiruna und vorbei an Narvik 500 Kilometer nach Bardu.

„Warte nur, eines Tages komme ich nicht mit dem Auto, sondern gehe die ganze Strecke zu Fuß!“ habe ich bei Besuchen oft laut vor mich hingeträumt. Anton hat darüber immer herzlich gelacht. Auch für einen Norweger hört sich das nicht anders an als für einen Norddeutschen, dem sein süddeutscher Freund sagen würde, eines Tages käme er den gesamten Weg zu Fuß. Wobei in Deutschland auf so einer Strecke zig Millionen, in Lappland aber nur vereinzelt ein paar Menschen leben und zwischen diesen kleinen Siedlungen über hunderte von Kilometern unbewohnte Wälder und Gebirge liegen.

Und nun ergab es sich, dass ich viel Zeit hatte. Was lag näher, als diesen Traum endlich in die Tat umzusetzen? Mir ging es um den Traum, einmal zu Fuß von meiner bis zu Antons Haustür zu gehen, statt immer nur zu fahren. Ich wollte den langen Weg durch dieses weite Land in seiner gesamten Ausdehnung zwischen unseren Haustüren als Ganzes gehend erleben. Das war der äußere Rahmen, der äußere Anlass für ein inneres Abenteuer.

 

Da ich etliche Abschnitte der Strecke bereits von früheren Wanderungen her kannte, wurde diese Tour auch eine Reise in die Vergangenheit. So sind es eher die leisen als die lauten Töne, die in dieser Erzählung eine Rolle spielen.

Der alte Jäger (Levikjaure)

Heute morgen war es klirrend kalt. Das Thermometer stand auf –31 Grad. Meine Atemluft hatte sich als Raureif im Innenzelt festgesetzt und die Schlafsacköffnung war weiß überfroren. Im warmen Schlafsack versuchte ich den Gedanken ans Aufstehen zu verdrängen. Ich wusste, dass mir nun der unangenehmste Teil des Tages bevorstand. Schließlich gab ich mir aber doch den endgültigen Ruck und öffnete den Reißverschluss. Sofort biss die Kälte zu. Stieß ich ans Innenzelt, rieselte der Raureif wie feiner Schnee herab. Auf der nackten und warmen Haut verursachte das Schauer von Nadelstichen. Ich fluchte hingebungsvoll. Es ist kein Spaß, sich in so einer Eiseskälte im Liegen und Sitzen in dicke Winterkleidung hinein zu zwängen in einem Zelt, in dem es sozusagen schneit.

Endlich stand ich angezogen auf den Skiern im Freien. Stehend ging es mir sofort besser. Ich freute mich auf Feuer, Wärme und Kaffee und pinkelte zwischen die Skier. Dabei dachte ich an die grenzenlosen Übertreibungen, in denen extreme Kälte so geschildert wird, dass der Urin beim Pinkeln schon zu Tropfen gefroren auf dem Boden ankommt und dort womöglich auch noch ein Klingeln erzeugt. Das entbehrt jeder Grundlage. Urin friert natürlich sofort fest, wenn er im Schnee ankommt. Dass Urin aber schon in der Luft im Strahl gefriert, ist schlichtweg übertrieben. Das habe ich auch bei fast –50 Grad nicht erlebt.

Ich brachte das Feuer wieder in Gang und sofort wurde es angenehm. Schon beim Anblick der ersten kleinen, züngelnden Flamme wurde mir warm. Es ist faszinierend, dass allein schon ein Anblick wärmen kann. Man sieht die erste Flamme, weiß, dass es nun warm werden wird und das genügt, um es einem tatsächlich schon warm werden zu lassen.

Diese klirrend kalte Zeitspanne morgens zwischen Schlafsack und Feuer kostet viel Überwindung. Man will nicht frieren, wenn man aus dem warmen Bett kriecht. Bei Temperaturen unter minus 10 Grad ist das Aufstehen kalt, unter minus 20 höchst unangenehm und ab minus 30 eigentlich nur noch fürchterlich. Deshalb ist mir das Feuermachen so wichtig. Die meisten Leute, die ich in Lappland auf Wintertouren gesehen oder getroffen habe, machen aber keine Feuer, sondern erledigen alles mit dem Benzinkocher. Damit geht das Kochen zwar schneller, ist aber eine kalte Angelegenheit. Warm wird einem dann erst nach dem Packen, nach dem Aufbruch, wenn man geht und die Bewegung wärmt. Das ist eine lange, kalte Zeitspanne zwischen Schlafsack und Aufbruch. Meine Zeitspanne zwischen Schlafsack und Feuer ist bedeutend kürzer und vom Feuer aus kann ich alles Weitere in Ruhe und ohne Frieren erledigen.

Ich kochte Kaffee und röstete Brotscheiben. Mit der ersten Tasse Kaffee wachten meine Lebensgeister endgültig auf. Wohlig rieselte die Wärme durch meinen Körper. Langsam kaute ich mein Müsli. Es musste lange vorhalten, den ganzen Tag, bis zum Abend. Die eigentliche Mahlzeit des Tages kam erst mit dem Abendessen.

Das Wetter zeigte sich von seiner besten Seite, windstill und klar.

Nach dem Frühstück schmolz ich in den beiden kleinen Kochtöpfen Schnee. Das war jeden Morgen meine übliche Warmwasser-Ration zum Waschen, mehr warmes Wasser gab es dafür nicht. Aber dieses warme Wasser zum Waschen gab es jeden Tag, auch wenn ich kein Feuer machen konnte und den Spirituskocher benutzen musste. Wenn man will, geht das. Dass man beim Leben in der freien Natur notgedrungen riechen muss wie ein Wildschwein, ist ein altes Trappermärchen.

Nach dem Packen kochte ich eine zweite Kanne Kaffee. Normalerweise wäre ich jetzt losgegangen, die Eiseskälte ließ mich aber gehörig frösteln, mir war nach mehr Wärme zumute und ich hatte es nicht eilig. Am Abend hatte die Bucht den Vorteil gehabt, dass sie Windschutz bot. Jetzt am Morgen lag sie aber noch im Schatten, während am Ufer gegenüber und auf dem See draußen schon längst die Sonne schien. Hier im Schatten war es mit –30 Grad noch immer bitter kalt. So legte ich mich wieder ans wärmende Feuer und trank weiter Kaffee. Ich wartete auf die Sonne.

20 Grad Minus sind in Schweden eine Art Grenze. Bis –20 Grad ist die trockene Kälte frisch, aber nicht wirklich kalt. Erst unter –20 Grad fühlt sich die Kälte wirklich kalt an, die Härchen in der Nase beginnen zu „bitzeln“ und der Bart verreift. Ab –30 Grad wird es eiskalt und unter –40 Grad hält man sich besser nicht mehr lang draußen auf. In Norwegen am offenen Meer ist das ganz anders. Dort sinken die Temperaturen zwar selten so tief, aber Luftfeuchtigkeit und Wind bewirken, dass die Kälte schnell bis auf die Knochen dringt. Mir sind trockene –30 Grad in Schweden jedenfalls lieber als –10 Grad an einem auch nur leicht windigen norwegischen Fjord.

Als die ersten Sonnenstrahlen auf mein Gesicht fielen, brach ich auf.

Die nächsten 10 Kilometer führte der Weg weiter über den See. Schon bald musste ich die Schneebrille aufsetzen, der Schnee blendete, er glitzerte, gleißte und glänzte in der Sonne. Schnell wurde mir richtig warm.

Nach der ersten Stunde verlor ich mein Zeitgefühl. Die Schneeverhältnisse waren ideal, rückwärts hafteten meine Skier, vorwärts glitten sie, das Tempo war gleichmäßig und der Pulka glitt glatt hinterher. Alles passte zusammen. Das ist der Zustand, in dem Fortbewegung sich verselbständigt: es läuft von selbst.

Ich dachte nicht an Pausen, bis der Weg schließlich von der Seemitte abzweigte und zum Ufer führte. Nun ging es im Wald bergauf. Ich machte aber erst einmal Mittagspause. Da ich nicht in den Tiefschnee wollte, blieb ich auf der festen Skoterspur und stellte meine Sachen am Rand ab. Dort legte ich zwei Schichten dicke Äste quer übereinander und machte darauf Feuer. Im Schnee konnte dieses „schwimmende Feuer“ nun nicht ausgehen, weil es auf einer Plattform brannte. Es fiel zwar etwas Glut durch, aber zum Kochen reichte es.

Ich trank Tee und aß Schokolade. Es kam kein Skoter vorbei. Überhaupt war am heutigen Samstag viel weniger Verkehr als gestern. Jetzt in der Mittagszeit herrschte völlige Ruhe. Ich lag auf meinem Rentierfell mitten in der Skoterspur und lauschte in die Stille. Außer dem Knistern des Feuers hörte ich nichts. Gar nichts. Keinen Vogel, kein Wasser, gar nichts. Die Sonne schien mir warm auf die Kleidung. Es war so wohlig und angenehm, dass ich einnickte.

Fröstelnd wachte ich wieder auf. Die Sonne war hinter einigen Kiefern verschwunden und ich lag im Schatten. Sofort war es empfindlich kalt geworden. Ich brachte das Feuer wieder in Gang, erhitzte den restlichen Tee und klebte nebenbei meine Steigfelle unter die Skier. Nun brauchte ich festen Halt, um den Pulka bergauf ziehen zu können.

Am Nachmittag kam ich zur kleinen Siedlung Lillselet. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg hatten hier draußen im weglosen Land noch Menschen gesiedelt. Sie lebten vom Jagen und Fischen und in geringem Maße vom Ackerbau. Sie hatten Pferde, Kühe, Schafe und Ziegen und waren weitgehend autark. Im Februar zog man nach Jokkmokk zum Wintermarkt und tauschte Waren ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann dann der steile wirtschaftliche Aufschwung in Schweden. Der Staat bot den Siedlern sogar Abfindungen an, wenn sie ihre Einödhöfe verließen, in die Städte zogen und sich in Arbeitsverhältnisse begaben. Die Schuppen, Scheunen und Häuser in Lillselet stammen aus diesen vergangenen Siedlerzeiten. Die Gebäude sind nur zum Teil verfallen, viele wurden in Stand gehalten und auch neue Hütten gebaut - ‘sommarstugor’, Ferienhäuschen.

Einige Familien aus Jokkmokk waren gekommen, um hier Ostern zu feiern. Hundegebell, Skotergeknatter, Radiogeräusche, Sägen, Hämmern, das Brummen von Dieselaggregaten, Kinderlachen und Tellergeklapper erfüllten die klare Luft. Überall wurden die letzten Vorbereitungen für die Ostertage getroffen.

Ich hielt an und ging zu einer der Hütten. Dort stand ein Mann auf seinem Skoter und nagelte am Dach ein neues Brett fest. Er hatte sichtlich Vergnügen daran. Jeder Schlag saß, treffsicher, locker und satt.