Buch lesen: «Tausend Monde»
Sebastian Barry
TAUSEND MONDE
Roman
Aus dem Englischen von
Hans-Christian Oeser
Steidl
Für C
Manchmal ist sogar das Leben ein Akt des Mutes.
Seneca
Erstes Kapitel
Ich bin Winona.
In meinen ersten Lebensjahren war ich Ojinjintka, das bedeutet »Rose«. Thomas McNulty hatte sich ordentlich bemüht, diesen Namen auszusprechen, aber es wollte ihm nicht gelingen, und so gab er mir den Namen meiner toten Cousine, weil der ihm leichter von der Zunge ging. Winona bedeutet »Erstgeborene«. Die Erstgeborene war ich nicht.
Meine Mutter, meine ältere Schwester, meine Cousinen, meine Tanten, sie alle wurden getötet. Sie waren Angehörige des Stammes der Lakota, der einst auf den Prärien lebte. Ich war nicht etwa zu jung, um mich daran zu erinnern – vielleicht sechs oder sieben –, trotzdem konnte ich mich nicht erinnern. Ich wusste, es war geschehen, weil mich die Soldaten danach ins Fort brachten und ich ein Waisenkind war.
Ein kleines Mädchen macht so manche grundlegende Veränderung durch. Als ich zu meinem Volk zurückkehrte, konnte ich mich mit niemandem unterhalten. Ich weiß noch, wie ich mit den anderen Frauen im Tipi saß und ihnen nicht antworten konnte. Zu diesem Zeitpunkt war ich mindestens schon dreizehn. Nach ein paar Tagen fand ich die Worte wieder. Die Frauen stürzten mir entgegen und umarmten mich, als wäre ich erst in diesem Augenblick bei ihnen angekommen. Wirklich sehen konnten sie mich nur, wenn ich unsere Sprache sprach. Dann holte Thomas McNulty mich wieder ab und brachte mich zurück nach Tennessee.
Selbst wenn du Blutbäder und Katastrophen überstanden hast, am Ende musst du lernen zu leben. Du musst dich umtun, schauen, wie’s um die Dinge steht, Dinge anbauen oder Dinge kaufen – wie’s gerade kommt.
Paris, Tennessee hieß das Städtchen in unserer Nähe. Lige Magans Farm lag etwa sieben Meilen außerhalb. Es war bereits etliche Jahre nach dem Krieg, doch in der Stadt lungerten noch immer raue Unionssoldaten herum, und die besiegten Grauröcke waren eine Art geheimer Präsenz, dabei steckten sie gar nicht mehr in ihren Uniformen. Vagabunden auf jeder noch so kleinen Nebenstraße. Und die Staatsmiliz, die ein wachsames Auge auf diese Vagabunden hatte.
Überhaupt war es eine Stadt mit vielen Augen, die einen beobachteten, ein unbehaglicher Ort.
Wenn du in einem Geschäft für Trockenwaren vorsprichst, um etwas zu erstehen, musst du dich des allerbesten Englisch befleißigen, oder es passiert etwas. Meine ersten englischen Wörter hatte mir Mrs Neale im Fort beigebracht. Später besorgte mir John Cole zwei Grammatikbücher. Die habe ich von vorn bis hinten durchstudiert.
Es ist schlimm genug, Indianerin zu sein, auch ohne dass man krächzt wie ein Rabe. Die Weißen in Paris konnten sich auch nicht alle gut ausdrücken. Einige stammten von weit her, waren Deutsche oder Schweden. Andere, wie Thomas McNulty, waren Iren und kamen erst, als sie nach Amerika gelangten, mit Englisch in Kontakt.
Aber als junge indianische Frau war es wohl nötig, so vornehm zu reden wie eine Kaiserin. Natürlich hätte ich auch die Einkaufsliste vorlegen können, die mir Rosalee Bouguereau, die auf Liges Farm arbeitete, zusammengestellt hatte. Aber besser war’s, den Mund aufzutun.
Andernfalls wäre ich jedes Mal, wenn ich in die Stadt kam, verprügelt worden. Was mich davor schützte, war die englische Sprache. Irgendein verzottelter Landarbeiter mochte einen Blick auf dich werfen, deine dunkle Haut und dein schwarzes Haar bemerken und der Meinung sein, das gebe ihm das Recht, dich zu schlagen und zu treten. Niemand hätte sich getraut, etwas zu sagen. Nicht einmal ein Sheriff oder Hilfssheriff.
Eine Indianerin zu schlagen war kein Verbrechen, ganz und gar nicht.
Auch John Cole, der doch als Soldat gedient hatte und ein anständiger Farmer war, wurde in der Stadt schlecht behandelt, weil seine Großmutter oder die Frau vor seiner Großmutter Indianerin gewesen war. Das stand ihm ein bisschen ins Gesicht geschrieben. Ihn schützte nicht einmal die englische Sprache. Er war ein großer, erwachsener Mann, vielleicht konnte er deshalb nicht immer auf Gnade hoffen. Wie die Leute, im Besonderen Thomas McNulty, immer wieder bekräftigten, hatte er zwar ein hübsches Gesicht, aber ich denke, manchmal konnten die Stadtbewohner eben doch das Indianische darin entdecken. Sie schlugen ihn grün und blau, und dann war er nur noch eine Planke des Leidens im Bett, und Thomas McNulty fluchte, er werde in die Stadt fahren und jemanden umbringen.
Doch Thomas McNulty hatte den Nachteil, arm zu sein. Wir waren alle arm. Selbst Lige Magan, dem doch die Farm gehörte, war ziemlich arm, und wir, die wir unter Lige arbeiteten, waren es erst recht.
Viel ärmer als Lige.
Wenn ein armer Mensch etwas tut, muss er es lautlos tun. Wenn ein armer Mensch zum Beispiel tötet, muss er es lautlos tun und so schnell davonlaufen wie die kleinen Rehe, die sich aus den Wäldern hervorgewagt haben.
Außerdem hatte Thomas wegen Fahnenflucht im Gefängnis von Fort Leavenworth gesessen, deshalb machten ihn die Uniformen in der Stadt nervös, obwohl er immer wieder beteuerte, er liebe die Armee.
Ich selbst stand gesellschaftlich unter Rosalee Bouguereau. Sie war eine schwarzhäutige Heilige von einer Frau, das kann ich Ihnen versichern. Sie ging immer mit dem Gewehr ihres Bruders los, um in dem Waldstück hinter Liges Farm Kaninchen zu schießen. In dem denkwürdigen – jedenfalls in unseren Augen denkwürdigen – Gefecht mit Tach Petrie, als der und seine Komplizen uns ausrauben wollten und unerbittlich auf unsere Farm vorrückten, hatte sie sich laut John Cole dadurch ausgezeichnet, dass sie die Gewehre so schnell nachlud wie niemand sonst.
Doch vor dem Krieg war sie eine Sklavin gewesen, und in den Augen der Weißen stehen Sklaven natürlich sehr tief.
Also stand ich noch viel tiefer.
In den Augen der Stadt war ich nur die verlöschende Glut eines Indianerfeuers. Der Großteil der Indianer war aus dem Henry County längst verschwunden. Cherokee. Chickasaw. Die Leute mochten es nicht, wenn glühende Asche zu ihnen zurückwehte.
In den Augen des Großen Mysteriums waren wir alle gleich. Versuchten, unsere Seelen so klein zu machen, dass sie ins Paradies passten. Das hatte meine Mutter gesagt. Was ich von meiner Mutter noch weiß, trage ich bei mir, wie ein Kind einen kleinen Beutel mit Dingen bei sich trägt, die ihm kostbar sind. Wenn eine solche Liebe vom Tod berührt wird, dann wächst in deinem Herzen etwas, das ungleich tiefer ist als der Tod. Meine Mutter machte viel Aufhebens um uns, um mich und meine Schwester. Sie interessierte sich dafür, wie schnell wir rennen und wie hoch wir springen konnten, und wurde nie müde, uns zu sagen, wie hübsch wir seien. Wir waren einfach nur kleine Mädchen, dort draußen in der Prärie, unterm Sternenzelt.
Manchmal sagte mir Thomas McNulty, ich sei so hübsch wie die Dinge, die er hübsch fand – Rosen, Rotkehlchen und dergleichen. Es waren mütterliche Reden, die er im Munde führte, denn damals hatte ich schon keine Mutter mehr. Seltsam, dass er als Soldat in den alten Kriegen viele Angehörige meines Volkes getötet hatte. Vielleicht hatte er ja sogar einen Teil meiner Familie getötet, er wusste es nicht.
»Ich war zu klein, um mich noch daran erinnern zu können«, sagte ich ihm dann. Natürlich stimmte das nicht, aber es lief auf dasselbe hinaus.
Früher war mir immer ganz sonderbar zumute, wenn ich ihn davon reden hörte. Dann begann ich, aus der Mitte meines Körpers heraus zu brennen. Ich hatte meine eigene kleine Damenpistole mit Perlmuttgriff, die mir der Dichter McSweny in Grand Rapids geschenkt hatte. Mit der hätte ich Thomas erschießen können. Manchmal dachte ich, ich sollte wirklich jemanden erschießen. Tatsächlich habe ich ja auch einen von Tach Petries Männern erschossen, nicht während des berühmten Gefechts, sondern ein andermal, als sie uns auf der Straße auflauerten – mitten durch die Brust. Und er hat auch auf mich geschossen, aber es war nur eine Prellung, keine Wunde.
Ich hatte eine Wunde – die, ein verlorenes Kind zu sein. Und sie waren es, die mich heilten, Thomas McNulty und John Cole. Sie taten ihr Möglichstes, vermute ich. Sie haben mir die Wunde also zugefügt und sie geheilt, was eine unumstößliche Tatsache ist.
Ich denke, mir blieb gar keine Wahl. Wenn dir die Mutter genommen ist, kannst du sie nie mehr einholen. Du kannst nicht rufen: »Warte auf mich«, wie damals, wenn unter einem Wolfsmond die Winde kalt wurden und Mutter auf der Suche nach Holz weit vor dir durch die Gräser lief.
Thomas McNulty hat mich gleich zweimal gerettet. Das zweite Mal, als er sich erneut aufs Schlachtfeld wagte, mit mir im Schlepptau, als Trommlerjunge verkleidet. Als Starling Carlton mich auf der Stelle umbringen wollte. Wir waren ihm im Kampfgetümmel begegnet. Er fuchtelte mit seinem Revolver und brüllte, alle Indianer müssten getötet werden, so laute der Befehl des Majors, und genau das werde er tun. Also musste Thomas McNulty stattdessen ihn töten. Darüber war Thomas sehr betrübt. Sie hatten lange Zeit zusammen in der Armee gedient.
An all das kann ich mich recht deutlich erinnern.
Als kleines Mädchen musste ich oft ohne jeden Grund weinen. Ich stahl mich davon und suchte mir einen abgeschiedenen Ort. Dort ließ ich die Tränen fließen, und hinter meinen Augen war es so finster, als sei ich erblindet. Dann hielt John Cole Ausschau nach mir. Und war klug genug, den Arm um mich zu legen und mich nicht zu bitten, etwas zu sagen, wofür ich keine Worte hatte, weder auf Englisch noch auf Lakota.
John Cole. Viel von seiner Liebe zu mir drückte sich in praktischen Dingen aus. Wie gesagt, er besorgte mir Grammatikbücher und begann, mich zu unterrichten, obwohl er selbst auch nicht gerade über Bildung verfügte. Er brachte mir nicht nur Buchstaben, sondern auch Zahlen bei.
Als Lige Magan glaubte, ich sei so weit, erkundigte er sich bei seinem Freund, dem Anwalt Briscoe, nach einer Anstellung. Diese Arbeit verrichtete ich eine ganze Weile, schrieb Zahlen auf und rechnete sie zusammen. Darauf war ich sehr stolz.
Der Anwalt Briscoe hatte ein schönes Haus und einen Garten mit Blumen, die gar nicht nach Tennessee gehörten, meist Rosen aus England. Über seine Rosen verfasste er ein Buch, das in Memphis gedruckt wurde. In seinem Büro hatte es einen Ehrenplatz.
Wie gesagt, Ojinjintka bedeutet »Rose«. Ich weiß nicht, was für eine Rose. Vielleicht eine verlorene Prärierose.
Keine echte Rose wie die vom Anwalt Briscoe. Eine Rose in den Augen meines Volkes.
Der Anwalt Briscoe drängte mir Bücher auf, die er schätzte. Ich trug sie nach Hause und las sie im Wohnzimmer am Ofen. Von der Wiese ein Lufthauch, der immer wieder die Seiten streifte. Jene angenehmen Abende, an denen es nichts weiter zu tun gab, als Rosalees geliebtem Bruder Tennyson Bouguereau zuzuhören, wie er all die alten Lieder vortrug, die er kannte. Ich selbst in Gedanken versunken. In Gedanken, wie nur Bücher sie dir einflößen.
Natürlich war das alles vor Jas Jonski. Einem Burschen, der, wenn ich es mir recht überlege, noch nie ein Buch gelesen hatte. Der kaum einen Brief schreiben konnte.
Das alles muss in den 1870er Jahren gewesen sein, nach dem Krieg und nachdem Thomas aus dem Gefängnis nach Hause zurückgekehrt war. Es könnte sogar das Jahr gewesen sein, in dem General Custer getötet wurde. Oder kurz davor.
Doch wie schnellfüßig vergingen all diese Jahre. Wie Ponys, die über die endlosen Prärien galoppieren.
Zweites Kapitel
Jas Jonski war Verkäufer in einem Geschäft für Trockenwaren. Er arbeitete für ein jämmerliches Gespenst von einem Mann namens Mr Hicks. Schon als ich den Laden das erste Mal betrat, wusste ich, dass Jonski mich mochte.
»Du bist die Tochter von John Cole«, sagte er ohne jeden Anflug von Schüchternheit.
»Woher willst du wissen, dass ich die Tochter von John Cole bin?«, fragte ich. Mich für mein Teil beunruhigte es, überhaupt erkannt zu werden.
Er sagte, im vergangenen Herbst habe er mit dem Pferdewagen die schweren Sachen aus dem Laden angeliefert, und wunderte sich, dass ich mich nicht mehr daran erinnern konnte, wo er mir doch Komplimente gemacht hatte.
»Jetzt bist du sogar noch hübscher«, sagte er ziemlich keck.
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Auf seine Weise war dieser Satz wie ein plötzlicher Hinterhalt. Ich war bereit, mich zu verteidigen. Thomas McNulty hatte mir immer gesagt, dass ein Mädchen auf Nummer sicher gehen muss, dass sie wissen muss, wie sie ihr Messer, ihre kleine Pistole benutzt, all das. Für den Fall, dass meine Schusswaffe versagte, steckte im Saum meines Unterrocks ein schmales, kleines Messer aus Stahl. Aus englischem Stahl. Thomas McNulty zeigte mir, auf welche Körperstellen man am besten einsticht, wenn man sich jemanden vom Leib halten will.
Doch jedes Mal, wenn ich in die Stadt fuhr, um Vorräte einzukaufen, war Jonski freundlich zu mir. Als gäbe es jetzt vielleicht doch jemanden in der Stadt, dem ich vertrauen konnte. Da war etwas zwischen uns, aber ich hatte keinen Namen dafür. Es schien eine gute Sache zu sein. Ich begann, mich auf ihn zu freuen, und um schneller bei ihm zu sein, trieb ich die Maultiere an, sehr zu ihrem Leidwesen.
Ja, Jas Jonski war ganz vernarrt in mich, und nachdem er sechs Monate lang Rohrzucker und dergleichen für mich abgefüllt hatte, ging an meinem Pferdewagen ein Rad ab, und er fuhr mich hinaus zu Lige Magans Farm und unterhielt sich mit Thomas McNulty. Thomas McNulty würde selbst mit dem Teufel reden, so dass Jas Jonski keine Mühe mit ihm hatte. Und so machten Thomas McNulty und John Cole allmählich seine Bekanntschaft. Nie habe ich John Cole jemanden mit weniger Bewunderung anschauen sehen.
Aber Jas Jonski war entweder blind oder verliebt; jedenfalls schien er nichts zu bemerken. Er kam jetzt regelmäßig raus zur Farm, und als er feststellte, dass Thomas McNulty gern diese teure Melasse aus New Orleans aß, brachte er zuweilen einen Topf davon mit. Dann saß er da, strahlte über das ganze Gesicht und redete, während Thomas mit einem Zweig die Melasse in sich hineinstopfte wie ein Bär. John Cole blickte finster drein und sagte nichts. Er machte sich nichts aus Melasse, es sei denn, es handelte sich um das billige Zeug, das nach der Ernte dem Tabak zugegeben wurde. Jas Jonski strahlte wie eine Sonne, die einfach nicht untergehen will, ganz gleich, wie dunkel der Abend ist.
»Ich mag die Stadt«, sagte Jas Jonski zu John Cole, »aber hier auf dem Land gefällt’s mir auch.«
John Cole sagte noch immer nichts.
Jas Jonski durfte mich für zehn Minuten in den Wald führen, das war alles, was John Cole an Liebeswerben gestattete. Nicht einmal seine Hand halten durfte ich. Jas Jonski hatte den bescheidenen Ehrgeiz, einen eigenen Laden zu besitzen, und deutete an, nach Nashville ziehen zu wollen, wo seine Familie lebte. Nicht wenige Male blieb er stehen, ließ mich vor sich hintreten und hielt eine Ansprache. Zu sehen, wie sich sein Gesicht bei all den glühenden Beteuerungen rötete, war mir überaus angenehm. Denn er beteuerte seine Liebe, ganz wie in den Märchenbüchern.
Dann dachte Jas Jonski, er würde gut daran tun, mich zu heiraten, und fragte mich nach meiner Meinung. Ich wusste nicht, wie alt ich war, aber ich schätze, ich war noch keine siebzehn. Ich war im Hirschmond geboren, das war das Einzige, was ich mit Gewissheit wusste. Er sagte, er sei neunzehn. Ein rothaariger Bursche mit einem Gesicht, das das ganze Jahr über verbrannt aussah, nicht nur im Hochsommer.
Da bekam auch John Cole ein rotes Gesicht. Wurde wütend wie ein Wels.
»Kommt nicht in Frage, Madam«, sagte er.
Immerhin war ich für den Anwalt Briscoe tätig, eine ungewöhnliche Beschäftigung für ein Mädchen, ganz zu schweigen von einer Indianerin. Ich glaube, John Cole hatte mich zur ersten indianischen Präsidentin bestimmt.
Nun, ich würde Jas Jonski sehr gern heiraten, glaubte ich. Es hörte sich gut an. Ich konnte es geradezu vor mir sehen. Hatte ein Bild davon im Kopf. Ich hatte ihn nicht einmal geküsst, sah aber schon, wie ich ihm das Gesicht zum Kuss entgegenstreckte. Wenn John Cole uns nicht mehr im Blickfeld hatte, hielten wir Händchen.
Doch John Cole, ein weiser Mann, sah die Dinge anders. Er sah die Welt nicht in rosigen Farben. Er wusste, wie es um sie bestellt war, wusste, was die Welt sagen und was die Welt schließlich tun würde. Und behielt in fast allem recht.
Aber ich war kaum siebzehn, vielleicht gerade mal siebzehn, und was wusste ich schon von alledem? Nichts. Nun, einige Dinge wusste ich. In meinem Hinterkopf war ein schwarzes Gemälde voller Blut und Gebrüll, und das Blut quoll daraus hervor. Die weiche bronzene Haut meiner Schwester, meiner Tanten. Manchmal konnte ich mich eben doch an Dinge erinnern oder bildete mir es zumindest ein. Vielleicht behauptete ich ja nur, mich nicht erinnern zu können, weil ich mich nicht erinnern wollte – nicht einmal für mich selbst. Blauröcke, die über uns herfallen, Bajonette und Blei und Feuersbrunst und Menschenseelen, die brutal gemetzelt werden. Ich weiß es nicht. Vielleicht war’s ja auch nur das, was Thomas McNulty mir erzählt hatte. Ein rußgeschwärztes Gemälde. Doch dann die lange, klare Erinnerung an all das, was Thomas McNulty und John Cole für mich getan hatten, die mächtigen Anstrengungen, die sie unternommen hatten, um mich froh zu stimmen und mir Schutz zu gewähren.
Thomas McNulty war zwar keine richtige Mutter, aber doch beinahe. Von Zeit zu Zeit trug er sogar ein Kleid.
Ich dachte, wenn’s darum geht, einen Menschen froh zu stimmen und ihm Schutz zu gewähren, könnte Jas Jonski in die Fußstapfen von John und Thomas treten.
Er war nicht gerade ein Bild von einem Mann – wie sollte er auch mit seinem geröteten Gesicht? Seine ganze Erscheinung glich der Unterseite eines herabgestürzten Baumstamms, wenn man ihn aufgerichtet hat. Nun ja, aber dass er aus zwanzig Schritt Entfernung ganz passabel aussah, das kann ich bezeugen. Ach, er war einfach nur ein gewöhnlicher Bursche, eigentlich ein mickriger Bursche, der von nach Amerika ausgewanderten Polen abstammte; doch für die Menschen in Paris zählte in Wahrheit nur eines: dass er weiß war. Er war ein Weißer. Liebe mag blind sein, aber die Stadtbewohner waren es nicht. So blind jedenfalls nicht.
Leute, die immer wieder dieselben Dinge zu dir sagen, können dich zermürben. Ich wusste, dass Mr Hicks dachte, Jas Jonski sei verrückt geworden. Auf gewisse Weise sei er vielleicht sogar verkommen. Jemanden heiraten zu wollen, der einem Affen näher steht als einem Menschen, wie Mr Hicks es formulierte. Das alles erzählte mir Jas Jonski und war sehr aufgebracht, vielleicht aber auch ein wenig erschrocken. Obwohl Jas Jonski eine Mutter in Nashville hatte, wurde ich nie mitgenommen, um sie kennenzulernen, nichts dergleichen.
Es kam der Tag, da ich voller Blutergüsse zur Farm zurückkehrte. Rosalee Bouguereau schrie auf, als sie mich sah, und brachte mich nach draußen zum Waschhaus, weil sie geheime Arbeit an mir verrichten musste, die die Männer nicht sehen durften. Dann führte sie mich ins Haus, zerstampfte Blätter zu einem Brei und verrieb ihn sachte auf meinem zerschundenen Gesicht.
Als die Männer von ihrem Tagwerk hereinkamen, machte Thomas McNulty sich Vorwürfe. Er knirschte mit den Zähnen.
»Ich verstehe nicht, wieso du ein kleines Mädchen überhaupt in die Stadt fahren lässt«, sagte Rosalee Bouguereau.
»Ach, sei still«, sagte ihr Bruder Tennyson, aber nicht einmal er wusste, was er damit meinte. Seine eleganten Gesichtszüge waren verschleiert vor Angst.
Es fühlte sich an, als wären sämtliche Knochen in meinem Gesicht zerbrochen wie ein fallengelassener Teller. Als ich ein paar Tage später hinausging, um mein Gesicht in die Regentonne zu tauchen, konnte ich selbst in dem zitternden Wasser sehen, dass ich keine Augenweide war. Es war derselbe Tag, an dem auch ich zu zittern begann, genau wie das Wasser. Ich zitterte zwei Wochen lang, und sogar als ich aufhörte zu zittern, könnte ich schwören, dass etwas in mir, in meinem tiefsten Innern, noch lange Zeit danach zitterte. Wie ein Querschläger, der in einer Felsenschlucht widerhallt. Damals war mein Hochzeitskleid erst halb genäht, und Thomas McNulty hatte es auf einen Stuhl mit hoher Rückenlehne drapiert, damit er es, wenn er eine freie Stunde hätte, gleich vor sich hatte und weiter daran arbeiten konnte. Es sah aus wie ein Mensch, weiß wie ein Geist.
»Ich will nicht mehr heiraten, am besten legst du das Kleid beiseite für ein andermal«, sagte ich.
»Gnade mir«, sagte Thomas mit dem Kummer der Weißnäherin, die Stunde um Stunde genäht hat.
Im Haus herrschte eine Art Verzweiflung. Als wäre der Himmel eingestürzt und niemand hätte Maultiere und Seile zur Verfügung, um ihn wieder aufzurichten.
John Cole sagte, er werde in die Stadt fahren und mit Sheriff Flynn reden.
»Sei kein Narr«, sagte Thomas McNulty. Er sagte es freundlich, sanft.
Es war einfach so, dass man etwas tun wollte. Wurde in jener Welt eine Missetat begangen, hatte man das Gefühl, etwas müsse unternommen werden, um sie sofort auszugleichen. Ausgleichende Gerechtigkeit. Ich glaube, so war’s schon, noch ehe die Weißen kamen. Meine Mutter erzählte immer eine Geschichte über mein Volk vor Hunderten von Jahren. Es gab eine Stammesgruppe, die unsere Sprache sprach, sich aber von uns abgesondert hatte und deren Mitglieder dazu übergangen waren, ihre Feinde nach der Schlacht zu verzehren. Sie suchten die Orte auf, an denen wir unsere Toten begruben, stahlen des Nachts die Leichen und fraßen sie. Sie versuchten sogar, uns lebendig zu fangen, um uns zu fressen. Wie ich vor Angst bebte, als ich diese Geschichte hörte! Schließlich zog unser Stamm gegen sie in den Krieg und tötete viele von ihnen. Am Ende hielten sich die Letzten in einer großen Höhle versteckt, und wir schichteten am Eingang Holzstöße auf und sagten, wenn sie nicht aufhörten, Menschen zu fressen, würden wir das Holz in Brand setzen. Sie wollten aber nicht aufhören, und so wurde das Feuer entzündet. Eine Woche lang brannte es tief im Berg.
Doch so schrecklich es war, sich als Kind etwas derartiges anhören zu müssen, so schien es doch auch von Gerechtigkeit zu zeugen. Ausgleichende Gerechtigkeit. Etwas zu tun, um Dinge unverzüglich wiedergutzumachen. Das wollte man. Selbst wenn es bedeutete, jemanden zu töten. Andernfalls hätte noch viel Schlimmeres bevorgestanden. So empfanden auch Thomas McNulty und John Cole, das gehörte zu der Welt, in der wir zu überleben versuchten. Sie hatten die Farm gegen Tach Petrie und seine Bande verteidigt, die damals, wie gesagt, mit ihren Gewehren kamen, um uns das Geld zu rauben, das wir in jenem Jahr mit der Tabakernte verdient hatten. Sie waren so mutig wie nur irgendeiner.
Doch wir waren arm, und zwei von uns waren Indianer.
Und es war, wie ich bereits erwähnte, ohnehin kein Verbrechen, eine Indianerin zu schlagen. Lige Magan suchte den Anwalt Briscoe auf, der natürlich sein Freund und ein Freund seines Vaters war, um sich genau das bestätigen zu lassen, und der bestätigte es.
Lige Magan kehrte in düsterer, nachdenklicher Stimmung zurück.
Thomas McNulty und John Cole hatten eigentlich nichts außer mir. Ich meine, nichts, ohne das sie nicht leben konnten. Für das sie ihr Leben geben würden. Behaupteten sie jedenfalls. Es schmerzte furchtbar, sie das sagen zu hören und sie dann noch sagen zu hören, wie schlecht sie sich fühlten, weil das Einzige von Wert, was sie besaßen, versehrt worden war und sie nicht wussten, was sie dagegen unternehmen sollten. Und dass sie es, wie Lige Magan herausgefunden hatte, vielleicht nicht einmal dann wiedergutmachen konnten, wenn sie gewusst hätten, wie.
Weiter westlich hätten sie, war der Schuldige erst einmal ausfindig gemacht, einfach angefangen zu schießen.
Thomas McNulty überlegte, ob es etwas nützen würde, jeden Winkel von Paris nach Vaganten und Vagabunden zu durchkämmen und, wo sie schon einmal dabei wären, vielleicht auch gleich die Landstraßen abzusuchen. John Cole sagte, heutzutage seien auf den Straßen sowieso nichts als Vaganten und Vagabunden unterwegs. Thomas McNulty seufzte und meinte, das seien sie doch viele Male selbst gewesen.
Immer wieder fragten sie mich: »Hast du gesehen, wer’s getan hat? Ein Fremder? Oder jemand, den du kennst?« Ich antwortete immer nur: »Ich weiß es wirklich nicht.«
Ich ging zu John Cole und stellte mich neben sein Bein wie ein Hund, der nicht sicher ist, ob er recht oder unrecht getan hat.
Weil ich dachte, ich müsste es doch wissen, und mich fragte, ob ich es vielleicht nicht doch tat. Ich konnte mich undeutlich erinnern, dass ich mich losgerissen hatte und zur Stadt hinausgetaumelt war. Dann war ich wie ein verletztes Pony umhergestolpert, bis ich zum Haus des Anwalts Briscoe kam. Lana Jane Sugrue, seine Haushälterin, rief ihre beiden Brüder herbei, und die fuhren mich im Buggy des Anwalts Briscoe nach Hause. Vielleicht weinte ich, vielleicht auch nicht. Die Brüder, Joe und Virg, wagten es kaum, mich anzuschauen; ich sah, wie sie einander nervöse Blicke zuwarfen. Ich erinnere mich an die Felder und Brachen, die an mir vorüberflogen, als sie das kleine Pony antrieben, bis es Schaum vor dem Maul hatte. Hinten auf der harten Bank spürte ich jede Unebenheit des Weges. Und dann ließen sie mich, fast ohne ein Wort zu sagen, hinter Liges Haus absteigen.
Sie setzten mich nicht an der Vordertür ab.