Seewölfe - Piraten der Weltmeere 612

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 612
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Impressum

© 1976/2020 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-96688-026-8

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Sean Beaufort

Feuer auf der „Pilgrim“

Die schrecklichen Nächte nehmen kein Ende – unter Deck bricht ein Feuer aus

Obwohl Kapitän James Drinkwater und sein Erster Graham Lilley ihr Bestes taten, änderten sich die Zustände an Bord – ins Schreckliche. Die Auswanderer unter Deck der alten Galeone fingen an, den Tag zu verfluchen, an dem sie an Bord gegangen waren.

Das Übel hatte viele Namen: Rattenplage und verdorbene Lebensmittel, ein betrügerischer Koch, das Trinkwasser fing an zu faulen, und Krankheiten breiteten sich in der qualvollen Enge aus. Ein paar Männer taten mehr, als sie konnten, aber von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag wurde es unerträglicher.

Die „Pilgrim“ war ein einziges Rattennest, und wenn die Auswanderer nicht versuchten, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, würden sie in den Wellen des Atlantiks sterben und niemals das ersehnte Land erreichen.

Die Ratten waren an allem schuld. Tod den Schädlingen, die das Essen zernagten!

Schlagt die Ratten tot! hieß es bald …

Die Hauptpersonen des Romans:

James Drinkwater – obwohl er seine „Pilgrim“ als Kapitän hervorragend führt, bleibt ihm nichts erspart.

Graham Lilley – sein Erster Offizier ist es, der auf einer Runde durchs Schiff das Feuer entdeckt und sofort Gegenmaßnahmen einleitet.

Ed Cornhill – als seine Frau in Panik über Bord springt und ertrinkt, beginnt er durchzudrehen.

Fred Blewitt – wird tot an einer Rah hängend gefunden, aber sein Tod bleibt ungeklärt.

Philip Hasard Killigrew – hat mal wieder Ärger mit den drei Hochwohlgeborenen bei sich an Bord, geigt ihnen aber seine Meinung.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

1.

Blutrot hatte sich der Himmel im Westen gefärbt. Zwischen riesigen Wolkenbänken, die wie seltsame Berge aus dem Meer wuchsen, schwebte die Sonne als dunkelrot strahlende Kugel. Dicke Lichtbalken zuckten zwischen den Wolken hervor. Das Meer hatte eine trübe Farbe angenommen.

Wenn das seltsame Licht dieses Nachmittags die Schiffe traf und die Seeleute blendete, war es, als ob ein ferner Schrecken nach den Menschen griffe. Ein schlechtes Zeichen, ein böses Omen. Alle Berichte und Legenden, all das Seemannsgarn fiel ihnen wieder ein, das über den Tod auf See gesponnen wurde.

„Wäre ich abergläubisch“, sagte Don Juan de Alcazar zu Hasard, „dann würde ich Befehl zum Umkehren geben.“

Hasard beobachtete gebannt das herrliche Schauspiel, das tatsächlich auf neue Unwetter und Stürme hindeutete.

„Da wir aber von Aberglauben nichts halten“, sagte er ruhig, „werden wir geradewegs weitersegeln wie bisher, lieber Freund.“

„Und zwar noch länger als zehn Tage, wie mir Dan verraten hat.“

„Mit Sicherheit dauert’s so lange.“

In den letzten Stunden hatte der Wind nachgelassen. Die seekranken Auswanderer konnten sich wieder erholen. Aber den vielen Kranken half es kaum etwas, daß die Schiffe ruhiger lagen. Immerhin segelten die Galeonen in geringer Entfernung hintereinander in Kiellinie. Die Schebecke hatte sie alle an Steuerbord voraus.

„Ich kann nur hoffen, daß sich die Mannschaften etwas mehr um die Aussiedler kümmern“, brummte der Seewolf. „Schließlich kann ich nicht jeden in Ketten legen, der sich an den armen Kerlen bereichert. Na ja, Harris wird seine Sache schon richtig hinkriegen.“

„Das glaube ich auch“, sagte der Spanier.

An Bord der „Discoverer“ hatte Hasards entschlossenes Vorgehen – zumindest für einige Zeit – für Ruhe und eine Änderung der unhaltbaren Zustände gesorgt. Die Eltern von Little John und Roebuck – die Seewölfe hatten die beiden Jungen kaum von Bord der Schebecke wegbekommen – hatten versprochen, auch unter den Auswanderern Helfer herauszusuchen, die sich unter Deck um ihre eigenen Leute und deren Not kümmerten. Die Seewölfe bedauerten tatsächlich, daß die beiden Jungen nicht mehr an Bord waren. Die Gelegenheit, von gut erzogenen Kindern bewundert zu werden, hatte jeder von ihnen genossen. Am meisten wahrscheinlich Hasards Söhne, die Zwillinge.

Der Spanier fragte skeptisch: „Wird es eine ruhige Nacht?“

„Meinst du, ob unter Deck oder auf diesem lieblichen Ozean?“

„Ich bewundere das Licht und die Wolken. Wenn sie so schön sind, droht meistens ein Sturm. Oder noch Übleres. Ich meine, daß wir heute nacht wieder starken Wind kriegen. Oder irre ich mich?“

„Ich glaube, es bleibt ruhig“, antwortete Hasard. „Jedenfalls wünsche ich es den Auswanderern auf den vergammelten Galeonen.“

„Das wünsche ich ihnen auch. Sie haben verdammt viel zu leiden. Irgendwie ist das alles falsch aufgezogen worden. Von Anfang an. Je länger die Fahrt dauert, desto schlimmer wird es. Und es ist schon sehr schlimm, nicht wahr?“

„Ja. Und am schlimmsten verhalten sich solche Kreaturen wie Granville. Es gibt noch eine ganz Menge kleiner Granvilles“, sagte der Seewolf voller Grimm. „Diese Fahrten mit solchen Schiffen oder zumindest mit derartigen Verbrechern als Kapitäne sollte man verbieten.“

Derlei Gedanken waren zutreffend, aber in dieser Stunde ausgesprochen sinnlos und überflüssig. Die Fahrt nach Virginia ging weiter, und jeder hoffte, sie zu überleben. Wolken schoben sich vor die Sonne, und eine düstere Stimmung löste die bedrohliche Farbe auf dem Meer ab.

Die Seewölfe waren nur mäßig beeindruckt.

Naturschauspiele dieser Art kannten sie zur Genüge. Die Männer dachten kaum an böse Vorzeichen oder an voraussehbare Unglücke. Sie hatten ihre Aufgabe, und daran hatte sich nichts geändert. Die Schebecke segelte hinter dem kleinen Schiffsverband her, und hin und wieder schauten sich die Seewölfe nach der Karavelle um. Sie folgte wie die Flosse eines lauernden Haifisches unverändert den Auswandererschiffen.

„Es wird Ärger geben, Sir“, meldete der Bootsmann.

„Noch mehr?“ fragte James Drinkwater unruhig. „Welchen meinst du?“

„Den Ärger, Sir, den die Auswanderer veranstalten werden. Und auch ein paar von unseren Leuten. Das Zeug, das der Koch zubereitet, ist schier ungenießbar.“

Drinkwater und sein Erster, Graham Lilley, wechselten einen langen Blick, der ihre Unruhe verriet. Seit Kapitän Killigrew den „Discoverer“-Kapitän in Eisen gelegt und auf seiner Schebecke in die Vorpiek gesperrt hatte, war alles ganz anders geworden. Der Seewolf und seine Männer paßten höllisch auf.

„Und warum wird über den Fraß gemeckert?“ fragte Drinkwater aufmerksam.

„Weil die Ratten alles, was sie finden, anfressen und verunreinigen, Sir“, erwiderte der Bootsmann. „Es war noch nie so schlimm. Alles ist angefressen. Überall sind Ratten. Ich wundere mich, daß sie nicht hier auf dem Achterdeck herumturnen.“

„Ist mir noch gar nicht aufgefallen“, sagte der Erste. „Tatsächlich? So viele Ratten? Auf unserem Schiff?“

„Ich habe sie selbst gesehen. Besonders in der Proviantlast sind sie in Scharen“, erklärte der Bootsmann verdrossen. „Wollen Sie selbst nachsehen?“

Graham Lilley dachte an die Möglichkeit, daß Kapitän Killigrew auch auf diesem Schiff sein Regiment antrat und nachforschte. Er hatte nicht vor, das Schicksal Granvilles zu teilen. Er nickte dem Bootsmann zu und wandte sich an den Kapitän.

„Es ist kein Kunststück, die Ratten aus dem Schiff zu kriegen, Sir. Wir haben schließlich genug Jäger an Bord. Sehen wir uns die Kombüse einmal genauer an?“

„Gehen wir. Sonst heißt es noch, wir kümmern uns um nichts.“

Vom Achterdeck enterten sie ab und schoben sich durch die Reihen der sitzenden und liegenden Auswanderer. Es war auch im Halbdunkel der Laderäume und der niedrigen Decks nicht zu übersehen, daß die Auswandererfamilien ebenso litten wie die Mannschaften. Die Seeleute waren weitaus besser dran als die hilflosen, seekranken Landratten, denn sie bewegten sich auf ihrem Schiff ohne Einschränkungen.

„Sieht schlimm aus“, murmelte der Kapitän, als sie das Dämmerlicht der tieferen Decks erreicht hatten. Mit jedem weiteren Schritt schien der üble Geruch zuzunehmen.

Die Bärte in den bleichen, schmutzigen Gesichtern der Männer wucherten wild. Das kalte Salzwasser hatte aus vielen Wunden eiternde Stellen und Schwären werden lassen. Verkrümmt und in stinkenden Lumpen, unter löchrigen Decken, lagen die Kranken auf schmutzigen Planken, Taurollen und Segelfetzen.

Verbände, geschiente Gliedmaßen und gewickelte Binden hatte die graue Farbe der Umgebung angenommen. Um die Kranken kümmerten sich Frauen und Männer und versuchten, den hilflosen Feldschern zu helfen. Sie fütterten die Siechenden mit einem Brei, dem man nicht ansah, aus was er bestand. Er wirkte unappetitlich wie alles hier unter Deck.

 

Je mehr sich der Kapitän und seine Begleiter dem Großmast näherten, je mehr Decks über ihnen lagen, desto schärfer und ätzender wurde der Gestank. Im flackernden Licht weniger Lampen erkannten sie die huschenden Ratten. Die Tiere sahen keineswegs verhungert aus. Ihre Augen leuchteten immer wieder in den Winkeln auf.

„Wenn wir heil zurückkehren, muß das Schiff in die Werft“, sagte Drinkwater.

Von der Sauberkeit, die auf dem aufgeklarten Oberdeck herrschte, war hier unten nichts mehr zu bemerken. So schlimm hatte er es sich nicht vorgestellt. Menschen hockten und lagen buchstäblich in jedem Winkel. Daß ihnen die Ratten über die Gesichter liefen, war unter diesen Umständen völlig normal.

Drinkwater bückte sich unter einem wuchtigen Decksbalken und schob seinen Kopf in die Kombüse.

„Aha“, sagte er. „Die Auswanderer helfen sich selbst.“

Drei ältere Frauen schienen sich vor einiger Zeit entschlossen zu haben, dem Koch zu helfen. Sie versuchten, mit Salzwasser aus Pützen und mit Messerklingen, Lappen und Scheuersteinen die Kombüse zu säubern. Über der Glut hing ein großer Kessel voller Wasser. Es roch durchdringend brackig. Wenn es nicht gekocht wurde, war es das beste Mittel, die Hälfte von Crew und Auswanderern krank werden zu lassen.

„Koch“, sagte Drinkwater scharf und schaute sich um, „du sperrst sofort die Proviantlast auf. Wir brauchen viel Licht. Und in dieser Rußhöhle kochst du für das ganze Schiff?“

„Ich habe genug zu tun, Sir“, erwiderte der Koch. „Ich kann gleichzeitig nicht putzen und kochen.“

„Jetzt zeigst du uns erst einmal deine Vorräte“, befahl der Erste.

Der Kapitän sprach leise mit den Helferinnen und lobte sie. Wo sie sich beschäftigten, herrschte schon eine gewisse Sauberkeit. Der Boden war mit Abfällen und Asche bedeckt.

Lilley wandte sich an den Bootsmann: „Hierher muß Seewasser und Seife. Hol dir ein paar Männer von der Freiwache und schafft diese Sauerei außenbords. Und zwar sofort, verstanden? Ihr seid sonst die nächsten, die krank werden.“

Der Koch zündete einige Öllampen an, suchte den Schlüssel und reichte die brennenden Lampen weiter. Das Schloß knirschte, das Schott schwang knarrend auf. Vor den Männern ertönten die grellen, kurzen Pfiffe der Ratten. Zwei, drei Schritte weiter, und um die Stiefel der Eintretenden huschten die Ratten in alle Richtungen und hinaus zur Kombüse. Schweigend hielt Drinkwater das Licht in die Höhe, leuchtete in die Winkel hinein und untersuchte die Ladung.

Ein heilloser, kalter Zorn breitete sich in ihm aus. Er beherrschte sich noch eine Weile, aber als der volle Umfang der Zerstörungen und Verwüstungen sichtbar war, wirbelte er herum und schrie: „Du verdammter Hund! Ich lasse dich auspeitschen. Schau dir an, was das Rattenpack angestellt hat!“

„Sir“, der Koch fing zu stottern an und hob die Hände, „ich hab’s dem Decksältesten ein paarmal gesagt. Aber er hat keine Leute, die mir helfen. Wann soll ich kochen, wenn ich die Ratten verscheuchen muß?“

„Warum meldest du nicht bei mir, du Mistkerl? Wir müssen alle hungern. Das verdorbene Zeug müssen wir wegwerfen. Und das andere stinkt nach Rattenpisse. Warum hast du mir nichts gesagt?“

Drinkwater wartete keine Antwort ab. Er starrte seinen Ersten an und sagte in scharfem Befehlston: „Wir brauchen ein halbes Dutzend erfahrene Auswandererfrauen. Sie müssen hier aufräumen. Sofort! Das Mehl muß gesiebt werden. Hier …“

Er entdeckte in einem Faß, halb voll Pökelfleisch und wäßriger Soße, eine ertrunkene Ratte. Er packte sie mit spitzen Fingern am Schwanz und warf sie dem Koch ins Gesicht.

„Willst du uns Rattenbraten vorsetzen? Hier! Da hast du deinen Braten. Für dich überlege ich mir etwas ganz Ausgefallenes, du Schweinehund!“ Wieder sprach er mit Lilley.

„Zuerst wird hier aufgeräumt. Mit den Frauen dort rede ich. Der Koch geht in die Bilge zur Rattenjagd. Augenblicklich. Heute beim Wachwechsel zeigst du mir fünf Dutzend Ratten, die du allein erschlagen hast. Keine Widerrede! Hinaus, du Bastard!“

Er stapfte aus der Proviantlast hinaus und blieb in der Kombüse stehen. Die Frauen, die seine Gardinenpredigt gehört hatten, starrten ihn halb verlegen, halb hoffnungsfroh an.

In mäßigerem Tonfall fuhr er fort: „Holt euch noch ein paar vernünftige Frauen, die gut kochen können. Seid ihr schon lange hier?“

„Einen Tag, Kapitän. Nicht ganz einen Tag. Sonst würde es hier schon ganz anders aussehen.“

„Glaube ich. Der Erste bringt noch einige Helferinnen. Kocht für uns alle etwas Genießbares zum Abend. Für den Tee schicke ich euch ein Fäßchen Rum. Nehmt von dem Proviant, der zuerst verbraucht werden muß. Denkt daran, daß es noch zehn oder fünfzehn Tage dauern kann, bis wir Land sehen. Die Vorräte, nun, die Hälfte ist immerhin schon verbraucht. Ich kümmere mich um die Ratten.“

Fünf mürrische Seeleute erschienen mit vollen Pützen.

Drinkwater gab ihnen eindeutige Befehle. Als er endlich zu wettern aufgehört hatte, holte er tief Luft und sagte im eisigen Tonfall: „Ihr helft diesen tüchtigen Frauen, klar? Ich will die Maserung der Planken hier sehen, wenn ihr fertig seid. Den ganzen Mist außerbords, verstanden, ihr Kerle?“

„Aye, aye, Sir“, tönte es zurück. Es klang nicht sehr begeistert.

In etwas ruhigerem Ton fuhr der Kapitän fort: „Ihr müßt den Fraß genauso essen wie die Auswanderer. Das Zeug ist voller Rattenkot. Also kein Mitleid mit dem verdammten Koch.“

„Aye. Verstanden.“

Widerwillig gingen die Seeleute an die Arbeit. Die Frauen halfen ihnen und versuchten, mit den mürrischen Männern zu scherzen. Mit Strömen von Seewasser, das in die darunterliegenden Decks tropfte und entlang der Bordwand in die Bilge rann, wurde der schwarze, von weichen Krusten bedeckte Boden geschrubbt. Nacheinander erschienen Frauen, krempelten die Ärmel auf und wurden vom Kapitän selbst eingewiesen.

„Denkt daran!“ rief er ihnen zu. „Der Proviant muß bis nach Virginia reichen. Nichts über Bord, das noch brauchbar ist. Und jede Ratte totschlagen, die ihr erwischt.“

Nach einer Weile stolperte Lilley über den Niedergang in den Vorraum der Kombüse.

„Diese Maßnahmen hätten uns schon früher einfallen müssen“, sagte er leise zu Drinkwater.

Die Frauen sahen eine neue Aufgabe. Ihre Langeweile war vorbei, sie wurden abgelenkt und konnten endlich etwas Vernünftiges tun. Mit viel Kreischen und Gelächter, das für ihre gute Stimmung sprach, übernahmen sie die Herrschaft über die Proviantlast und die Kombüse. Das Wasser im Kessel fing zu sprudeln an.

„Das hätte dem Koch wenig gefallen“, sagte der Kapitän und sprang zur Seite, um einer Pütz schäumenden Wassers auszuweichen. „He, ihr jungen Ladys dort! Kocht einen guten Tee und bringt mir einen Krug in meine Kammer, ja?“

„Geht klar, Kapitän.“

Drinkwater packte den Ersten am Arm und steuerte ihn aus der Kombüse.

„Wenigstens herrscht in einer Ecke etwas Ordnung“, sagte er. „Aber mit dem Proviant sieht’s wirklich böse aus.“

„Er wird nicht reichen“, erwiderte Graham Lilley unruhig. „Auf keinen Fall. Die Weiber werden sich den Bauch vollschlagen, wenn wir sie nicht beaufsichtigen.“

Der Kapitän schüttelte den Kopf.

„Da paßt eine auf die andere auf. Keine Sorge. Aber an den letzten Tagen wird gehungert. Alle werden hungern müssen. Wir, die Crew und die Auswanderer.“

„Das eine oder andere Fäßchen Wein wird sich noch finden“, meinte der Erste zuversichtlich.

Sie erreichten die Kuhl. Die feuerrote Sonne war um eine Handbreite näher an die Kimm gerückt. Kapitän James Drinkwater winkte Decksälteste und Bootsleute zu sich heran.

„Zuhören“, sagte er. „Jedes Crewmitglied und jeder Auswanderer, der noch kriechen kann, fängt Ratten. Vom Bug bis zum Heck, bis hinunter in den Ballast. Zwischen den Ballaststeinen könnt ihr sie erschlagen. Ein paar Mann an die Lenzpumpe. Die Ratten haben unter den Vorräten gewütet. Die nächsten Tage kochen die Frauen der Auswanderer. Wahrscheinlich können sie’s besser als dieser schweinische Koch, der seine Kombüse in einen Dreckstall hat verkommen lassen.“

„Verstanden, Sir.“

„Heute nacht bleibt es höchstwahrscheinlich ruhig. Die Freiwache soll sich an der Jagd beteiligen. Und keine Kerzen, keine offenen Lampen in den dunklen Winkeln, klar?“

„Aye, Sir. Das wird die Langeweile vertreiben. Die Ratten müssen sich vermehrt haben. Beim, Ablegen waren nur ein paar zu sehen.“ Der Bootsmann hob die Schultern.

„Das glaubt euch nicht einmal ein Blinder“, herrschte ihn der Kapitän an. „Ganz egal, wie viele. Sie werden alle gefangen und über Bord geworfen. Morgen will ich nichts mehr sehen und hören. Nehmt die Auswanderer mit auf die Jagd. Bewegung wird ihnen nicht schaden.“

„Aye, aye, Kapitän.“

„Und keiner von euch soll glauben, daß ich scherze. Wenn ich sehe, daß die Vorräte ausgehen, setze ich alle, nur die Kranken nicht, auf Wasser und Schiffszwieback. Dann könnt ihr Fische fangen und an der Luft trocknen. Ich verlange, daß die ‚Pilgrim‘ rattenfrei wird.“

„Das geht schon in Ordnung, Kapitän“, versicherte der Gehilfe des Segelmachers.

„Los, an die Arbeit!“ schrie der Erste und schwenkte die Arme. Die Männer zerstreuten sich und stiegen unter Deck. Kurze Zeit später fing auf der „Pilgrim“ und in den schwarzen, stinkenden Kammern des Schiffskörpers die erbarmungslose Jagd auf die Ratten an.

Mehr als hundert Leute beteiligten sich daran.

Die kleinen Kinder schrien, weil sie nicht begriffen, was der Lärm und das Umherhasten der Leute bedeuten sollte. Die größeren beteiligten sich daran, das Gepäck und ihre Habseligkeiten aus den Ecken hervorzuräumen und die pfeifenden und zischelnden Tiere aufzustöbern.

Latten knallten auf die Planken, Belegnägel krachten gegen das Holz. Die Ratten rannten im Zickzack hin und her, zwischen den Knien und Füßen der Auswanderer hindurch und suchten ein neues Versteck in einem anderen dunklen Winkel.

„Wir brauchen mehr Licht!“ schrie ein Mann, der wie ein Rasender unter einem Gepäckstapel umherstocherte und ein Nest gefunden haben wollte. Das gellende Pfeifen bewies, daß er recht hatte.

„Seid vorsichtig mit dem Feuer!“ rief der Bootsmann. „Das Zeug brennt wie Zunder. Weg von den Pulverfässern.“

„Verstanden. Trotzdem ist es zu finster hier.“

Auf einer Galeone dieser Größe, die zudem mit Ausrüstung, Proviant und hauptsächlich Menschen und deren Habseligkeiten vollgestopft war, gab es unzählige Verstecke. Die meisten fanden sich in den tiefergelegenen Decks. Im feuchten, schlammigen Dreck des Steinballastes versteckten sich die meisten Nagetiere. Sie schleppten ständig den giftigen Schmutz in die oberen Decks, suchten unaufhörlich nach Eßbarem und verdarben den Proviant nicht nur dadurch, daß sie ihn fraßen, sondern auch, weil sie ihn verunreinigten und ungenießbar werden ließen.

„Hier sind sie, die verfluchten Nager!“ brüllte ein Seemann aus der Umgebung des Mastschuhs. Er war halb ohnmächtig von den Ausdünstungen der glitschigen Steine und des schleimigen Seewassers dazwischen.

Mit spitzen Fingern packten die Crewmitglieder und die Auswanderer ihre erlegten Opfer. Die blutenden Kadaver wurden in der Nähe der Niedergänge wie Siegestrophäen nebeneinandergelegt. Schnell bildeten sich große Blutlachen. Die Frauen blickten sie schaudernd an und zogen die Kleinkinder an ihre Brust.

Im flackernden Licht der Öllampen sahen die Aussiedler ihre Feinde genauer. Die Felle der Nagetiere waren räudig und unglaublich verdreckt und naß. Die Haarbälge wimmelten von Läusen und anderen Schädlingen. Eiternde Wunden zeigten sich. Die Tiere hatten sich gegenseitig gebissen und versucht, einander aufzufressen. Sie stanken abscheulich.

Zwischen den Körpern der alten Tiere zuckten immer wieder die erschlagenen und ertränkten, zertretenen und zerschmetterten Leiber der nackten, blinden Neugeborenen. Seeleute ließen Pützen durch die Luken hinunter, und die Kadaver wurden in die leeren Behälter geworfen.

Lärm schlug aus allen Ecken und Enden der Galeone. Nur an Deck war es einigermaßen still und ruhig. Die Frauen, die sich um die Küche und die Proviantlast kümmerten, riefen ihre Männer und die erwachsenen Söhne zur Hilfe. Sie erschienen mit Tauenden, Belegnägeln, Messern und Dolchen und mit allem anderen, das sich zum Totschlagen und zerschmettern von Ratten verwenden ließ.

Die Frauen hatten die Lebensmittel, so gut sie konnten, gereinigt und dort ausgeschnitten, wo sie verschimmelt, verdreckt und ungenießbar geworden waren. Fast überall hatten sie die Planken, Spanten und Fächer mit Seewasser gescheuert.

 

Salz kristallisierte auf dem trocknenden Holz aus, die Kristalle funkelten im Flackerlicht wie kostbarer Staub. Hier jedenfalls war der üble Geruch verschwunden. Die Speckseiten hingen leicht schaukelnd an den Holzpflöcken.

Graham Lilley tauchte plötzlich in der Kombüse auf, stemmte die Fäuste in die Seiten und schnupperte.

„Riecht verdammt gut“, sagte er. Mittlerweile brannten weitaus mehr Lichter in der Kombüse. Er konnte ohne Schwierigkeiten sehen, daß eine Sauberkeit wie im Haus seiner Mutter herrschte. Aus dem großen, frisch gescheuerten Kessel stieg Dampf auf, der das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Er schmeckte nach Fett, Fleisch, nach Gemüse und gutem Gewürz. „Für die Mannschaft oder die Passagiere?“

„Für alle“, war die schnippische Antwort. „Auch für den Kapitän. Er hat es verlangt.“

Zwei Männer verließen die Proviantlast und schleppten ein halb mannsgroßes Faß. Es war angefüllt mit Abfällen und toten Ratten.

Der Erste warf einen Blick hinein, verzog angewidert das Gesicht und sagte: „Über Bord, klar? Und wässert das Faß gut. Laßt euch die Tampen nicht aus der Hand reißen.“

„Na klar, Sir!“

Der Erste Offizier, alles andere als ein typischer Vertreter von Ehrlichkeit und menschenfreundlichem Verhalten, begriff fast instinktmäßig, daß sich ein kleiner Bereich der Schiffsführung zum Besseren geändert hatte. Obwohl er sah, daß die Proviantlast beängstigend leer geworden war, freute er sich darüber, daß der Koch in der Bilge Ratten fing. Wenn es nach ihm, Lilley, ginge, blieb er bis Virginia dort über dem Kiel.

„Meine Damen“, versuchte er sich in einer höflichen Ansprache, „ich sehe, daß hier ausgezeichnete Arbeit geleistet wird. Wollt ihr weiterhin für uns alle kochen?“

„Ich bin Mary Davids“, antwortete eine stämmige, resolute Frau mit grauem, kurzgeschnittenem Haar. „Und ich sage Ihnen, Mister Lilley, daß es besser so ist. Jede von uns kann besser kochen als euer Schmierfink. Aber Sie wissen, wie schlecht es um die Vorräte bestellt ist?“

„Ich weiß es“, erwiderte er. „Und ich schätze, daß ihr die Vorräte ganz genau in fünfzehn, siebzehn oder sogar zwanzig karge Tagesrationen aufteilen müßt.“

„Dann gibt es Tag für Tag immer weniger, Sir.“

„Das kann nicht einmal Kapitän Drinkwater ändern“, antwortete er wahrheitsgemäß.

„Habt ihr irgendwo noch Wasser? Oder anderes Trinkbare?“ wollte eine andere Köchin wissen.

„Ein paar Fässer Wein, etwas Rum, sonst nicht viel. Der eine oder andere Mann wird wohl einen Krug Wein versteckt haben. Was das heißt, wißt ihr.“

„In den letzten Tagen brauchen wir eine bewaffnete Wache vor der Küche und dem Essenslager.“

„Vor der Kombüse und der Proviantlast“, verbesserte der Erste. „Ich denke daran. Und wenn sich ein Kombüsenhelfer hierher wagt, müßt ihr ihn nicht gleich mit den dicken Holzlöffeln erschlagen.“

Wieder wuchteten einige Männer, von einer Frau angeführt, Abfälle und schmutzige Lumpen, Putzzeug und schwärzliches Seewasser aus den Kammern der Proviantlast. Abermals sah der Erste ein, daß von Anfang an für die Kombüse eine solche Lösung vorteilhafter gewesen wäre. Frauen waren also doch die besseren Köche.

Was für ein Schiff voller Auswanderer möglich war, sagte sich der Erste mit innerlichem Grinsen, würde auf keinem anderen Schiff geduldet werden. Es blieb völlig undenkbar.

„Seid ihr fertig mit der Rattenjagd?“ brüllte er in die Proviantlast.

„In einer halben Stunde, Sir“, tönte es zurück.

„Wann ist die Suppe fertig?“

„Wenn hier endlich Ruhe herrscht“, sagte die grauhaarige Meisterin der Kombüse. „Wenn Sie uns jetzt entschuldigen würden, Mister?“

„Ich weiche der Gewalt“, brummte Graham Lilley und stapfte davon. Nach zwei Dutzend Schritten befand er sich schon wieder in einem anderen Mittelpunkt des Rennens, Hastens und Geschreis. Die Abenddämmerung glitt unmerklich in die Schwärze der Nacht hinüber, die Hecklaterne, das Buglicht und ein paar kleine Lampen in den Wanten wurden angezündet.

Unentwegt hievte eine Gruppe von Seeleuten, denen die kräftigsten Männer aus den Kammern der Auswanderer halfen, Pützen voller Seewasser an Deck und kippte Dreckwasser außenbords. Immer wieder erschien jemand auf der Kuhl und schleuderte tote Ratten, oft zuckten sie noch im Todeskampf, nach Lee über Bord. Der Erste schritt langsam nach achtern und fand Drinkwater im Kartenraum.

Bisher hatten sich weder die Kraft des Windes noch seine Richtung oder die Höhe der Wellen verändert. Vermutlich gab es wieder eine einigermaßen ruhige Nacht.

„Ausnahmsweise kann ich eine Handvoll guter Neuigkeiten überbringen, Sir, und bald gibt es ein reichhaltiges, wohlschmeckendes Essen für alle“, sagte der Erste Offizier und ließ sich auf einen Klappstuhl fallen.

„Das Schiff ist rattenfrei?“ fragte James Drinkwater.

„Noch lange nicht. Aber die meisten sind schon totgeschlagen und über Bord“, antwortete der Erste. „Die Herrschaft der Auswandererfrauen hat angefangen. War auch dringend nötig, Sir, wenn ich meine Meinung sagen darf.“

Drinkwater knurrte undeutlich eine Art Antwort.

„Die Deckswache? Alles aufgeklart?“

„In bester Ordnung, Sir. Auch wenn die Leute etwas verwundert sind. Bisher hielten sie die Landratten für faules, langweiliges Pack. Jetzt haben die Leute eine Aufgabe. Sie prügeln sich förmlich darum, etwas tun zu können.“

„Hoffentlich überlebt die ‚Pilgrim‘ ihre Arbeitswut“, brummte der Kapitän.

Der Erste dachte an die vielen kleinen Ausschnitte einer zielstrebigen Arbeit und hob die Schultern.

„Was sie tun, hilft uns allen“, sagte er schließlich. „Ich unternehme noch einen Rundgang vom Bug bis achtern, dann versuche ich, einen langen und tiefen Schlaf zu tun.“

„Einverstanden. Und ich suche einen bestimmten Punkt. Ich muß heute in der Nacht herausfinden, wie lange ich noch von dem festen Land entfernt bin. Ich finde es heraus, keine Sorge, aber wir sind in den letzten Tagen und Nächten herzhaft hin und her geblasen worden. Gute Verrichtung, Lilley.“

„Danke, Sir. Wünsche ich ebenfalls.“

Sorgfältig schloß der Erste Offizier die Tür hinter sich und zog das Spektiv aus der Tasche seiner langen Jacke. Er suchte die Umgebung ab, so lange es noch Tageslicht gab. Die Schiffe hatten ihre Lichter gesetzt und segelten unverändert in Kiellinie. Die Schebecke des Seewolfes segelte ohne sonderliche Eile an Backbord näher an die „Pilgrim“ heran, die augenblicklich als letztes Schiff in der Linie dahinstampfte.

Der Rudergänger des eigenen Schiffes hielt den Kurs, wie er es gelernt hatte, und alle Segel waren richtig gesetzt und getrimmt. Der Ausguck war unbesetzt. Noch war es sinnlos, einen Mann in die Wanten zu jagen, denn außer Wasser und Wolken gab es nichts zu sehen.

Die Karavelle blieb in der zunehmenden Dunkelheit unsichtbar. Auch der Seewolf hatte Lichter setzen lassen.

Der schwache Lichtschein brachte die dreieckigen Segel zu einem undeutlichen Leuchten.

„Wird wohl wirklich eine ruhige Nacht“, murmelte der Erste und begann den Rundgang, während es unter Deck unverändert rumorte. Als er an einer Luke vorbei ging, roch er den stechenden Rauch, der von irgendeinem Feuer herrührte, mit dem die Aussiedler die Ratten aus den letzten Winkeln herauszutreiben versuchten.

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