Nina und die Sphinxwelt

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Nina und die Sphinxwelt
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Sarah Nicola Heidner

Nina und die Sphinxwelt

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto © Ermolaev Alexandr - Fotolia.com

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Der Brand

Malans Geschichte

Die Sphinxen

In die Sphinxwelt

Herr Rammstein

Rammsteins Haus

Vorbereitungen

Aufbruch

Das Schwarze Loch des Westens

Das Gasthaus

Mr. X und Mrs. Y

Fiola und Andreas

Die Flaschenpost

Der Dschungel

Die Wüste

Der Berg der Furcht

Sebastians Suche

Das Gipfelkreuz

Der Gefangene

Cap

Die neue Muata

Der Brand

„Nina, komm frühstücken, wir sind spät dran!“, rief die immer gehetzte Mutter der zwölfjährigen Nina hoch in deren Zimmer.

„Wir haben noch ganze fünf Minuten!“, stöhnte diese genervt.

„Aber …“, begann ihre Mutter wieder.

„Ja, ich komme sofort“, seufzte Nina. Sie bückte sich und nahm ihre schwarz-weiß gefleckte Katze mit Namen Schneewittchen auf den Arm. „Komm, wir gehen jetzt frühstücken“, flüsterte das Mädchen und kraulte sein Haustier hinterm Ohr.

„Bist du auf dem Weg?“, ertönte die Stimme der Mutter von unten.

„Jaaaaa!“ Nina verdrehte die Augen und hüpfte mit Schneewittchen auf dem Arm die Treppe hinunter in eine gemütliche Küche mit Esstisch, an dem schon ihr Vater, ihre Mutter und ihr zweijähriger Bruder Tobias saßen. „Morgen!“, rief das Mädchen, setzte die Katze ab und nahm am Tisch Platz.

„Sonst bist du doch morgens nie so gut gelaunt“, gähnte Ninas Vater und schmierte Butter auf eine Scheibe Brot.

„Papa!“, sagte sie vorwurfsvoll. „Heute fahren wir doch auf Klassenfahrt an die Nordsee!“

„Stimmt ja“, brummte er und drückte Tobias das Butterbrot in die Hand.

„Marmada! Ich will Marmada!“, krähte der und zeigte auf die Erdbeermarmelade.

Nina reichte sie ihrem Vater, der das Butterbrot noch einmal an sich nahm und einen dicken Klecks Marmelade darauf strich.

„Jetzt seid ihr mich erst mal für zwei Wochen los“, verkündete das Mädchen und aß hastig ein Brot.

„Hast du auch genug warme Sachen eingepackt?“, erkundigte sich Ninas Mutter vorsorglich.

„Es ist Anfang Juni, Mama, nicht Dezember“, entgegnete Nina. Dennoch, der Einwand war berechtigt, denn sie fror eigentlich immer und überall, deshalb liebte sie den Sommer auch so sehr. Auf die Nordsee freute Nina sich trotzdem, sie hoffte nur, dass das Meer auch einigermaßen warm war.

„Und Regenjacken?“

„Hab ich auch. Und falls du vorhattest zu fragen: Ja, Badeanzug und Handtücher, Zahnputzsachen, T-Shirts, Sweatshirts, lange und kurze Hosen, Handy und Fotoapparat habe ich auch dabei.“ Hinter dem Rücken ihrer Mutter verdrehte sie die Augen in Richtung Tobias, der zu kichern begann und sein Brot auf den Tisch schleuderte.

„Dann ist ja gut“, seufzte die Mutter und half ihrem Mann, Tobias das Marmeladenbrot wieder in die Hand zu geben.

Der wiederum patschte darauf und rief: „Ustig, ustig!“

„Das mag lustig sein, Tobias“, sagte der Vater streng. „Dennoch sind es Lebensmittel, und mit denen spielt man nicht.“

„Ich denke, ich geh mal langsam nach oben“, überlegte Nina nach einem kurzen Blick auf die Küchenuhr. Da ihre Eltern immer noch mit Tobias beschäftigt waren, lief sie schnell ins Bad und wusch sich das Gesicht. Sie schaute in den großen Spiegel, der die gesamte vor ihr liegende Wand bedeckte. Ihr blickte ein schlankes Mädchen entgegen, das die schulterlangen, dunkelbraunen Haare zu einem flotten Zopf zusammengebunden hatte. Die Haarfarbe passte perfekt zu den haselnussbraunen Augen, die etwas zu groß für das Gesicht schienen. Es trug eine kurze, weiße Hose und ein knallbuntes T-Shirt.

Nina hatte sich schon fast ein Jahr auf die Klassenfahrt gefreut, eigentlich seitdem die Klasse angefangen hatte, sie zu planen, und war dementsprechend aufgeregt. Grinsend zwinkerte sie ihrem Spiegelbild noch einmal zu und lief dann nach unten. „Ich bin fertig!“, verkündete Nina, während sie durch die Küche in Richtung Garderobe lief, um sich ihre Jacke zu holen.

„Hast du schon die Zähne geputzt?“, fragte nun ihr Vater.

Nina schüttelte den Kopf.

„Dann aber los!“

„Von mir aus.“ Sie lief wieder nach oben ins Bad. Sie konnte nicht gut lügen und wollte es auch nicht. Als kleines Kind hatte sie abends immer behauptet, sie sei nicht müde, doch es hatte so albern geklungen, dass ihre Eltern sofort gewusst hatten, dass es gelogen war. Aus ihrem Mund kam grundsätzlich die Wahrheit, was auch der Grund dafür war, dass manche sie nicht mochten, denn sie sagte ebenso frei heraus, wie sie die neuen Klamotten ihrer Freundinnen fand.

Mit vier Mädchen aus ihrer Klasse machte sie jedoch fast immer etwas zusammen. Da waren Pia, die ein Jahr älter war als Nina, weil sie eine Klasse wiederholen musste, die pferdevernarrte Maria, die manchmal ein bisschen nervte, Mia und Jana. Mia und Jana ärgerten sich die ganze Zeit gegenseitig, was ungefähr so aussah:

„Blödmann!“

„Selber!“

„Gar nicht!“

„Immer dreimal mehr als du!“

„Gummimauer!“

„Ha, zu spät!“

„Stimmt nicht! Immer zehnmal mehr als du!“

„Ich hab’s zuerst gesagt.“

„Überhaupt nicht, Dummerchen!“

„Böse Hexe!“

„Mensch, du hast die Intelligenz eines Flohs!“

„Besser, als wenn man wie du gar keine hat!“

Die anderen mussten immer darüber lachen, was die beiden dann dazu brachte mitzulachen.

„Beeil dich, Nina!“, schreckte die Stimme ihrer Mutter sie aus ihren Gedanken. Sie war in der Tür erschienen und schaute ihre Tochter an. „Nicht träumen sollst du, Zähne putzen. Jetzt musst du nämlich wirklich bald los. Ich hole schon mal deinen Koffer.“

„Ja, gut. Er liegt unter meinem Bett.“ Jetzt griff das Mädchen endlich zu seiner Zahnbürste.

Eine Minute später wollte Nina sich noch von Schneewittchen verabschieden, doch die war verschwunden. Also rasten sie und ihre Mutter zur Bushaltestelle. Gerade als sie ankamen, schlossen sich vor ihren Augen die Türen des Busses. Sie winkten und riefen, doch der Bus fuhr davon.

„Na gut, dann fahr ich dich eben“, meinte Ninas Mutter. Sie rannten zum Haus zurück und setzten sich ins Auto. Nina schlug die Tür zu, und sie fuhren los. Während der Fahrt überholten sie sogar noch den Bus, und als sie vor der Schule hielten, stand dort erst die Hälfte der Klasse und von ihren Freundinnen war nur Mia da.

„Hi!“, begrüßten sie sich, während Ninas Mutter mit der Klassenlehrerin redete und dann schließlich winkend davonfuhr.

„Bist du auch so aufgeregt?“, fragte Mia, die hibbelig auf der Stelle herumhüpfte.

„Klar!“ Nina stellte ihren Koffer ab.

„Mann, ist der schwer“, meinte Mia, die ihn kurz hochhob. „Meiner ist viel leichter. Was hast du denn darin? Etwa Backsteine?“

„Meine Mutter musste mir noch tausend Sachen einpacken: die fünfte Taschenlampe, ein Nachtsichtgerät, Medikamente, mein Taschenmesser und Ähnliches.“ Nina verdrehte die Augen.

„Oh Gott, du Arme.“ Mia unterdrückte ein Lachen. Dann deutete sie an ihr vorbei, weil Jana erschien.

 

„Hi, Nina“, begrüßte das Mädchen sie.

„Hi.“ Nina nickte ihr zu, während sich Jana an Mia wandte.

„Hi, Zimtzicke.“

„Guten Morgen, Zitrone.“

„Wieso Zitrone?“ Verständnislos schaute Jana Mia an.

„Na, weil du so sauer bist wie eine Zitrone – also bitte Abstand zu mir!“

„Du bist so einfallsreich wie eine Spinne, die immer das gleiche Netz spinnt! So dämlich!“, rief Jana und schwang ihren Koffer.

Nina und Mia duckten sich.

„Immer dreimal mehr als du!“ Mia lachte, während Jana schnell antwortete: „Gummimauer!“

„Zu spät“, Mia seufzte theatralisch, „das tut mir jetzt aber leid!“ Plötzlich prustete sie los und Jana und Nina stimmten mit ein.

„Sind jetzt endlich alle da?“, fragte ihre Klassenlehrerin und blickte in die Runde.

Wolken zogen auf und Nina fröstelte. „Mensch, ist das kühl hier.“

„Du bist echt ’ne Frostbeule!“

Von hinten erschienen Maria und Pia. Sie schlugen die Hände zusammen und warteten, bis ihr langweiliger Mathelehrer sie durchgezählt hatte: „Zwei, vier, sechs, acht, zehn, zwölf, vierzehn, sechzehn, achtzehn, zwanzig, zweiundzwanzig, vierundzwanzig, sechsundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig. Ja, alle da, Madam.“

„Wieso nennt er sie bloß immer Madam?“, fragte Pia kichernd, während ihre Lehrerin, Frau Barinkson, in die Hände klatschte. „Schön, schön“, sagte sie und schaute zu ihrem Kollegen Malan, Ninas Englisch- und Sportlehrer, der zugleich auch noch ihr Lieblingslehrer war, und zu Herrn Pikk, ihrem Mathelehrer, der bei der Klasse reichlich unbeliebt war, was an seiner nervösen Art lag, aber auch dem Fach, das er unterrichtete.

„Gut, alle da. Jetzt fehlt nur noch der Bus.“

Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis der große Doppeldeckerbus endlich vor dem Schultor hielt und ein kleiner Mann mit einer Zigarette im Mundwinkel heraussprang.

„Sie sind zu spät“, sagte Frau Barinkson mühsam beherrscht und jede Silbe betonend. „Der Bus sollte um Punkt acht Uhr hier stehen!“

„Jetzt ischt’s eben ein bissel später geworden“, brummte der Busfahrer und zuckte mit den Schultern. „Also – wenn Sie’s so eilig hab’n, steig’n Sie jetzt ein oder net?“

„Der wankt ja sogar ein bisschen. Vielleicht ist er betrunken“, flüsterte Maria, während die fünf sich in die lange Schlange einreihten. „Guten Morgen“, grüßten sie Herrn Malan, als der an ihnen vorbeizog, um als Erster einzusteigen.

Er nickte ihnen lächelnd zu.

Pia, die sich als Erste eingereiht hatte, versprach, einen Sechsersitz freizuhalten.

„Das dauert ja noch ewig“, stöhnte Jana gerade, als sich die Schlange in Bewegung setzte.

Und doch ging es nun recht schnell. Sie verstauten ihre Koffer im Gepäckfach im Bauch des Fahrzeuges, schulterten ihre Rucksäcke und stiegen nacheinander in den Bus. Eine Hitzewelle schlug ihnen entgegen.

„Wir haben Sommer, nicht Winter“, murrte Jana, die hinter Nina stand. „Wie wär’s mal mit einer Klimaanlage?“

Es gab einen kleinen Stau, weil die Jungen sich nicht entscheiden konnten, wie sie sich aufteilen sollten, aber schließlich entschied es einfach Frau Barinkson. Dann fand Pia einen freien Platz für sich und ihre Freundinnen. Als sie sich in einer Sechserreihe auf einen Sitz fallen ließen, zogen sich alle außer Nina, die es im Bus nicht zu warm fand, die Jacken aus.

„Na, Mädels?“ Tom, einer der Obermachos, streckte ihnen die Zunge raus und ließ Abfall aus seinem Rucksack auf sie regnen. Leere Papiertüten, klebrige Kaugummis und faulige Äpfel prasselten auf ihre Köpfe. Schnell rannte er weg, doch Nina sprang auf und lief ihm nach, den Müll, den sie aufgefangen hatte, in der zur Faust geschlossenen Hand. Da sie ziemlich schnell rennen konnte, holte sie Tom nach wenigen Schritten ein, riss ihn an seinem T-Shirt zurück und stopfte den Müll in seinen Kragen.

„Iiiiihh!“, beschwerte der sich, doch Nina war schon wieder zurückgelaufen und die Mädchen lachten über Tom.

„Bitte ma herhörn!“, sagte der Busfahrer, als alle einen Platz gefunden hatten. „Isch bin der Herr Raschon. Im Bus kein Essen, kein Trinken, keine ’andys oder andere elektronischen Geräte. Kapito?“ Einen Moment lang paffte er seine Zigarette und verkündete dann: „Und kein lautes Geschwätz, das kann isch nämlich net ausstehen.“

„Der ist ja fast schlimmer als Herr Pikk“, sagte Maria augenrollend und deutete nach hinten, wo ihr Mathelehrer Platz genommen hatte. Er trug Anzug und Krawatte, hatte sich seine Brille bis auf die Nasenspitze geschoben und löste mal wieder Rechenaufgaben auf seinem Block.

„Aber auch nur fast! Die beiden unterscheiden sich in etwa wie Jana und Mia.“ Nina grinste.

Die Fahrt ging los und die frühe Morgensonne schien in den Bus. Nina blinzelte in die Helligkeit und lehnte sich zurück. Sie schloss die Augen und ließ die Sonne, die durch die Fenster schien, ihr Gesicht wärmen. Jetzt ging es auf Klassenfahrt! Zwei wundervolle Wochen Jungs ärgern und Faulenzen, Baden gehen, Volley-, Hand- und Fußball spielen lagen vor ihr – und natürlich Zeit zu quatschen, quatschen, quatschen. Außerdem hatte sie sich fünf Bücher mitgenommen, denn viel Programm stand nicht auf dem Plan, schließlich war Frau Barinkson nicht sehr fantasievoll. Nina freute sich aber nicht nur, weil sie auf Klassenfahrt waren, sondern auch wegen ihres dreizehnten Geburtstags in ein paar Tagen! Die Mädchen hatten deshalb – verbotenerweise – ganze Vorräte an Süßigkeiten in den Koffern verstaut.

„Wie lange fahren wir noch?“, fragte Jana.

„Das fragst du jetzt schon?“ Mia kicherte. „Also wirklich! Ohne Stau fahren wir, schätze ich mal, knappe zwei Stunden.“

„Oh nein!“, stöhnte Jana.

„Busfahrtmuffel“, kommentierte Mia.

„Wer’s sagt, ist’s selber!“, gab das Mädchen zurück.

„Nicht jetzt! Ich will schlafen“, stöhnte Maria, die sich zurückgelehnt hatte und die Augen geschlossen hielt, und Mia verkniff sich eine weitere Bemerkung.

Da es auch im übrigen Bus still war, schwiegen sie. Die Jungen spielten leise Karten, aber die meisten Klassenkameraden versuchten zu schlafen. Das frühe Aufstehen machte den Schülern zu schaffen.

Nun lehnte sich auch Nina nach hinten und schloss die Augen. Ihren Rucksack hatte sie neben sich gestellt. Wie die Jugendherberge wohl sein würde? Sie versuchte sich an die Unterkunft während der Klassenfahrt in der dritten Klasse zu erinnern. Ein großes Gebäude, mehrstöckig, mehrere kleine Anbauten, ein großer Garten …

Plötzlich machte es laut: „Miau!“

Einige drehten sich zu Nina um, denn es war ihr Rucksack, aus dem das Geräusch gekommen war. Schläfrig öffnete Tom sein rechtes Auge und linste zu den Mädchen herüber.

Wieder: „Miau!“

„Nina Steller!“, ertönte die unheilverkündende Stimme der Klassenlehrerin. „Herr Raschon, halten Sie bitte den Bus an!“

Der Busfahrer bremste und fuhr auf den Standstreifen der Autobahn.

Frau Barinkson stand auf, schritt zügig den Gang entlang und blieb vor Nina stehen. „Rucksack!“, verlangte sie.

Kleinlaut gab Nina ihr das Gewünschte. War Schneewittchen wirklich darin? Aber dann war sie wohl allein reingesprungen!

Frau Barinkson packte die Katze und hob sie aus dem Rucksack. „Miau“, machte Schneewittchen kläglich und zappelte.

„Zum Zurückfahren ist es jetzt zu spät. Aber das wird noch Folgen haben, Nina!“, versprach die Klassenlehrerin und drückte ihr die Katze in die Hand. Schneewittchen schmiegte sich zufrieden in Ninas warme Hände und schloss die Augen.

Der Bus setzte sich wieder in Bewegung. „Sie muss unbemerkt reingesprungen sein“, verteidigte sich Nina leise und zuckte mit den Schultern, als ihre Freundinnen sie halb überrascht, halb grinsend anschauten. „Mensch, was hast du mir da nur eingebrockt?“, fragte sie und streichelte ihrer Katze das Fell. Doch die schien sich gar nicht darum zu scheren, was für einen Aufruhr sie gerade veranstaltet hatte.

„Das schaffst auch wirklich nur du“, grinste Mia.

„Ich hätte Missi auch gern dabei.“ Maria schaute verträumt. „Ja, ich vermisse sie jetzt schon. „Ihr weiches Fell, das leise Wiehern …“

„Schon gut, Maria“, sagte Jana, die Pferde von ihnen am wenigsten ausstehen konnte. „Wir wissen es.“

Maria drehte sich beleidigt weg.

„Ich bin müde“, gähnte Pia. „Ich glaube, ich schlafe ein bisschen.“

„Ja, das mach ich auch“, stimmte Mia ihr zu.

Auch die anderen lehnten sich wieder zurück und schlossen die Augen. Nur Nina grübelte noch eine Weile. Ihr war schleierhaft, wie Schneewittchen in ihren Rucksack gekommen sein sollte. Sie hatte ihn doch zugemacht!

Später spielten sie – leise, weil Pia schlief – „Wahl, Wahrheit oder Pflicht“ und hörten erst auf, als Jana sich auf ihren Sitz stellen und „Alle meine Entchen“ singen musste.

„Sind wir denn hier im Kindergarten?“, empörte sich Frau Barinkson. Die gesamte Klasse lachte.

„Jana – sofort runter von dem Sitz!“

Verlegen grinsend beendeten sie das Spiel und entschuldigten sich bei Frau Barinkson. Nur Pia, die durch den Lärm aufgewacht war, brummte missmutig etwas vor sich hin und drehte ihren Kopf zum Fenster, um weiterzuschlafen.

Die nächste Stunde verbrachten sie mit verschiedenen Spielen wie „Ich sehe was, was du nicht siehst“, die zwar auch nicht gerade ihrem Alter entsprachen, aber ein guter Zeitvertreib waren.

Irgendwann musste Nina wohl eingeschlafen sein, denn sie erwachte, als Mia ihr vorsichtig in die Seite boxte. „Wir stehen schon seit fast einer Stunde im Stau“, jammerte sie. Gähnend schaute Nina aus dem Fenster – tatsächlich.

Der Bus hatte angehalten, sie standen im Stau. Pia und Maria schliefen, nur Jana döste und kraulte dabei Schneewittchen, die, während Nina geschlafen hatte, wohl zu ihr auf den Arm gekrochen war. Neben dem Bus hupten Autofahrer wie wild und schrien aus den Fenstern, sie hätten es eilig.

Plötzlich traf Nina von hinten ein Papierkügelchen am Kopf. Sie hob es auf und drehte sich zu Tom um, der ihr zuzwinkerte.

„Haha!“, sagte sie tonlos und entfaltete das Blatt Papier. Als sie es gelesen hatte, weckte sie auf der Stelle ihre schlafenden Freundinnen.

„Was’n?“, stöhnte Jana genervt, aber die anderen hörten Nina aufmerksam zu, als sie laut vorlas: „Wir schlagen euch einen Tausch vor: Zehn Euro – und wir lassen euch in Ruhe. Wir kennen da zwei Damen und einen Herrn, die Nina nicht mögen. Wenn wir die zehn Euro innerhalb von drei Tagen nicht bekommen, könnte es sein, dass wir den dreien – natürlich nur aus Versehen – sagen, wo sie steckt.“ Sie machte eine kurze Pause und fügte dann lachend hinzu: „Na, das ist ja mal ein fantasievoller Scherz!“

Maria und Pia lachten schallend und Maria prustete: „Mensch, die sind echt besser geworden! Wisst ihr noch, letztes Jahr am Wandertag haben sie behauptet, ein paar Kühe hätten ihre Süßigkeiten gefressen und wir müssten ihnen neue kaufen.“

Mia nickte. „Zu viel Fantasie“, meinte sie.

Jana war gerade eingeschlafen.

Sogleich schrieben die Mädchen einen Brief zurück: „Ihr habt zu viel Fantasie. Zehn Euro – nein danke. Und wenn ihr wirklich jemanden kennt, der Nina etwas antun will, sind wir alle zusammen der Kaiser von China! Ihr seid echt nicht mehr ganz dicht! PS: Denkt an die Kühe!“

Pia faltete den Zettel und warf ihn in Richtung der Jungen, die ihn begierig öffneten. Anscheinend schienen sie nicht zufrieden zu sein, eine Reaktion kam aber auch nicht.

Den Rest der Fahrt verbrachten sie halb schlafend, halb redend und sie rätselten nebenbei, wie klug Schneewittchen war, wenn es ihr gelungen war, unbemerkt in den Rucksack zu springen.

Die Jugendherberge bestand aus vielen kleinen Bungalows, für jede Klasse einen. Nina und ihre Klasse wohnten in Haus zwölf und Nina, Mia, Pia, Jana und Maria teilten sich ein Zimmer. Sie warfen nur schnell die Koffer in die Ecken und trafen sich kurz darauf mit der ganzen Klasse auf dem Volleyballfeld. Sie teilten sich in Mannschaften ein und begannen zu spielen.

Am Abend gab es ein Lagerfeuer mit Stockbrot und um zehn Uhr mussten sie im Bett liegen. Dann aßen sie ein paar Süßigkeiten, schrieben SMS und schickten sie an die Jungen im Nebenzimmer, die sogleich antworteten. So ging es eine Weile hin und her, bis sie müde wurden und ihre Handys weglegten. Nina kraulte Schneewittchen, die zusammen mit ihr im Bett lag. „Wieso bist du bloß mitgekommen, hm?“ Erst begann Schneewittchen zu schnurren, dann wand sie sich aus Ninas Armen und raste zur Tür, die einen Spalt breit offen war, damit ein bisschen Licht vom Flur hereinfiel.

 

„Schneewittchen! Komm zurück!“, zischte Nina, aber die Katze war schon verschwunden. Unschlüssig stand Nina auf. „Jana? Mia? Pia?“, fragte sie leise. „Maria? Seid ihr wach?“ Aber es kam keine Antwort. Nina tastete nach ihren Hausschuhen, schlüpfte hinein, quetschte sich durch die Tür und durchquerte den Flur. Gerade als sie an der Tür zum Zimmer der Lehrer vorbeikam, hörte sie von dort gedämpfte Stimmen. Erstaunt drehte sie sich um. Eigentlich tat sie so etwas nicht, doch von einem Impuls gelenkt trat sie an die Tür, legte das Ohr an das milchig schimmernde Glas und lauschte.

„... die Neue …“, hörte sie eine tiefe Männerstimme sagen, die, wie Nina überrascht feststellte, Herrn Malan gehörte.

„... noch nicht so weit …“, war eine hohe Stimme zu hören.

„... keine Zeit mehr …“, sagte ihr Lehrer ruhig.

Die Frauenstimme flüsterte etwas, das das Mädchen nicht verstand.

„Nein!“, antwortete Herr Malan laut. „Dass kann nicht sein, Blyn. Du musst dich täuschen. Es kann nicht ihre Bestimmung sein …“

„Sch...!“, unterbrach ihn die Frauenstimme. „Ich kenne sie besser als du, erzähl keinen Unsinn.“

„Dann ist sie also nicht nur die Neue, sondern auch die Auserwählte.“ Herr Malan seufzte.

„Der wievielte ist heute?“

„Wie bitte?“, fragte Herr Malan, der anscheinend nicht zugehört hatte.

„Ich habe gefragt, welches Datum wir haben“, wiederholte die Frau mit einem leicht ungeduldigen Tonfall.

„Es ist der siebte Juni, wieso?“, antwortete Ninas Lehrer.

„Das tut nichts zur Sache.“

Nina war inzwischen wie erstarrt. Was ging dort vor? Wovon redeten die beiden? Und noch viel wichtiger: Wer war diese Frau?

„Dann hat sie ja nur noch … bist zum einundzwanzigsten, Jan, rechne mal bitte.“

„Du warst noch nie gut in Mathe.“

Nina konnte geradezu sehen, wie Herr Malan nett lächelte, so als wenn er in ihrer Klasse unbegabten Mathematikkünstlern wie ihr zum vierten Mal ein und dieselbe Sache erklären musste und dabei nicht die Geduld verlor. „Vierzehn Tage hat sie noch, Blyn. Und das sind ganze zwei Wochen.“

„Aber dann sieht das arme Kind ja seine Eltern nicht mehr, bevor … bevor es in die Welt eintaucht“, stöhnte Blyn.

„Leider“, sagte Herr Malan mit ernster Stimme, die Nina von ihm gar nicht gewohnt war.

Stühle wurden gerückt und Nina löste sich aus der Starre, stolperte nach hinten und rannte, während die Tür mit einem leisen Quietschen aufging, zurück in ihr Zimmer. Sie konnte das Gespräch nicht nachvollziehen. Aber sie ahnte, dass es nicht gut war, was die beiden besprochen hatten. Nina war froh, dass sie nichts mit all dem zu tun haben würde.

Sie konnte ja nicht wissen, wie sehr sie sich täuschte.

Schnell schlich sie in ihr Zimmer zurück, kletterte in ihr Bett und beschloss, morgen nach Schneewittchen zu suchen. Es dauerte lange, bis sie endlich einschlafen konnte, und dann träumte sie einen wirren Traum von Herrn Malan, der mit ihrer Katze sprach, die plötzlich Blyn hieß.

„Wir machen einen Ausflug“, verkündete ihre Klassenlehrerin, als sie sich nach dem Frühstück draußen auf der Wiese im Schatten einer großen Eiche – denn es war trotz der frühen Stunde sehr heiß – zusammengefunden hatten, „den Herr Malan organisiert hat.“

„Hätte mich auch gewundert, wenn sie das getan hätte“, flüsterte Jana und die anderen Mädchen kicherten.

„Girls …“, seufzte Dirk, einer der Jungen mit hoher Stachelfrisur, und verdrehte die Augen.

„Wir gehen zum Hafen und fahren von dort auf die nächstgelegene Insel, die wir in kleinen Gruppen erkunden werden.“

„Jippie!“, riefen Nina und Mia gleichzeitig und sprangen in die Luft.

Auch die übrigen Klassenkameraden freuten sich riesig.

„In einer halben Stunde geht es los, macht euch also schon einmal fertig und nehmt Wasser und Proviant mit!“, meldete sich Herr Malan zu Wort.

Als Nina ihren Lehrer sah, erinnerte sie sich wieder an die Ereignisse der letzten Nacht. Sie schauderte.

Doch Jana riss sie aus ihren Gedanken: „Komm, Nina. Machen wir uns fertig.“

„Und ich?“, protestierte Mia.

„Tut mir leid“, sagte Jana. „Mit Blondinen rede ich nicht.“

„Ich bin auch blond“, protestierte Nina.

„Aber nicht dämlich“, verbesserte Jana sie.

„Ich bin zehnmal klüger als du! Nimm dich lieber in Acht!“, warnte Mia.

„Was machen zwei Blondinen, die Strohballen hin und her werfen? – Gedankenaustausch! Soll ich dir auf dein Strohballenhirn spucken?“

„Nein, igitt! Ich spuck dich zuerst an!“

„Immer zehnmal mehr als du!“

„Gilt nicht!“

„Wohl!“, rief Jana laut.

Die beiden kabbelten sich den ganzen Weg von der Wiese bis hin zu ihrem Bungalow. Erst dort gaben sie endlich Ruhe.

„Cool!“, rief Maria. Sie, Jana, Pia, Mia und Nina standen nebeneinander an der Reling der großen Fähre, die sie zur benachbarten Insel bringen sollte, und der Fahrtwind zerzauste ihnen das Haar.

„Denkt ihr, wir sehen Delfine?“, fragte Pia und stellte sich auf die Zehenspitzen, um nach unten auf die Gischt blicken zu können.

„Brr!“, machte Nina, als ihr die Wassertropfen ins Gesicht klatschten.

„Dir ist doch jetzt nicht kalt?“, fragte Maria, denn alle trugen nur T-Shirts und Shorts und keiner außer Nina fror.

„Frostbeule“, meinte Jana, als Nina aufstand und in die Mitte des Sonnendecks ging, wo die ganze Klasse die Rucksäcke hingestellt hatte. Sie holte sich eine rote Strickjacke, zog sie an und kehrte wieder zu den anderen zurück, um den Wind und die frische Seeluft zu genießen.

Delfine sahen sie zwar nicht, aber als sie ankamen, durften sie in Gruppen den Strand erkunden. Sechs Jungen hatten sich die Erlaubnis geholt, die Stadt hinter den Dünen zu erkunden und waren bald verschwunden. Die Mädchen schlenderten eine Weile am Strand entlang, gingen dann aber auch in Richtung Stadt und ließen sich neben einem Holzweg, der zur Stadt führte, auf einer Wiese nieder. Sie legten sich ins trockene Gras und blinzelten in die Sonne.

„Wie schön kann das Leben sein!“, seufzte Jana und streckte sich. „Wäre da nicht noch diese Mia!“

„Na warte!“, rief Mia und eine Sekunde später wälzten sich die beiden auf dem Gras hin und her, sodass ihre Kleidung einen grünlichen Ton annahm.

Maria, Pia und Nina sahen lachend zu, wie mal Mia, mal Jana oben war und die beiden langsam, aber sicher, dem Strand immer näher kamen. Kurz darauf verfolgte Mia Jana über den Holzweg, und dann waren die beiden wieder am Strand verschwunden.

„Ich wette, bald landen die im Meer“, kicherte Pia.

„Ich hatte euch gewarnt“, sagte eine vertraute Stimme hinter ihnen.

Die drei Mädchen fuhren herum und erblickten Tim, der zwischen zwei Frauen und einem Mann stand.

Nina schluckte, die Drohung im Bus hatte sie völlig vergessen! Die drei Fremden waren ganz in Schwarz gekleidet, mit dicken Regenmänteln und dunklen Kapuzen. Das wäre selbst ihr zu warm geworden! Sie schreckte zusammen, als ihr auffiel, dass alle an ihrem Gürtel ein langes Schwert trugen und in der Hand einen Dolch hielten.

„Was … was soll das?“, fragte Maria und sie versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

„Schweig, Menschenmädchen!“, sagte der rechts stehende Mann mit einer so gefährlichen Ruhe in der Stimme, dass Pia einen Schritt zurücktrat und den Kopf senkte.

Maria tat es ihr gleich.

Nur Nina musterte die beiden Frauen und den Mann immer noch, ohne eine Spur von Angst zu zeigen. Natürlich fürchtete sie sich, doch sie hatte gelernt, das Ziehen in der Magengegend nicht zu beachten und die schlotternden Glieder zu verbergen. Außerdem war sie – aus welchem Grund auch immer – wütend auf diese Menschen, die hier so einfach aufgetaucht waren. Aber Hilfe war nicht in Sicht, die Lehrer waren weit weg und Jana und Mia waren inzwischen wahrscheinlich schon ins Meer gekugelt.

„So, ihr beiden“, sprach der Mann und trat auf Maria und Pia zu, die schnell noch einen Schritt zurück machten. „Ihr dreht euch jetzt um und kniet euch auf den Boden.“

Mit banger Miene blieben die beiden stehen.

„Wird’s bald!“, forderte die links stehende Frau. Ein paar Spitzen ihrer roten Haare lugten unter der Kapuze hervor und sie schob sie energisch wieder nach hinten.

Die zweite Frau hob den Dolch. „Hier soll niemand unnütz verletzt werden, Kinder. Also tut, was ich euch sage.“ Ihre Stimme klang kalt und fuhr den Mädchen wie Eis zwischen die Glieder.

Als Pia und Maria sich immer noch nicht dazu durchgerungen hatten, sich hinzuknien, hielt der Mann den beiden einen Dolch gegen den Rücken und zwang sie so auf die Knie. Die Frau mit den roten Haaren grinste höhnisch.

Nina hatte mit erstarrter Miene zugesehen, doch jetzt trat sie auf den Mann zu und ihre Wut gewann die Oberhand. „Spinnen Sie denn, uns einfach so anzugreifen? Wir haben Ihnen nichts getan!“, rief sie.

Doch ihre Reaktion war nicht sehr geschickt gewesen.

Der Mann beugte sich zu ihr herunter und sie konnte seine unnatürlich gelben Pupillen sehen. „Deine hübschen Freundinnen müssen sich angewöhnen zu gehorchen“, sagte er langsam und deutlich. „Dann tue ich ihnen auch nichts!“

Jetzt trat Tim vor. „Eigentlich dachte ich, Sie machen einen Scherz. Aber das geht wirklich zu weit. Sie haben uns versprochen, sie nur zu erschrecken. Sie – Sie haben gesagt, Sie wollten den Mädchen einen Streich spielen!“

Der Mann lächelte immer noch und winkte der Frau neben ihm zu, die daraufhin den Jungen mit seinem Dolch zu Boden zwang. „Liegen bleiben“, riet sie, „sonst bekommst du ihn hier zu spüren!“ Sie deutete auf seinen Dolch und grinste genauso grausam wie der Mann.

„Jetzt reicht’s“, sagte Nina und sie spürte, dass der Mann ihr nichts anhaben konnte. „Jetzt reicht’s endgültig!“ Sie wusste nicht, wieso sie es tat, doch sie hob ihre Hände und ließ ihrer Wut freien Lauf. Ihre Sicht war verschwommen. Vor ihren Augen tanzten rote Punkte. Dann wurde ihr kalt und sie begann zu zittern. Mit blauen Lippen fiel sie ins Gras. Sie wollte noch nach den Männern schauen, aber da wurde ihr schon schwarz vor Augen.

Weitere Bücher von diesem Autor