Kind der Sterne

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Kind der Sterne
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Sandra Thurm

Kind der Sterne


Sandra Thurm

Kind

der

Sterne


Impressum


1. Auflage 2017

© Spirit Rainbow Verlag

UG haftungsbeschränkt

www.spirit-rainbow-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Gestaltung, Druck und Vertrieb:

Druck- & Verlagshaus Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.verlag-mainz.de

Abbildungsnachweis (Umschlag):

Natalie Beckers im Auftrag des Verlaghaus Mainz

Print:

ISBN-10: 3-940700-78-9

ISBN-13: 978-3-940700-78-0

e-Book:

ISBN-10: 3-948108-26-9

ISBN-13: 978-3-948108-26-7


Kind der Sterne

Liebe dein Leben,

Deine Fantasie,

Liebe dein Herz und

Liebe dich selbst,

Liebe dein Leben,

Du bist jetzt hier,

Geliebtes Kind Gottes,

In den Armen bei mir,

Sei wie du bist,

Den Anderen zum Trotz,

Sei wie du bist,

Lass dich ruhig fallen,

Du bist wie du bist,

Gewollt von Gott,

Du bist wie du bist,

Ein leuchtender Stern.

(Gedicht von Erzengel Gabriel)

1

Vorwort

Ich war jahrelang damit beschäftigt, mein Leben vor den Menschen zu retten, die es mir zerstören wollten. Ich bin von Geburt an medial begabt und kommuniziere mit den Engeln. In meinem Leben erlebte ich viele Höhen und Tiefen mehr Tiefen als Höhen. Erst in den letzten Jahren lernte ich eine Welt kennen, in der sich die Menschen füreinander einsetzen und sich gegenseitig helfen. Die geistige Welt unterstützt mich dabei, beide Seiten des Lebens kennenzulernen. Ich lernte die dunkelsten Seiten des Lebens kennen, in denen ich alles verlor und lebte sogar eine Zeit lang ohne einen festen Wohnsitz.

Dank vieler Menschen und der Kraft Gottes – mit seinen Engeln, die mir auf meinem Weg begegneten – habe ich es geschafft, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Heute kann ich an meinem Laptop Bücher schreiben. Ich lebe meinen Traum und bediene mich aller meiner Fähigkeiten. Dafür habe ich gekämpft und viel durchstehen müssen. Das ist nur ein Grund, weshalb ich diese Geschichte geschrieben habe. Genauso wie in meinem Leben, gibt es hier tiefe und erschreckende Abgründe, aber auch helle und strahlende Momente. Vor allem in den Zeiten, in denen Gott und die Engel deutlich ins Leben treten und einen Menschen aus dem Abgrund befreien.

Dank dieser wunderbaren Wesen durfte ich Heilung erfahren und diesen Schatz möchte ich nun weitergeben. Der Schmerz gehört der Vergangenheit an. Ich darf bei allem natürlich nicht die Menschen vergessen, mit deren Hilfe ich es geschafft habe, endlich meinen vorherbestimmten Weg gehen zu können. Dazu gehören die Personen, die mir Nahrung, Kleidung und ein Bett zum Schlafen gegeben haben in den Zeiten, in denen ich hilflos und wohnungslos war.

Mein Dank gilt Gisela, die mich aufgenommen hat wie eine Mutter, nachdem ich meine Familie verloren hatte. Ich möchte mich auch bei den Menschen bedanken, die mich annehmen wie ich bin, mit all meinen Eigenarten und die nicht wegrennen vor meinen besonderen Gaben. Ich danke den Personen, die mir ihr Vertrauen und ihren Glauben schenken. All das ist nicht selbstverständlich. Für mich sind sie ganz besondere Menschen. Ich möchte außerdem denjenigen danken, die jeden Tag ehrenamtlich mit ganzem Herzen anderen helfen, die in Not geraten sind. Mein größter Dank gilt den Menschen, die dieses Buch lesen wollen und sich einer ungewöhnlichen und manchmal unheimlich fantastischen Geschichte öffnen wollen. Alles führt am Ende zum Licht – selbst der dunkelste Weg.

»Alles wird gelenkt von Gott.

Der Sinn des Lebens liegt darin, das zu erkennen.

Der Weg, den ein Mensch geht,

dient dazu, ihm seine Stärken zu zeigen.«

Erzengel Gabriel

2

Der Beginn eines zweiten Lebens


Sarah stand an einem eisigen Mittag im Januar am Bahnhof und wartete auf eine entscheidende Auskunft. Musste sie wieder zurückgehen zu ihrem Ehemann? Sie konnte nicht mehr umkehren. Es war für sie unmöglich. Sie wusste: wenn sie wieder zu ihm zurückkehrte, dann würde man sie festhalten und nie wieder gehen lassen. Sie wäre verpflichtet, sich für den Rest ihres Lebens ihrem Mann zu unterwerfen. Er und seine Familie wollten sie in der Vergangenheit gefügig machen. Diese Menschen hätten dann alle Macht, um Sarahs Leben endgültig zu zerstören. Für sie war klar, dass sie diesen Weg weitergehen musste, egal wie schwer er auch werden würde.

Endlich drehte sich die Frau der Bahnhofsmission um und gab ihr den Telefonhörer. Am anderen Ende der Leitung sprach eine Frau, die mit ihr einen geheimen Treffpunkt vereinbarte. Sarah nahm ihre wenigen Habseligkeiten, die sie in der Eile bei ihrer Flucht mitnehmen konnte und folgte den Anweisungen dieser Frau.

In einer fremden Stadt trafen sie sich. Die Dame war mittleren Alters, hatte dunkle Haare und ein sehr liebevolles und sanftes Gesicht.

»Mein Name ist Evelyn Volk. Bitte folgen sie mir«, sagte sie.

Sie ging mit ihr durch ein paar kleine Gassen und Straßen, bis sie an einem Haus angekommen waren, in dem Sarah für eine Weile Zuflucht finden konnte. Sie gingen ins erste Stockwerk. Sarah wurde in ein Zimmer gebracht, dass mit vier Betten ausgestattet war. »Sobald eine Familie kommt, müssen Sie dieses Zimmer verlassen. Aber bis dahin dürfen Sie hier schlafen«, sagte Frau Volk und verließ den Raum.

Sarah legte ihre Tasche ab und weinte bitterlich. Einerseits war sie froh, dass sie einen Platz zum Schlafen hatte. Sie musste in der Winterzeit nicht in der Eiseskälte auf der Straße übernachten und besaß genug Lebensmittel, um nicht zu verhungern. Andererseits war sie unendlich traurig darüber, dass es so weit hatte kommen müssen.

In den letzten Jahren hatte sie alle Menschen verloren, die ihr etwas bedeuteten. Sie waren nicht gut zu ihr, dennoch empfand sie Liebe und Trauer für diese Menschen. Sarah war schon sehr lange auf der Suche nach einem Ausweg, um sich aus allen schlimmen Lebenslagen zu befreien, in die sie geraten war. Es gab für sie keine andere Möglichkeit, als im passenden Moment zu flüchten. Dafür gab es nur ein kleines Zeitfenster.

Sie hatte schnell ein paar wenige Dinge einpacken können, die in eine kleine Sporttasche passten. Sie durfte auf keinen Fall auffallen. Niemand sollte Verdacht schöpfen, dass sie nie wieder nach Hause zurückkehren würde.

Sarah legte sich ins Bett und verkroch sich unter der Decke. Die Flucht war sehr anstrengend für sie gewesen. Als sie ging, musste sie sich ständig umsehen, ob ihr jemand folgte. Sie wollte nicht gegen ihren Willen fest­gehalten werden. Sarah hatte immer noch Angst davor, in diese Hölle zurückzukehren, aus der sie geflohen war. Sie wickelte sich noch mehr in ihre Decke ein und weinte. Als sie so da lag, spürte sie, wie jemand die Arme um sie legte. Das Wesen, das sie berührte, war unsichtbar für sie, doch sie spürte eine angenehme Wärme und bemerkte, dass jemand bei ihr war, der sie trösten wollte.

3

Erinnerungen an vergangene Tage


Sarah wurde am Meer geboren. Sie lebte als Kind auf einer schönen Insel im Norden von Deutschland. Der Hafen lag direkt auf der anderen Straßenseite vor ihrer Wohnung, in der sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester lebte Er war nur ein paar Schritte entfernt. Die Dünen und das Meer konnte man vom Fenster aus beobachten.

Sie war gerade ein Jahr alt, als ihr Vater sich von ihrer Mutter scheiden ließ. So lebte sie mit ihrer älteren, geistig behinderten Schwester Margit und ihrer Mutter Mathilda alleine. Mathilda konnte nicht damit leben, dass sie schon so früh ihre Freiheit aufgeben musste. Sie ließ ihre Kinder des Öfteren allein in der Wohnung und vergnügte sich.

Sarah konnte sich an diese Vergangenheit nur schleierhaft erinnern. Ab und zu sah sie ihre Mutter in Begleitung eines fremden Mannes. Genauso schnell wie er auftauchte, verschwand er auch wieder und sie sah ihn nie wieder.

In Sarahs Kindheit gab es aber auch schöne Momente, auf die sie gerne zurückblickte. Sie erinnerte sich gern an das Meer und an den Strand und dachte von Zeit zu Zeit zurück an die Tage, an denen sie zusammen auf der Fähre nach Dänemark saßen.

Auf dem Schiff gab es die Möglichkeit, zollfrei einzukaufen. Einmal in der Woche erledigte Mathilda dort ihren Einkauf, während Sarah oben an Deck saß, Kakao trank und die Robben auf den Sandbänken beobachtete.

Sie erinnerte sich, wie sie mit ihren Freundinnen in den Dünen spielte und auch daran, wie sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester lange Spazier­gänge unternahm. Je älter sie wurde, umso mehr ließ ihre Mutter sie mit Margit alleine. Sie war erst drei Jahre alt, als ihr aufgetragen wurde, sie solle doch auf ihre Schwester aufpassen. Mathilda verriegelte die Tür und verschwand für viele Stunden. Sarah gab sich alle Mühe, gut auf Margit aufzupassen. Sie hatte einen großen Schutzengel, der sie und ihre Schwester vor dem Schlimmsten bewahrte, denn die Türen innerhalb der Wohnung standen offen und die Kinder hatten Zugang zu vielen gefährlichen Gegenständen. Ihrer Mutter war all das jedoch egal. Sie wollte einfach nur ihre eigene Freiheit bewahren, doch nahm damit zugleich ihren Kindern die Freiheit.

 

Als Sarah diese Verantwortung für sich und ihre Schwester übernehmen musste, war sie noch zu klein, um zu verstehen, was ihre Mutter ihr damit auferlegt hatte. Aber es gab nicht nur diese eine Seite an Mathilda. Da war auch die andere Seite, die liebevolle Seite, die Sarah liebte. Wenn sie sich an ihre Kindheit zurückerinnerte, dachte sie oft an die Zeiten, in denen Mathilda sie auf den Schoß nahm und mit ihr spielte oder ihr eine Geschichte vorlas. Sarah vermisste diese Zeit. Sie bekam viel zu früh die Verantwortung für sich selbst und ihre Schwester auferlegt. Sie wollte am liebsten nur Kind sein und von ihrer Mutter beschützt und geliebt werden.

Die guten Zeiten gingen schnell vorbei und später entzog Mathilda ihr ganz die Liebe. Sie war von der äußeren Erscheinung her eine sehr stämmige Frau, die ihr blondiertes Haar meist schulterlang trug. Sie konnte sehr angsteinflößend und bedrohlich werden, wenn sie wütend war. Wenn Margit nicht hörte, schlug Mathilda auf die Beine des Kindes ein. Genauso verhielt sie sich auch bei Sarah. Es gab nur seltene Momente, in denen Mathilda liebevoll zu ihren Kindern war und sie nicht behandelte, als wären sie nur Ballast für sie.

Sarah versuchte jedoch, diese schönen und guten Momente festzuhalten. Sie dachte oft daran, wie sie manchmal morgens zu ihrer Mutter ins Bett sprang, um mit ihr zu kuscheln. Manchmal dachte sich Mathilda nette Geschichten für sie aus, kitzelte sie anschließend und brachte sie zum Lachen.

In den Zeiten, als Sarah noch an der Meeresküste lebte, sah sie den älteren Kindern beim Lagerbau zu. Mathilda warf Bonbons aus dem Fenster zu den Kindern, die darunter spielten. Die Kinder rannten wild durcheinander, weil jeder gerne ein Bonbon haben wollte.

Sarah genoss auch die Zeiten, in denen sie ihre Oma Heidrun und ihren Opa Friedhelm besuchen durfte. Ihre Oma servierte jedes Mal Löffelbiskuits und Tee. Für die Kinder gab es eine heiße Schokolade. Die Großeltern besaßen einen kleinen Hof. Der Opa hütete die Schafe, während die Oma sich um die Hühner und um die Wellensittichzucht kümmerte. Sarah ließ sich den Spaß nicht nehmen und jagte bei ihrem Besuch der Großeltern die Hühner aus dem Stall über den ganzen Hof. Irgendwann wurde sie von einem Huhn in den Finger gezwickt und hatte von diesem Tag an Respekt vor den Hühnern.

Ab und zu kam auch Opa Friedhelm vorbei und hatte immer eine Tüte Lakritz dabei. Das waren die schönen Momente in Sarahs Leben.

Sarah sollte immer »lieb« sein. Das Wort »Nein« war ein Grund mit ihr zu schimpfen oder sie zu bestrafen. Die Kinder sollten immer ordentlich aussehen. Für Mathilda war es allgemein wichtig, nach außen den schönen Schein zu bewahren, auch wenn hinter der Fassade alles in Trümmern lag. Die gute Meinung der Nachbarn und Bekannten stand immer an erster Stelle.

Margit war von Geburt an geistig behindert und blieb deswegen ihr Leben lang auf dem Stand eines dreijährigen Kindes. Somit waren die Kinder auf demselben Stand, als Sarah das erste Mal auf Margit aufpassen sollte.

Mathilda verlangte von Sarah, erwachsen zu sein. Wenn ihr das nicht gelang, wurde sie bestraft. Für Sarah war die schlimmste Strafe der Liebesentzug. Wenn Mathilda genug von ihr hatte, stellte sie sie einfach in ihr Gitterbett und reagierte nicht mehr auf sie. Sarah wimmerte dann und schrie und versuchte aus dem Gitterbett herauszuklettern. Aber sie schaffte es nicht. Nach einer Weile wurde sie immer müder. Als sie da so lag, beugte sich eine schöne Frau über sie, die wie aus dem Nichts erschien. Sie sang ihr ein Lied vor, um sie zu beruhigen. Mathilda bekam davon nichts mit. Sie saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Irgendetwas schien Sarah und die fremde Frau zu verbinden. Sie wurde ruhig und schlief ein.

4

Teufel oder Engel?


Wenn Oma Heidrun Sarah und Margit besuchte, dann stand Margit im Mittelpunkt. Sarah fühlte sich ausgegrenzt und tat alles, um auch gesehen zu werden.

»Du bist ein kleiner Teufel«, sagte ihre Großmutter.

Mathilda wusste, dass Sarah um ihre Liebe buhlte und wiederholte immer wieder: »Deine Schwester ist ein Engel und du bist der Teufel. Sieh mal, wie lieb sie ist«, sagte ihre Mutter mit einem strengen Gesichtsausdruck. Sarah war traurig darüber. Sie tat doch schon alles, um lieb zu sein. Was sollte sie denn noch tun?

Sarahs Großmutter Heidrun war eine sehr ernste und kühle Frau, ähnlich wie Mathilda. Sie hatte in ihrer Vergangenheit sehr viele schlimme Dinge erlebt und litt noch unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs. Mathilda erzählte ihr, wie Heidrun immer stundenlang im Bett lag und auf keinen Menschen reagierte. Sie praktizierte Liebesentzug genauso bei ihrer Tochter so wie Mathilda es mit Sarah tat. Dieses Verhalten wurde einfach von einer Generation zur anderen weitergeführt.

Sarah hatte auch noch einen Onkel namens Klaus, zu dem ihre Mutter jeglichen Kontakt abgebrochen hatte. Dies geschah, nachdem die Großmutter verstorben war und sie sich um das Erbe stritten.

»Onkel Klaus hat sich alles unter den Nagel gerissen! Das verzeihe ich ihm nie!«, sagte Mathilda oft.

Als Sarah fünf Jahre alt wurde, stand Mathilda mit einem fremden Mann vor ihr.

»Sieh mal. Das ist dein neuer Papa. Wir werden umziehen!«, sagte Mathilda.

Sarah wusste nicht, was sie damit anfangen sollte. Ihr tat es weh, dass sie ihre Freunde und ihre Großeltern verlassen musste. Mit dem fremden Mann konnte sie nichts anfangen.

Ein paar Wochen später waren sie auf dem Weg und zogen vom hohen Norden in eine andere Stadt, weit unten in den Süden von Deutschland, ins Schwabenland. Während der Umzugsphase wurde sie bei ihrer Großmutter väterlicherseits abgeliefert und schlief dort für ein paar Tage. Da ihre Oma in Kiel lebte, nannte Sarah sie immer nur »Oma Kiel«. Ihre Großmutter behandelte sie gut. Jahre später erinnerte sich Sarah noch daran, wie sie von ihr ins Bett gebracht wurde. Sie schaltete eine Lampe an, deren Schirm ein paar Schattenfiguren zierten. Ein Mechanismus sorgte dafür, dass sich der Lampen­schirm im Kreis bewegte. Sarah beobachtete, wie die Schatten­figuren an der Wand zu tanzen begannen. Die Zeit, in der sie mit ihrer Großmutter zusammen war, war eine schöne Zeit für sie Sie erinnerte sich daran, dass sie auf einer Mundharmonika ein Lied spielen konnte und wie sehr sich ihre Oma darüber gefreut hatte.

Ihren Vater hatte Sarah erst fünfzehn Jahre später zum ersten Mal gesehen. Mathilda wollte nicht, dass Sarah eine Beziehung zu ihm aufbaute. Sie erzählte davon, wie böse er gewesen sei und was für schreckliche Dinge er ihr angetan hatte. Sarah war deswegen wütend auf ihren Vater und wollte nichts mehr von ihm wissen. Sie liebte ihre Mutter sehr und wollte nicht, dass ihr irgendwer wehtat.

Bevor es in die neue Umgebung weiterging, wurde Sarah von ihren Eltern abgeholt. Alle campierten eine Nacht in einem Wohnwagen. Dieser stand vor einem kleinen Backsteinhäuschen mit Reetdach. Es war dunkel. Die Sterne leuchteten hell am Himmel und ein alter Seemann saß vor dem Häuschen und spielte Akkordeon. Er sang alte Seemannslieder und hatte viele Tätowierungen an seinen Armen. Zu dieser Gesellschaft kam eine Zigeunerin, die sich zu Sarah und ihren Eltern gesellte. Alle sahen und hörten dem Seemann zu. Der alte Mann baute für die kleine Sarah eine Handpuppe aus einer Socke und malte ein Gesicht auf seine Hand. Zu der Zeit sah für Sarah alles noch gut aus. Sie ahnte nicht, wie schlimm ihr Leben werden sollte.

Als sie in die neue Wohnung kamen, sah alles friedlich aus. Sarah musste sich erst an diese Umgebung gewöhnen. Sie hatte dort keine Freunde und musste alles hinter sich lassen. Sarah sollte dort später zur Schule gehen und ihre Ausbildung abschließen. Sie verstand die Menschen nur schlecht, weil sie einen Dialekt sprachen, den sie vorher noch nie gehört hatte. Sie sah ihre Mutter oft erstaunt an und fragte: »Mama, können die hier kein Deutsch sprechen?«

Langsam freundete sie sich mit ein paar Kindern in der Nachbarschaft an. Hinter den Mauern schien die Ehe ihrer Mutter und ihres »neuen« Vaters langsam zu zerbrechen. Immer öfter sah Sarah, dass ihre Mutter blaue Flecken oder Platzwunden im Gesicht hatte. Margit und Sarah durften nicht mehr mit ihrem neuen Vater am gleichen Tisch essen. Mathilda wollte die Kinder nicht alleine essen lassen und so kam es, dass der Vater sein Essen im Wohnzimmer zu sich nahm und die Kinder und Mathilda in der Küche an einem Klapptisch aßen. Sarah hörte immer wieder das Geschrei aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern. Türen schlugen zu. Sie hörte jemanden fallen. Schreie und lautes Weinen waren Alltag geworden. Der neue Vater kam immer wieder betrunken nach Hause und machte nicht einmal vor Margit und Sarah halt. Er packte Sarah, warf sie über seine Schulter und trug sie die Treppe hinunter. Als er unten angekommen war, nahm er seinen Gürtel und schlug damit auf Sarah ein.

Es ging einige Monate unverändert so weiter, bis an einem Sonntag­morgen etwas Schreckliches geschah. Sarah hörte wieder beide schreien. Danach hörte sie, wie es nebenan polterte. Mathilda schrie laut auf. Sarah bekam daraufhin Angst um ihre Mutter und rannte ins Schlafzimmer. Mathilda stand da in ihrem Nachthemd, mit einem Messer in der Hand, das sie auf ihren Mann richtete. Blut tropfte von ihrem Gesicht auf ihr Nachthemd und auf den Boden. Ihr Mann stand vor ihr und wollte sie noch einmal schlagen. Er hielt Abstand, weil er befürchtete, dass Mathilda ihn mit dem Messer verletzen könnte.

»Lass mich in Ruhe! Wenn du mich noch einmal anfasst, dann steche ich zu!«, schrie Sarahs Mutter verzweifelt.

Sarah sprang todesmutig dazwischen und wollte ihrer Mutter helfen. »Lass meine Mama in Ruhe!«, brüllte sie den Mann an.

Mathilda griff nach ihrem Arm und sie gingen vorsichtig an ihm vorbei. Sie hielt immer noch das Messer in der Hand – für den Fall, dass der Mann sie erneut angriff. Sarah und Mathilda gingen zum Telefon und riefen die Polizei. Kurze Zeit später wurde der Mann festgenommen.

Nach diesem Vorfall ließ sich Mathilda scheiden und lebte wieder alleine mit ihren Kindern in diesem Haus. Sarah war zu dieser Zeit sechs Jahre alt. Da ihre Mutter keinen Partner hatte und das Ehebett nebenan leer war, durfte Sarah dort ab und zu schlafen. Mathilda war froh, wenn sie nicht alleine war und jemand neben ihr schlief.

Eines Nachts lag Sarah noch lange wach. Ihr Rücken zeigte zur Wand. Mathilda schlief auf der anderen Seite. Plötzlich spürte sie, wie sich jemand näherte und ihr mit der Hand den Nacken streichelte. Sie erschrak. Sie konnte sich das nicht erklären. Mathilda konnte das nicht gewesen sein. Sarah sah sich um, doch sie konnte niemanden entdecken, der das gewesen sein konnte. Sie fühlte sich beobachtet und bekam Angst.

»Mama, warst du das?«, fragte sie ängstlich ihre Mutter, nachdem sie sich von dem Schrecken erholt hatte.

Ihre Mutter drehte sich um, schnarchte noch einmal laut und sagte im Halbschlaf: »Nein, dreh dich um und schlafe weiter.«

Sarah war verwirrt. Ihre erste Vermutung war, dass es sich dabei um einen Geist handeln musste, der sie berührt hatte.

5

Einsamkeit


Die Jahre vergingen und Mathilda machte viele Bekanntschaften, die jedoch immer wieder auseinandergingen. Die Männer, die Mathilda kennenlernte, nahmen alles von ihr, was sie kriegen konnten – schließlich auch die letzten Teile ihres Herzens. Dadurch wurde sie immer kälter und erbarmungsloser. Mathilda wurde ständig wütend, vernachlässigte oft ihre Kinder und gab Sarah die Schuld für alles.

Sarah hatte in dieser Zeit sehr viele Probleme in der Schule und auch mit ihren Nachbarskindern. Sie wurde gehänselt und als Bastard beschimpft, weil sie keinen Vater hatte. Die Kinder fragten ständig, wo ihr Vater geblieben sei. Zu ihren Geburtstagen kam niemand. Die Nachbarn und die Eltern der Kinder machten einen großen Bogen um die Familie. Sarah wurde einsam. Immer wieder musste sie mit anhören, dass ihre kleine Familie nichts taugte, weil Mathilda alleinerziehend war. Sarah litt sehr darunter. Sie wünschte sich einen liebevollen und guten Vater. Er sollte auch Margit mögen. Die anderen Männer empfanden immer nur Abscheu und Ekel für das behinderte Mädchen, nur weil sie Hilfe bei den einfachsten Dingen benötigte.

Sarah hatte einen Freund. Sie wurde zwar von den Menschen allein gelassen, aber nie von Gott. Für sie war er zum Ersatz-Papa geworden. Sie redete jeden Tag mit ihm. Sie erzählte ihm alles, was sie bedrückte. Oft fing sie an zu weinen und hoffte, dass er alles gehört hatte.

 

»Er hat es gehört. Ganz sicher. Mama hat gesagt, Gott hört und sieht alles«, sagte sie sich immer wieder. Sie hielt sich daran fest. Sie glaubte ganz fest daran. Es musste so sein. Außerdem hatte sie Gott lieb und sie war immer der festen Überzeugung, dass er sie auch liebt.

Eines Tages kam Sarah nach Hause und Mathilda strahlte sie an.

»Schau mal! Ich habe einen Papa für dich! Du darfst ihn selber auswählen«, sagte sie.

Sarah wunderte sich darüber und konnte damit überhaupt nichts anfangen. Weil sie von ihrer Mutter dazu aufgefordert wurde, sah sie sich einige Bilder an, die ihre Mutter auf dem Wohnzimmertisch ausgebreitet hatte. Auf den Bildern waren zwei Männer zu sehen. Beide waren uninteressant und sahen nicht besonders nett aus. Da sich Sarah entscheiden sollte, wählte sie einfach irgendein Bild aus. Ein paar Tage später erschien diese Auswahl in Begleitung einer Dame von einer Heiratsagentur. Der Mann sprach kaum ein Wort und war hässlich. Er trug einen Schnauzbart, hatte schwarze kurze Haare, braune Augen und sein Gesicht war vernarbt und eingefallen. Auf Sarah machte er überhaupt keinen netten Eindruck. Sein Name war Christoph. Er saß etwas verschüchtert auf dem Sessel im Wohnzimmer, während die Dame der Agentur alle Formalitäten mit Sarahs Mutter besprach. Es dauerte nicht lange, bis die Hochzeit vor der Tür stand. Es wurde nur standesamtlich geheiratet.

6

Ausgeliefert


Sarah spielte in ihrem Zimmer, als Christoph sich nackt vor sie stellte. Sie erschrak und lief sofort zu Mathilda, um ihr das zu sagen. Ihre Mutter war jedoch frisch verliebt und glaubte ihrer Tochter nicht. Als Strafe wurde sie zu Hausarrest verurteilt und musste in ihrem Zimmer bleiben. Sie hatte die Wahrheit gesagt und fühlte sich ungerecht behandelt. Sie musste weinen, weil ihre Mutter ihr nicht glaubte.

Es vergingen einige Tage. Mathilda war einkaufen gegangen und Sarah war mit Christoph und ihrer Schwester allein im Haus. »Der Neue« fing an mit ihr zu reden.

»Deine Mutter ist krank. Du musst ihr helfen. Wenn nicht, dann stirbt sie. Du musst machen, was ich dir sage«, sagte er ihr und schaute sie mit drohenden Blicken an.

Sarah hatte Angst um ihre Mutter und folgte von nun an seinen Anweisungen. Sie versuchte oft sich zu wehren, aber dann drohte er wieder und sie bekam Angst um ihre Mutter. Er missbrauchte sie fast jeden Tag. Ihre Mutter saß währenddessen eine Etage unter ihnen im Wohnzimmer und schaute Fernsehen.

Sarah wurde auffällig in der Schule. Sie wusch sich nicht mehr, kaute ihre Nägel ab und riss sich die Haare aus. Keiner wollte ihr während dieser Zeit helfen. Der Schulpsychologe begutachtete sie und sie musste eine Klasse wiederholen. Die Kinder in ihrer Klasse schlugen sie, hänselten sie und die Nachbarn waren genauso »freundlich« wie vor der Hochzeit. Sie ließen Sarah spüren, dass sie und ihre Familie im Ort unerwünscht waren.

Sarahs Gebete veränderten sich in: »Lieber Gott, lass mich morgen nicht mehr aufwachen, bitte!«

Sie verlor immer mehr den Lebenswillen.

Zu Weihnachten bekam sie ein Tagebuch geschenkt, in welchem sie all ihre Gedanken an Gott niederschrieb. Sie schwärmte sehr für einen bekannten Popstar und schrieb, wie alle Mädchen in ihrem Alter, ihre Gedanken dazu in ihr Tagebuch. Sie träumte in den Tag hinein und versuchte auf diese Weise ihrem Alltag zu entfliehen.

Mathilda wollte fortgehen und sich mit neuen Bekannten treffen, dafür gab sie Sarah immer mehr Aufgaben, die sie im Haushalt zu erledigen hatte. Sarah blieb in der Wohnung und kümmerte sich um ihre Schwester und um das ganze Haus. Wenn sie alleine war, nahm sie Margit zu sich, drehte die Anlage auf und sie hörten zusammen laut Musik. Margit gefiel es jedes Mal sehr und sie schaukelte zur Musik hin und her. Wenn ihre Eltern sie einmal mit zum Einkaufen nahmen, freute sich Sarah darauf, dass sie endlich die Wohnung verlassen durfte. Sie spielte sonst die meiste Zeit alleine oder war ohne ihre Mutter auf dem Spielplatz.

Sarah wartete oft, bis andere Kinder zum Spielen auftauchten. Meistens kamen die größeren Jungs, die in der gleichen Siedlung lebten. Sie packten Sarah am Kopf und stießen sie in den Sandkasten um ihr dann den Mund mit Sand zu füllen. Sie schlugen gerne auf Sarah ein.

Wenn Sarah nicht weggehen konnte und nicht nach draußen durfte, setzte sie sich ihre Kopfhörer auf und träumte von anderen Welten. Sie träumte davon, wie sie fliegen konnte, wie mächtig sie war und dass sie alles sein konnte, was sie wollte. Es tauchten Figuren in ihren Träumen auf, die sie beschützten. Figuren, die Christoph für seine Taten immer und immer wieder bestraften.

7

Visionen und Tagträume


Eines Tages kam Sarah von der Schule nach Hause und Mathilda erwartete sie im Wohnzimmer. Sie stand vor dem Fenster und blickte hinaus.

»Ist das wahr, was du da geschrieben hast? Hat er das wirklich getan?«

Sie hielt Sarahs Tagebuch in der Hand. Sarah konnte es nicht fassen. Mathilda hatte Sarahs Tagebuch genommen und heimlich gelesen. Sie hatte das Schloss des Tagebuches aufgebrochen. Sarah hatte ein paar Tage zuvor jenen Text hineingeschrieben:

»Lieber Gott, Du weißt, dass ich es nicht mehr aushalten kann. Ich kann dieses Geheimnis nicht mehr weiter für mich behalten. Ich habe Angst meine Mama zu verlieren. Papa sagt, ich wäre dann schuld an ihrem Tod. Aber ich weiß nicht mehr weiter. Ich werde Dir jetzt das Geheimnis ver­raten. Danach werde ich den Schlüssel wegwerfen. Papa fasst mich dauernd an. Er lässt mich nicht in Ruhe. Meine Mama darf das nicht erfahren. Ich wünschte, ich wäre tot. Warum darf ich nicht sterben? Sarah.«

»Ja, es ist wahr. Bitte hilf mir, Mama«, sagte Sarah und hatte Angst vor dem, was folgen würde.

»Ich werde deinen Vater jetzt anrufen und er muss sofort hierherkommen. Ich will die Wahrheit wissen«, sagte Mathilda.

»Aber das ist die Wahrheit«, antwortete Sarah.

»Du hast schon einmal gelogen. Ich will auch eine Antwort von ihm haben«, sagte Mathilda mit einem sehr kühlen Ton. Sie hatte dabei einen harten Ausdruck im Gesicht, der Sarah Angst einjagte.

Sarah war fassungslos. Warum glaubte ihr Mathilda nicht? Sie sagte doch die Wahrheit. Ihr blieb nichts anderes übrig, als auf ihren Vater zu warten und die Antwort von ihm abzuwarten.

Wie sie es erwartet hatte, stritt er seine Taten ab. Sarah wunderte sich, dass ihre Mutter ihr trotzdem glaubte. Aber anstatt ihr zu helfen, gab sie Sarah die Schuld an dem, was passiert war.

»Du bist zu aufreizend herumgelaufen. Du bekommst langsam Brüste, damit hast du ihn erregt!«, schrie sie Sarah an.

Sarah sah in ein hasserfülltes Gesicht, als sie ihre Mutter ansah. Danach wurde sie dazu aufgefordert, das Buch zu nehmen und es in kleine Stücke zu schneiden, um es in eine Mülltonne – weit weg vom Haus – zu werfen. Niemand sollte herausbekommen, woher diese Zeilen kamen.

Als Mathilda den Raum verlassen hatte, grinste Christoph Sarah an und sagte: »Siehst du, du hast keine Chance gegen mich.«

Es tat weh. Sie liebte ihre Mutter sehr. Aber so wie es aussah, hatte sie wirklich keine Chance. Nun musste sie auch noch die Wut, die Enttäuschung und die Ablehnung ihrer Mutter ertragen.

Sarah litt in diesen Jahren sehr. Der Missbrauch ging immer weiter.

Sie trug im Sommer langärmlige Kleidung und lange Hosen und versuchte so unattraktiv zu sein, wie sie konnte. Aber es half nicht. Christoph wollte sie nicht in Ruhe lassen. Mathilda erfuhr immer wieder davon und gab Sarah die Schuld. Am Ende war Mathilda Christoph so hörig geworden, dass sie ihre eigene Tochter quälte. Sie führte bei Sarah eine Gehirnwäsche durch, um Sarahs Willen zu brechen. In dieser Zeit häuften sich immer mehr seltsame Ereignisse. Sarah hatte immer wieder besondere Erlebnisse. So konnte es sein, dass sie schon vorher wusste, wann ihre Mutter das Zimmer betrat. Sie wusste genau, was sie von ihr wollte, sogar jedes Wort, dass ihre Mutter dann sagte. Die Tür ging auf und ihre Mutter kam herein. Sie sprach genau den Satz, den Sarah erwartet hatte. Für Sarah war so ein Erlebnis sehr seltsam. Doch es passierten noch andere seltsame Dinge.