Wenn Blau im Schwarz ertrinkt

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DREI


Gwen erwachte mit einem feinen Lächeln auf den Lippen, etwas Weiches mit beiden Händen umklammert und an sich herangepresst. Ein großes Fenster, durch dessen Rolloschlitze zarte Sonnenstrahlen hereinfielen, tauchte den Raum in sanftes Licht. Er sah offenkundig nach einem Schlafzimmer aus, enthielt, neben dem breiten Bett, in dem sie lag, einen großen Kleiderschrank und eine Kommode. Seitlich davon befand sich eine Tür, die offensichtlich in den Rest der Wohnung führte.

Mit einem leisen Seufzten ließ Gwen sich wieder in die Kissen fallen. Zwar tanzte der schöne Traum noch immer in ihr, doch fühlte sie sich trotzdem seltsam zerrissen und uneins. Ganz so, als ob einige Teile von ihr in weiter Ferne verstreut worden wären. Ihr war klar, dass ihre Psyche immer noch an einem Schock knabberte und ihre Gefühle vor ihr abschirmte. Eine Selbstschutzmaßnahme, die verhindern sollte, dass sie einen totalen Nervenzusammenbruch erlitt. Gehäuft hatte sie darüber gelesen, gehäuft hatte sie in der Notaufnahme miterlebt, wie traumatisierte und unter Schock stehende Patienten eingeliefert wurden, desorientiert und verwirrt, regelrecht neben sich selbst stehend. Sie gaben dann eine Menge irrsinniges Zeug von sich. Beispielsweise, dass sie unbedingt noch den Knopf am Hemd ihres Mannes annähen oder am nächsten Morgen dringend Lunchpakete für die Kinder herrichten mussten. Der Verstand legte erstmals einen schwarzen Schleier über die traumatischen Erinnerungen, um der Psyche die Möglichkeit zur Erholung einzuräumen, ehe man sich mit dem vollen Ausmaß konfrontieren musste. Gwen hatte diese Symptome bisher noch nie am eigenen Leib erfahren – und es war ein himmelweiter Unterschied etwas bei anderen beobachtet zu haben oder es selbst zu erfahren. Mittendrin zu stecken, verlieh all dem einen gänzlich neuen Horizont von Verstehen.

Gwen wusste, dass es nichts bringen würde gegen ihre derzeitige Verfassung anzukämpfen, daher versuchte sie nicht die Bilder der letzten Nacht in sich wachzurufen oder darüber nachzudenken.

Auf dem Bauch liegend, grub sie ihr Gesicht in das Kopfkissen und sog dessen Duft tief in sich ein. Es war ein erdiger, moschusartiger Geruch mit einer kühlen und frischen Nuance versetzt, der dort schwebte. Ein Aroma, das sowohl ein Gefühl von Beständigkeit als auch von Weite in ihr aufkommen ließ.

Eine Weile überließ sie sich diesem Sinnesgenuss, dann rekelte sie sich aus dem Bett und steuerte die Tür an. Was sie nun dringend brauchte, war eine große Tasse Kaffee und nach Möglichkeit auch etwas zu essen.

Die Tür führte sie in einen hohen Wohn- und Essraum, der sie der breiten Holzbalken an der Decke und der gemauerten Wände wegen auf ein Loft schließen ließ. Der Boden war aus honigfarbenen Dielen getäfelt, die rechte Wandseite bestand aus einer riesigen Fensterfront, durch die sanftes Sonnenlicht hereinfiel. In der vorderen Mitte des Raums standen eine braune Couch und ein Sessel, ein quadratischer Holztisch und ein schmales Bord, auf dem ein Flachbildfernseher prangte. Die offene Schränke und Kommoden, ebenfalls aus dunklem Holz, enthielten größtenteils Bücher. Die Küche lag schräg zum Eingang und bestand aus einer kleinen Küchenzeile und einer Theke, vor der drei Barhocker standen.

Schließlich blieb Gwens Blick an Nikolaj kleben, der, mit durchgesteckten Armen, den Oberkörper nach vorne gebeugt, hinter der Küchentheke stand und sie mit einem verschmitzten Lächeln ansah.

„Morgen, Murmeltier. Gut geschlafen?“

„Ich denke schon. Jedenfalls bin ich gerade zum ersten Mal wach geworden. Vielleicht lag es auch an meinem Traum, dass ich durchgeschlafen habe“, überlegte sie laut und rief sich abermals die nächtliche Szenerie ins Gedächtnis.

„Traum?“

„Ein wunderschöner Traum“, ergänzte sie lächelnd.

„Hm, tatsächlich?“ Ein schelmischer Zug stahl sich auf Nikolajs Züge. „Um was ging’s denn?“

„Es war Nacht und wir waren auf einer riesigen Wiese in einem Park. Wir haben uns auf eine Decke gelegt und Sterne beobachtet – so wie früher.“

„Tja, dann hast wohl nicht nur du schön geträumt. Ich hatte nämlich den gleichen Traum.“

„Den gleichen Traum? Sie zog die Stirn in Falten. „Das geht doch gar nicht. Außerdem weißt du überhaupt nicht, wie es in meinem Traum ausgesehen hat. Du könntest also höchstens spekulieren, dass du etwas Ähnliches geträumt hast. Eben auch mit Sternen und mir.“

Nikolaj entgegnete nichts, grinste sie nur verschlagen an. Es dauerte eine Weile, ehe er sich sein Grinsen aus dem Gesicht wischte und sich wieder auf Augenhöhe begab. „Kaffee?“

„Ja, bitte.“ Gwen ließ sich auf einem der Stühle gegenüber von Nikolaj nieder und beobachtete ihn, wie er eine Tasse aus dem Schrank holte und heiß dampfende Flüssigkeit aus der Kaffeekanne eingoss. Er trug immer noch die gleichen Klamotten. Nur waren die Ärmel seines Shirts heute bis knapp über die Ellenbeuge nach oben geschoben, sodass sie seine kräftigen Unterarme preisgaben.

Nikolaj reichte ihr die dampfende Tasse, sie nahm einen Schluck und verbrannte sich sogleich die Zunge.

„Ich habe ihn extra für dich heiß gehalten“, kommentierte Nikolaj schmunzelnd und zugleich entschuldigend. „Ich hatte so die Vermutung, dass du kalten Kaffee nicht ausstehen kannst.“

„Ja, da hast du vollkommen recht.“ Gwen betastete ihre pelzige Zunge. „Kalter Kaffee ist Mist. Wer will schon eine fröstelnde Zunge, wenn er eine verbrannte haben kann.“

Das umwerfende Lächeln, das Nikolaj ihr schenkte, erfüllte ihr Inneres mit einem angenehm warmen und wohligen Gefühl. Wärmer und wohliger, als es jedes Heiß- oder Alkoholgetränk der Welt hätte erzeugen können.

Nikolaj zog den Kühlschrank auf, griff nach einer Packung Frischmilch und versetzte ihrem Kaffee einen Schuss davon. „Damit es weder eine eisgekühlte noch eine verbrannte Zunge gibt.“

Während sie weiter an ihrem Kaffee nippte, der nun eine weit angenehmere Temperatur hatte, kehrte Nikolaj ihr den Rücken zu und werkelte an irgendwelchen Dingen auf der Küchenzeile herum.

Nach ein paar Momenten, den Rücken immer noch zu ihr, sagte er: „Ich schätze, ich habe einen miesen ersten Eindruck bei deinem Freund hinterlassen.“ Das Wort Freund betonte er auf eine seltsame Art und Weise.

„Wie meinst du das? Woher weißt du von Josh?“

Ein paar Sekunden vergingen, ehe Nikolaj sich wieder zu ihr umwandte. „Er war, glaube ich, nicht sonderlich erfreut darüber, dass ich – oder besser gesagt ein Mann – an dein Handy gegangen ist. Ich habe ihm gesagt, dass du gerade schläfst, dich aber später bei ihm meldest - vermutlich. Niemandem wäre entgangen, dass das dein Freund ist. Nicht nach einem solchen Machogehabe.“

An Josh hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht -wann auch? „Ja, Josh und ich sind zusammen. Dass ich nicht heimgekommen bin und nichts von mir hören hab lassen, hat ihn wahrscheinlich stutzig gemacht. Normalerweise melde ich mich, wenn ich länger im Krankenhaus aufgehalten werde.“

Nikolaj bedachte sie mit einem seltsamen Ausdruck.

War es Ärger? Eifersucht? Wut?

„Wenn ihr bereits zusammenwohnt, seid ihr wohl schon länger ein Paar und es ist was Ernstes?“ Obwohl als Frage formuliert, klang es auch irgendwie nach einer unerfreulichen Feststellung.

Dieses Gespräch über ihren Beziehungsstatus kam Gwen seltsam vor. Sie hatten immer über alles geredet, aber das Thema Jungs, und in Nikolajs Fall Mädchen, hatte bisher nicht dazugehört. Abgesehen davon, hatte nach Nicks Auftauchen ohnehin niemand mehr großen Wert darauf gelegt sich in ihrer Nähe aufzuhalten – egal, ob Junge oder Mädchen. Nicht etwa, weil sie jemand gewesen war, den man mied. Sie hatte sich nie schwer getan mit anderen ins Gespräch zu kommen oder sich anzufreunden. Nichtsdestotrotz war sie schon immer ein bisschen anders gewesen, vielleicht auch einfach anders denkend. Lag es bis zu dem Tag auf dem Spielplatz an ihrer Eigenart, so war es danach unbestreitbar Nikolajs Anwesenheit zuzuschreiben, dass die anderen Kinder auf Abstand geblieben waren. Zwar war Nikolaj nicht auf ihre Schule gegangen, doch hatten ihre Mitschüler nicht verpasst, dass der seltsame Junge viel Zeit mit ihr verbrachte. In Berührung mit ihm zu kommen war eindeutig nicht in ihrem Interesse gewesen. Offenbar waren sie in Bezug auf Nikolaj zu einer ähnlichen Auffassung gelangt, wie ihre Eltern.

Wie auch immer, diese Beziehungskistenthematik konnte Gwens Meinung nach ruhig noch auf sich warten. Es gab Interessanteres zu besprechen. Genau genommen so viel, dass sie gar nicht wusste, wo sie zuerst anfangen sollten.

„Ich rufe ihn kurz zurück, damit er sich beruhigt und in keine wilden Geschichten hineinsteigert - und dann will ich meine Antworten.“

„Das hast du also nicht vergessen“, erwiderte Nikolaj seltsam tonlos und deutete an ihr vorbei auf den Tisch, an dem sie sich gestern ihr Bein gestoßen hatte.

Sie rutschte vom Stuhl, griff nach ihrem Handy und wählte die Nummer ihres Freundes.

„Hey Josh, ich bin’s. Ich wollte nur– Mit mir– Nein, ich konnte nicht– Es ist alles in Ordnung. Es tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe, ich– Nein, das habe ich nicht. Ich bin bei Nick, einem Freund. Ich erzähl dir alles, wenn ich nach Hause– Ja, es geht mir wirklich gut. Bis später.“ Mit einem leisen Seufzer legte sie auf und wandte sich wieder zu Nikolaj um.

„Klingt fast so, als wäre er sauer. So lange er das auf mich ist, geht das in Ordnung. Obwohl … es wäre ja schon schade, wenn ich es mir gleich am Anfang mit deinem Freund versaut hätte. Womöglich hätten wir beste Freunde werden können.“ Er sagte es aus einer Mischung von Bedauern, Belustigung und eisiger Gleichgültigkeit heraus.

 

„Er wird dich mögen. Er muss dich mögen.“

Nikolaj feixte, offenbar besänftigt. „Ich könnte mir vorstellen, dass du Hunger hast?“

Gwen nickte eifrig.

„Gut, dass du so lange geschlafen hast, sonst hätte ich dir nur einen leeren Kühlschrank anbieten können. Ich hatte keinen Besuch erwartet, erst recht keinen, der Hunger mitbringt.“

„Du warst weg?“ Gwen bemerkte den anklagenden Ton in ihrer Stimme erst, als ihre Worte bereits ausgesprochen waren.

„Ich war nur für einen Augenblick weg. Du hättest es kaum bemerkt, selbst wenn du wach gewesen wärst. Ich sagte doch, dass ich auf dich aufpasse.“ Er hatte mit glasklarer Stimme gesprochen, die keinen Zweifel am Ernst seiner Worte ließ.

„Tut mir leid.“ Gwen schüttelte den Kopf. „Ich bin noch nicht wieder ganz ich selbst, sondern hänge irgendwo zwischen durchgeknallte Verrückte und apathische Schlafwandlerin fest. Ich wollte dich nicht blöd anmachen.“

Nikolajs Augen funkelten. „Das weiß ich. Aber das hast du ja auch gar nicht. Nicht richtig zumindest. Dazu gehört schon einiges mehr. Und selbst wenn, du weißt ja: Du bist die Einzige, der ich das durchgehen lassen würde.“

Gwen musste grinsen. „Na, das hättest du Mick Thomsen vielleicht sagen sollen, bevor er diesen Fehler begehen konnte. Ich erinnere mich immer noch an seinen Sinneswandel, nachdem du, nun, nachdem du gemacht hast, was auch immer du mit ihm gemacht hast. Dir blöd zu kommen, ist wirklich noch keinem gut bekommen. Da kann ich doch wirklich erleichtert sein, dass ich dich mit meinem Charme so in der Hand habe.“

Nikolaj lachte laut los.

Mit geneigtem Kopf sah sie ihn an. Immer noch erschien ihr alles wie ein Traum. Gestern hatte sie wie jeden Tag zuvor an ihn gedacht und sich gefragt, wie er jetzt wohl aussah, wie es ihm ging, ob er noch an sie dachte. Und heute, heute saß sie in seiner Wohnung und unterhielt sich mit ihm, als wäre er nie fortgewesen.

„Ich hab dich so vermisst.“ Gwen legte sämtliche Sehnsucht der letzten Jahre in ihre Worte und doch konnten sie nicht annähernd vermitteln, wie tief diese Sehnsucht tatsächlich in ihr gebrannt hatte.

„Ich hab dich nicht weniger vermisst, Gweny.“ Aus Nikolajs Munde klang es, als wäre ihre Sehnsucht lediglich ein Schatten der Seinigen.

Sie hielten den Moment ohne ein Wort zu sagen. Gemeinsam zu schweigen war ihnen noch nie schwergefallen. Oft hatten sie sich in klaren Nächten heimlich auf dem Spielplatz getroffen, bepackt mit einer Decke, um Sterne zu beobachten. Von Anfang an waren solche Momente, solche stummen Augenblicke, ebenso besonders und angenehm wie alle anderen gewesen. Jeder hatte einfach die Anwesenheit des anderen genossen und sich nicht gezwungen gefühlt etwas sagen zu müssen. Das war etwas, wie Gwen in den letzten Jahren hatte feststellen müssen, dass nicht alle Menschen konnten: Stille zwischen einander ertragen und obendrein als unbedrohlich, gar als angenehm empfinden. Mitunter war es wohl dieser Tatsache geschuldet, dass sich nach ihrer gewaltsamen Trennung ein scharfkantiger Splitter in ihrem Herzen eingenistet hatte, der fortan jeden Tag darin gewetzt hatte.

„Also?“, durchbrach Nikolajs Stimme ihren Gedankengang. „Wie wäre es mit Marmeladenbrot? Oder haben sich deine Vorlieben inzwischen geändert?“

„Marmeladenbrot wäre wunderbar!“ Sie schenkte ihm ein dankbares Strahlen.

Während er zwei Scheiben Brot mit Butter und roter Creme bestrich, sah Gwen sich abermals um. Erst jetzt, auf den zweiten Blick, fiel ihr auf, dass die Wohnung irgendwie kahl und unbewohnt wirkte. Trotz der gängigsten Einrichtungsgegenstände und dem beträchtlichen Vorrat an Büchern.

„Wohnst du schon lange hier?“

Nikolaj schob ihr den Teller vor die Nase. „Wie man´s nimmt.“

„Und was soll das bitteschön heißen? Ist die Frage so schwer zu beantworten?“ Sie tat einen herzhaften Bissen in ihr Brot und genoss das Gefühl etwas in den Magen zu bekommen. Zucker kam ihrem Kreislauf gerade recht.

Wohnen wäre vielleicht ein wenig übertrieben. Es ist mehr so was wie ein Ort zum Schlafen – oder eine Zuflucht. Ich würde es nicht als mein Zuhause bezeichnen.“

„Und wo bist du dann Zuhause?“

Nikolaj dachte einige Augenblicke lang nach. „Einen anderen Wohnsitz als diesen hier kann ich dir leider nicht anbieten.“

„Wenn du keine andere Wohnung hast, dann ist diese hier doch sehr wohl dein Zuhause. Oder willst du mir nicht sagen, wo du wirklich lebst? Wo du wirklich Zuhause bist? Ist es ein Geheimnis? So, wie deine Familie eines ist? Dein Nachname? Deine Herkunft?“

Nikolaj zog die Augenbrauen zusammen. „Hm, ich sehe schon. Immer noch der Sturkopf von früher.“

„Das hat nichts mit Sturheit zu tun!“, schmatzte Gwen mit vollem Mund und bemühte sich, schnell herunterzuschlucken. „Ich will einfach nur die Antworten, die du mir versprochen hast - falls du dich erinnern kannst. Wenn du mir schon so eine einfache Frage, wie die nach deinem Zuhause nicht beantworten kannst, wie willst du mir dann-“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich sie nicht beantworten kann. Und mein Versprechen habe ich auch nicht vergessen, du Sturkopf.“ Er nahm sich erneut einige Augenblicke Zeit, ehe er weitersprach. „Von mir aus, dann würde ich doch sagen, dass das hier mein Zuhause ist. Vielleicht fehlt mir einfach das Gefühl von Heimat, weil ich nicht so viel Zeit hier verbringe oder weil ein Zuhause nicht nur vier Wände und ein Dach über dem Kopf, sondern weit mehr bedeutet.“

Gwen dachte kurz über seine Worte nach, beschloss aber, nicht auf die tiefergehende Bedeutung einzugehen, sondern beim Thema zu bleiben. „Und wie lange wohnst du schon hier?“

Nikolaj goss sich Kaffee nach. „Etwa ein Jahr.“

„Ich bin vor ungefähr zwei Jahren in die Stadt gezogen. Das gibt’s doch nicht. So nah beieinander und doch so weit entfernt.“

Sie versank einen Moment in stillem Selbstmitleid, dann bohrte sie weiter, entschlossen ihre Unwissenheit loszuwerden. „Und wo hast du vorher gewohnt? Was hast du vorher gemacht? Warst du bei deiner Familie?“

„Als du die Stadt verlassen hast, habe ich sie auch verlassen - das habe ich dir ja schon gesagt. Danach war ich viel unterwegs und habe nach dir gesucht. Während dieser Zeit habe ich mal hier mal da geschlafen, je nachdem, was sich angeboten hat und wo ich gerade war.“

„Aber du warst gerade mal achtzehn“, unterbrach sie ihn. „Hattest du denn einen Job? Du brauchtest doch sicherlich Geld, um zu reisen, eine Unterkunft und deinen sonstigen Lebensunterhalt bezahlen zu können?“

Nikolaj zuckte mit den Achseln. „Ein Bekannter hat mir einen Job verschafft. Abgesehen davon bekommt man immer irgendetwas in die Finger, das einem ein paar Scheine einbringt. Vor allem, wenn man so beharrlich und charismatisch ist, wie ich. Und solch große Ausgaben hatte ich gar nicht. Keine Hochglanzwohnung. Keine Versicherungen. Keine Freundin.“ Er grinste sie schief an, doch es wirkte nicht überzeugend unbeschwert. „Ich habe also nach dir gesucht, aber deine Eltern waren überaus sorgfältig, was das Vertuschen eurer Spuren anging. Eine Weile habe ich bei dem Bekannten gewohnt, der mir den Job verschafft hat. Vor einem knappen Jahr hat das alles nicht mehr funktioniert, wie ich es wollte. Ich habe mich nach was Eigenem umgesehen und diese Wohnung gefunden.“

Immer noch wirbelten schwindelnd viele Fragen in Gwens Kopf herum. Welche sollte sie zuerst stellen? „Und warum gerade hier? Warum gerade in dieser Stadt?“

Nikolajs Kiefer spannte sich an, die Nasenlöcher blähten sich in einem tiefen Atemzug. Es schien ganz so, als hätte er gehofft, dass sie gerade diese Frage nicht stellen würde. Dennoch schien er entschlossen zu antworten. Ehrlich zu antworten.

„Weil ich dir nahe sein wollte.“ Die Worte füllten den gesamten Raum aus, hallten darin wieder, obwohl es nichts gab, an dem sie sich derart brechen konnten.

„Was soll das heißen? Mir nahe sein? Du hattest doch keine Ahnung, dass ich hier bin – oder?“

Nikolaj beugte sich nach vorne, über den Tresen. „Doch. Ich wusste, dass du hier bist. Genau aus dem Grund bin ich hier eingezogen.“

Gwen fühlte den bitteren Geschmack von Betrug in sich aufsteigen. Das nächste Gefühl, oder mehr, der nächste Impuls, der in ihr aufkam, war der, ihm eine Ohrfeige verpassen zu wollen.

„Das kann nicht dein ernst sein! Erst suchst du scheinbar sehr ambitioniert nach mir, findest mich endlich und dann meldest du dich nicht bei mir? Lässt mich weiterhin im Ungewissen? Lässt mich alleine? Und das sagst du mir mal so nebenbei? Was, warum …“ Wut und Enttäuschung, sie konnte nicht sagen, was mehr überwog.

„Ich habe gesagt, dass ich dich nicht anlügen werde, wenn du mir eine Frage stellst.“

„Ja, aber veralbern ist in Ordnung oder wie?“, schnauzte sie zurück.

Nikolajs Augen blitzten. „Es gibt für alles einen Grund. Du hast mich noch nicht nach diesem hier gefragt.“

Gwen spielte mit dem Gedanken das leere Geschirr nach ihm zu werfen oder einfach alles, was sich werfen ließ und in Reichweite war. Ein deutliches Indiz dafür, dass sie nicht sie selbst war. Sie hatte bisher noch nie mit Geschirr um sich geworfen – oder den Drang dazu verspürt.

„Fein“, riss Nikolaj erneut das Wort an sich. „Ich tue einfach mal so, als hättest du mich nach dem Grund gefragt, warum ich nicht zu dir gekommen bin. Der Grund ist, mir ging es nicht sonderlich gut. Ich war in keiner guten Verfassung. Ich hätte dir nicht gut getan, glaub mir. Ich hab mir nicht mal selbst gut getan. Ich wollte einfach nicht, dass du mich so siehst, das hätte dir noch einen Schock fürs Leben verpasst. Wie hätte ich diese Verantwortung auf meine Kappe nehmen können?“

Er versuchte ganz offensichtlich die Fakten ins Lächerliche zu ziehen, was Gwen jedoch keineswegs weniger entrüstet dreinblicken ließ.

„Ich wollte mich erst wieder fangen, bevor ich dich aufsuche und „Hier bin ich“ schreie. Das war keineswegs leicht, aber manchmal muss man Dinge tun, die anderen, Menschen, die einem nahe stehen und wichtig sind, nicht gefallen. Gerade, weil sie einem so wichtig sind.“

Gwen rieb einige ihrer Haarsträhnen zwischen den Fingern und ließ Nikolajs Worte auf sich wirken. Seit zwei Jahren hätte der Splitter in ihrer Brust verschwinden können. Seit zwei Jahren hätte sie mit den ständigen Fragen um seinen Aufenthalt und sein Befinden aufhören können. Seit zwei Jahren hätte sie sich wieder ganz fühlen können, vielleicht sogar schon früher.

Sie hatte es nicht eilig die Stille zu brechen und Nikolaj sah wohl ein, dass er nicht derjenige war, der die Option auf das erste Wort verdient hatte.

Nach einer ausgiebigen Weile sagte sie mit fester Stimme: „Mir wäre es lieber gewesen, wenn du zu mir gekommen wärst, ganz egal, in welcher Verfassung du gewesen bist. Ich hätte lieber gewusst, wie es dir geht und wo du bist, anstatt mich mit Unwissenheit begnügen zu müssen. Diese Entscheidung lag nicht bei dir, du hättest sie mir überlassen müssen. Du hättest mich entscheiden lassen müssen, ob ich dich sehen will und kann oder nicht, ob ich mit deiner Verfassung zurechtkomme oder nicht. Ich bin alt genug. Ich kann selbst entscheiden, was gut für mich ist und was nicht, was ich ertrage und was nicht. Mach nicht das Gleiche, was meine Eltern getan haben: glauben, mich beschützen zu müssen, obwohl ich diejenige bin, die selbst am besten weiß, was für mich gefährlich ist und was nicht. Tu das nie wieder, versprich es mir, Nick.“ Sie sah ihm direkt in die Augen. Er sah nicht weg. Was sie in seinem Blick sah, war Reue und eine Schattierung von Angst, die einen weiten Schatten warf.

„In Ordnung. Ich verspreche es dir. Unter einer Bedingung.“

Gwen riss den Mund auf und funkelte ihn fassungslos an. Wie konnte ER jetzt Bedingungen stellen?

„Ich verspreche es dir unter der Bedingung, dass du mir etwas versprichst. Wenn ich dir nicht mehr gut tue, sagst du es. Du wirst es weder verdrängen, noch versuchen allein damit klarzukommen. Du wirst es mir sagen. Kannst du mir das versprechen?“

„Warum solltest du mir nicht mehr gut tun?“ Gwen sah ihn irritiert an. „Ich verstehe dich im Moment wirklich nicht. Ich-“

Nikolaj ließ sie nicht aussprechen. „Wenn du mir dein Versprechen gibst, gebe ich dir meins dass ich dich in Zukunft selbst entscheiden lasse und nicht mehr über deinen Kopf hinweg für dich entscheide. Nur so läuft der Deal, Gweny, nicht anders.“ An seinen Worten war nichts zu rütteln.

 

Gwen fühlte sich ertrinkend in einem Meer aus Emotionen. Ein Teil von ihr wollte nichts lieber als hier bei Nikolaj zu bleiben. Vielleicht, um gemeinsam einen Film anzusehen, zu kochen, Brettspiele zu spielen, was auch immer. Der andere Teil in ihr fühlte sich betrogen und wie angeschossen, wollte allein in einer Ecke schmollen und sich alles noch mal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen.

Der verletzte und ohnehin stark in Mitleidenschaft gezogene Teil trug den Sieg davon.

Sie ließ sich vom Barhocker gleiten. „Ich würde jetzt gerne nach Hause ein heißes Bad nehmen und einfach ein bisschen abschalten. Außerdem muss ich noch in der Klinik anrufen und mich für meine nächsten Schichten entschuldigen. Ich denke nicht, dass es momentan eine gute Idee ist, mich auf Patienten loszulassen. Ich fühle mich ja selbst wie jemand von der psychologischen Betreuungsstation.“

Nikolaj sah offenkundig aus, als wolle er nicht, dass sie nun ging. Er sah aber auch noch genauso beharrlich und stur aus, was seinen Standpunkt betraf. „In Ordnung. Ich begleite dich nach Hause“, erwiderte er schließlich knapp, griff ihren Mantel von der Garderobe, half ihr hinein und zog sich seine Jacke über.

Draußen auf der Straße, im hellen Licht des Tages, stellte Gwen verblüfft und verbittert fest, dass Nikolajs Wohnung gerade mal ein paar Blocks von der Ihrigen entfernt lag.

Sie brachten die Strecke in gemeinsamem Schweigen hinter sich. Zum ersten Mal hatte sich ein unangenehmer Hauch in die Stille hineingeschoben, der, wie Gwen vermutete, dem ungeklärten Zwist zwischen ihnen zuzuschreiben war.

Nach knapp zehn Minuten erreichten sie den modernen Neubau, in dem Josh und sie wohnten. Gwen wollte eigentlich nicht, dass sie so auseinandergingen, daher unternahm sie einen Versöhnungsversuch. „Willst du noch mit raufkommen?“

Nikolaj bedachte sie mit einem schiefen Lächeln. „Um mir die Standpauke deines Freundes anzuhören? Nein, lieber nicht. Sag ihm erst mal was für ein netter Kerl ich bin, dann kann ich demnächst ohne Probleme reinschneien und ihm vom Gegenteil überzeugen.“

Gwen konnte nicht anders und bedachte ihn ebenfalls mit einem neckischen Lächeln. „Das überleg ich mir noch mal. Das mit dem netten Kerl, meine ich.“

Nikolaj beugte sich zu ihr herunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Seine Lippen verweilten etwas länger auf ihrer Haut als es üblich gewesen wäre. „Ruh dich aus. Ich komme vorbei, okay?“

Gwen nickte, ein warmes Kribbeln im Magen.

„Hey!“ Nikolaj wandte sich nochmals zu ihr um. „Dir geht’s jetzt also wieder besser? Du bist wieder in guter Verfassung?“

Sein Gesichtsausdruck ließ sich nicht deuten. „Das kommt immer darauf an, was du als gut definierst.“

* * *

Gwen stand noch eine ganze Weile da und starrte in die Richtung, in die Nikolaj verschwunden war. Im Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher als einen klaren und beweglichen Verstand, der einfach seinem Job nachging: Sachverhalte durchschauen, Sinn und Bedeutung erkennen, Informationen verarbeiten, Dialogen folgen, Lösungen und Ratschläge präsentieren.

Doch diesem Anspruch wurde ihr Verstand augenblicklich nicht im Mindesten gerecht. Statt in Klarheit gehüllt, stellte er sich in einer ominösen Nebelwolke zur Schau. Statt mit elastischer Beweglichkeit, glänzte er mit kaugummiartiger Zähheit.

Was sollte sie gerade fühlen? Sollte sie sauer sein? Enttäuscht? Erleichtert? Verängstigt? Worüber sollte sie nachdenken? Über ihr Glück, den Männern entkommen zu sein? Die Leichen? Nicks unverhofftes Auftauchen? Seine Geheimnisse? Den Grund, warum er nicht zu ihr gekommen war?

Das kommt immer darauf an, was du als gut definierst.

Das war eine solch typische Antwort für Nikolaj. Augenblicklich hätte sie sie ihm am liebsten um die Ohren gehauen. Hätte er nicht wenigstens nur dieses eine Mal eine klare Aussage von sich geben können, sodass sie nun nicht dastand und sich selbst einen Reim darauf machen musste?

Hab ein bisschen Nachsicht mit dir, sagte Gwen zu sich selbst. Du hattest nicht gerade die beste Nacht; deshalb wirst du nichts bemerkt haben. Kümmere dich erst mal um dich selbst, sonst kannst du weder Nick noch irgendwem sonst helfen.

Sie löste den Blick von den Passanten, die den freien Wochentag für Einkäufe und Spaziergänge nutzten und schlenderte Richtung Hauseingang.

Kaum, dass sie im zweiten Stock angelangt, die Wohnungstür erreicht und den Schlüssel ins Türschloss gesteckt hatte, wurde diese schon von der anderen Seite her aufgerissen.

„Da bist du ja endlich!“ Josh zog sie in die Wohnung und schloss die Tür. „Wer war der Kerl, der an dein Handy gegangen ist? Ich hab ihm gesagt, dass ich mit dir sprechen will, aber er meinte nur, dass du im Moment Dringenderes zu tun hättest, als dich mit mir zu unterhalten. Du hättest wirklich anrufen und Bescheid sagen können, Gwen. Ich hab mir wirklich Sorgen gemacht.“

Von diesem verbalen Frontalangriff unangenehm überrannt, wäre Gwen am liebsten schnurstracks im Bad verschwunden. Sie glaubte allerdings nicht, dass Josh sie einfach so dorthin verschwinden lassen würde, weswegen sie sich sammelte und zu einer Antwort ansetzte.

Bereits im nächsten Sekundenbruchteil wurde ihr bewusst, dass sie nicht wusste, wie sie sich erklären sollte. Wenn sie die Sache mit der Fast-Vergewaltigung erzählen würde, die nun einmal Dreh- und Angelpunkt ihres Wiedersehens mit Nick und ihres darauffolgenden Fernbleibens war, müsste sie auch sagen, was mit den Männern passiert war. Wie Nick sie losgeworden war.

Oder konnte sie einfach sagen, dass er sie in die Flucht geschlagen hatte? Würde Josh das glauben? Würde sie es an seiner Stelle glauben?

Ihr selbst käme es äußerst unglaubwürdig vor, dass ein Mann zwei andere so einfach in die Flucht schlug – und dass ohne Gewalt. Menschen, und im Fall der Männer vom Alkohol benebelte Menschen, die nicht vor einer Vergewaltigung zurückschreckten, ließen sich wohl nicht mal eben von einem dahergekommenen goldenen Ritter davonjagen. Doch das mit dem Mord wollte sie Josh auf keinen Fall erzählen. Sie konnte es ihm auf keinen Fall erzählen.

Josh war Staatsanwalt. Er würde einen Mord nicht so einfach auf sich beruhen lassen. Sie musste Nick schützen. Sie musste den Mord decken.

Bei diesem Gedanken drehte sich ihr der Magen um.

Einen Mord decken? Das konnte nur ein schlechter Scherz sein.

War es denn wirklich Mord gewesen? Gwen hatte bisher nicht näher über diesen Teil der Nacht nachgedacht. Die plötzliche Forderung, sich unfreiwillig damit befassen zu müssen, ließ sie in ein ominöses Loch von Unbehagen und Schwindel fallen.

„Gwen? Was ist passiert?“ Josh strich ihr über das Haar, ließ die Hand in ihrem Nacken verweilen und glitt sanft über ihre Haut. „Du siehst müde und blass aus. Hat dein Freund dich irgendwie belästigt? Wer ist der Kerl eigentlich? Und warum hast du mir nicht Bescheid gegeben, dass du nicht nach Hause kommst?“

„Tut mir wirklich leid, Josh. Ich habe mich nicht gemeldet, weil ich es vergessen habe.“

„Vergessen?“, echote er und bedachte sie mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck.

„Auf dem Heimweg vom Krankenhaus habe ich Nick, meinen besten Freund aus Kindertagen wiedergetroffen. Wir haben uns vor Jahren aus den Augen verloren, konnten uns damals nicht mal voneinander verabschieden. Als er plötzlich vor mir gestanden hat, war ich ganz aus dem Häuschen, genau wie er. Ich habe mich einfach so gefreut, dass ich nicht dran gedacht habe dich anzurufen. Wir haben uns die ganze Nacht unterhalten und wahrscheinlich habe ich mich auch aus einem leichten Schwips heraus nicht bei dir gemeldet.“

Als Josh sie mit skeptischer Miene ansah, fügte sie rasch noch hinzu: „Wir haben mit ein paar Gläsern Bourbon auf unser Wiedersehen angestoßen. Tut mir wirklich leid, wenn du dir Sorgen gemacht hast.“