Wenn Blau im Schwarz ertrinkt

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Josh musterte sie voller Argwohn. Dem Mann und Freund schmeckte diese Information ganz offensichtlich nicht gut. Der Anwalt befand ihre Erklärung als schwach und unzureichend. Gwen konnte förmlich sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete und er eine Vielzahl von Einwänden durchging.

Warum hat sie getrunken? Ihr verschollener bester Freund läuft ihr einfach so, ganz zufällig, mitten in der Nacht über den Weg? Wenn er so ein guter Freund ist, warum hat sie dann niemals von ihm erzählt? Wie kann man sich einfach so aus den Augen verlieren, wenn man sich so wichtig ist? Warum ist er an ihr Handy gegangen?

Gwen hatte weder die Nerven, noch die Kraft jetzt Angeklagte und Kläger mit ihm zu spielen. Was sie brauchte war Ruhe, einfach nur Ruhe.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, streckte sich und gab ihm einen Kuss auf die Lippen, der, wie sie hoffte, dem in der Luft schwirrenden Kreuzverhör den Wind aus den Segeln nahm. „Ich werde ihn dir vorstellen, versprochen. Aber jetzt muss ich wirklich dringend ein heißes Bad nehmen. Ich glaube, ich werde krank. Vielleicht sehe ich deswegen so blass aus. Wollen wir, falls es mir später besser geht, gemeinsam einen Abstecher auf den Wochenmarkt machen? Du weißt doch, da gibt es samstags immer diese leckeren Aufstriche und frische Tulpen vom Land.“

Mit diesem offenen Friedensangebot ließ Gwen ihn stehen und verschwand im Bad. Sie hoffte inständig, dass er es damit auf sich beruhen ließ. Wenn nicht jetzt, dann zumindest, wenn sie ihm Nikolaj vorgestellt und so seine Existenz bewiesen hatte. Sie musste Nick vorher nur noch in ihr beider Alibi einweihen. Zwar hatte er gesagt, er würde vorbeikommen, doch sie musste ihn zuvor noch sprechen, allein, ohne Josh. Und davor musste sie erst mal all ihre wirren Gedanken und Gefühle verarbeiten, im Krankenhaus anrufen, noch ein wenig schlafen und möglicherweise tatsächlich ihren Vorschlag umsetzen und auf den Wochenmarkt gehen. Das war eigentlich nur versöhnende Floskel und gleichzeitiges Ablenkungsmanöver gewesen, denn Lust hatte sie darauf im Moment überhaupt keine.

Sie drehte den Wasserhahn auf, gab einen großzügigen Schuss Kräuterbad in die Wanne und sah zu, wie sich im dampfenden Wasser schaumige weiße Wolken auftürmten.

Am Beckenrand sitzend, ließ sie sich vom rhythmisch fließenden Wasser hypnotisieren, bis sie in das heiße und wohltuende Nass sank, die Augen schloss und an nichts mehr zu denken versuchte.

VIER


„Ich wusste, dass dich diese Information brennend interessieren würde.“

Das selbstgefällige Grinsen und der vorlaute Ton seines Angestellten gefielen Merkas überhaupt nicht. Dass er mit Neuigkeiten Nikolaj betreffend hier aufschlug, bedeutete keineswegs, dass er sich darauf groß etwas einzubilden brauchte. Es war sein Auftrag gewesen. Zu tun, was man ihm befohlen hatte, war keine besondere Leistung, sondern lediglich das, was von ihm erwartet wurde.

Er warf den Mann hinaus, suhlte sich in seinem Zorn, der anstieg und anstieg, je länger er sich die Informationen durch den Kopf gehen ließ.

Aber, wenn er ehrlich war, hatte er es geahnt. Hatte geahnt, dass so etwas passieren würde. Bereits an jenem Tag vor einem Jahr, als Nikolaj seinen Job bei ihm gekündigt und ihm vor die Füße geworfen hatte, dass er in Ruhe gelassen werden wollte, hatte er an ihre Kindheit zurückdenken müssen. Schon damals hatte Nikolaj sich nie so gehen lassen wie seinesgleichen, hatte sich nie in Gänze verbunden und zugehörig gefühlt, nicht zu seiner Spezies, noch zu seiner Heimat. Zwar hatte er das nie ausgesprochen, doch das spielte keine Rolle. Manchmal war es nicht nötig, dass man Worte aussprach oder hörte. So manche Tatsache war stumm noch offensichtlich genug, um sie erfassen zu können.

Als Nikolaj als dreizehnjähriger ständig von der Bildfläche verschwunden war, ohne ihm oder irgendjemandem die Frage nach seinem Aufenthaltsort zu beantworten, spätestens da hätte er die Sache ernstnehmen sollen. Noch heute konnte er sich gut daran erinnern, wie Nikolaj sich zusehends verändert hatte. Er war noch reservierter geworden, als er es ohnehin schon gewesen war und auch seine Aura hatte sich verändert - nicht zum Besseren.

Jetzt, im Nachhinein, war klar, warum er verschwunden war, was er getrieben hatte. Der Bastard hatte sich auf Erdengrund herumgetrieben. Nicht für die üblichen Vergnügungsausflüge, sondern um Zeit mit einem Menschenmädchen zu verbringen. Um ihr zu gefallen; so zu tun, als wäre er nicht der, der er war.

Wäre er aufmerksamer und beharrlicher gewesen, hätte er Nikolaj diesen Unsinn schon damals austreiben können. Hätte ihm zeigen können, dass es andere Wege gab, sich das zu nehmen, was man wollte. Hätte ihm zeigen können, wie viel Spaß es machte, sich seinen Sehnsüchten hinzugeben.

Womöglich wäre dann alles anders gekommen und er hätte nicht auf Nikolaj verzichten müssen. Der Halbsensat wäre mit ihm gemeinsam aufgestiegen, an seiner Seite gewesen, seine rechte Hand geworden. Stattdessen hatte er sich in seinem Menschen gemachten Netz gewunden, unterwürfig wie ein Hund, während er selbst zu einem einflussreichen und mächtigen Mann geworden war, den keiner zu unterschätzen oder herauszufordern wagte.

Dass ausgerechnet Nikolaj sich ihm entzogen und ihm obendrein ein Menschenmädchen vorgezogen hatte, ließ einen fahlen Geschmack in seinem Mund aufkommen. Niemand umging ungestraft seine Autorität oder lehnte sich gegen ihn auf. Niemand, der bei Verstand war, wagte einen solchen Drahtseilakt, da ihm ein Fall ins Bodenlose gewiss war.

Nikolaj aber hatte genau das getan; hatte ihm den Rücken zugekehrt. Und dennoch. Als der Halbsensat in einer Mischung glühenden Zorns und verwundeten Geistes bei ihm aufgeschlagen war, hatte Merkas hatte ihn bei sich wohnen lassen, ihm einen Job gegeben.

Schon als sie Kinder gewesen waren, hatte er gespürt, dass Nikolaj ihm von Nutzen sein konnte. Trotz seines menschlichen Anteils lag ein unbestreitbares Potenzial in ihm verborgen. Darauf hatte er nicht verzichten wollen. Deswegen – einzig und allein deswegen – hatte er über den Fehltritt hinweggesehen und ihm eine zweite Chance gegeben.

Dass der Bastard es nun tatsächlich wagte, das gleiche Spiel ein zweites Mal zu spielen und ihn abermals zum Narren zu halten, ging zu weit. Dieses Mal würde er die Sache nicht so einfach vergessen. Diesmal würde er dem Jüngeren eine Lektion erteilen, die ihm unmissverständlich deutlich machte, dass man ihm nicht so einfach den Rücken zukehren konnte, wenn einem der Sinn danach stand.

Er würde Nikolaj eine Lektion erteilen, die ihn bluten ließ. Langsam und genüsslich, sodass er zusehen und jeden Tropfen genießen konnte, wie einen guten Wein.

* * *

Céstine trat mit großen und selbstbewussten Schritten in den Raum, ließ sich schräg gegenüber dem schwarzhaarigen Mann in den Ledersessel fallen und betrachtete eine Weile den Tanz des im Kamin lodernden Feuers. In einer Welt, die keine universelle Wärmequelle besaß und in Düsternis lebte, brannte so gut wie immer ein Feuer.

Merkas nahm keinerlei Notiz von ihr, sodass sie nach einigen Minuten ungeduldig und verärgert das Wort ergriff. „Er ist also tatsächlich zurück zu ihr? Zu seinem Herz?“ Sie legte eine überaus angewiderte Betonung auf das letzte Wort.

„Sieht ganz so aus“, gab ihr Gegenüber tonlos zurück.

Sie presste die Lippen aufeinander, ballte die Fäuste und stierte wieder ins prassende Feuer. Bereits im Vorfeld hatte sie sich den Wahrheitsgehalt der Gerüchte bestätigen lassen. Das Gleiche nun aus Merkas Mund zu hören, wenn auch äußerst beschnitten, vermittelte ihr abermals das Gefühl ein viel zu enges Korsett zu tragen. Das wollte etwas heißen, da sie die aufreizende zweite Haut oft und gerne trug, vor allem bei vergnüglichen Bettspielen. Eigentlich sollte sie somit an deren Sitz gewöhnt sein, doch dieses Gebinde war anders. Es schien nicht auf, sondern unter der Haut zu sitzen und ihr das Innere abzuschnüren.

„Ich hoffe, du bist nicht hergekommen, um mir die Ohren voll zu jammern“, sagte Merkas schließlich, nachdem er sie einer längeren Musterung unterzogen hatte. „Du weißt, dass ich das überhaupt nicht leiden kann.“

„Es lässt dich also völlig kalt?“, fauchte sie und durchbohrte ihn mit ihren graublauen Augen. „Es ist dir egal? Du willst einfach zusehen, wie er sich zu einem zahmen und folgsamen Schoßhündchen macht – erneut? Ich hatte den Eindruck, dass es dir schon damals gegen den Strich ging, dass er sich dir entzogen hat.“

Sie hatte einen äußerst empfindlichen und explosiven Nerv getroffen, doch es war ihr egal. Wenn sie sich mies fühlte, konnte er das ruhig auch tun.

„Pass auf, was du sagst“, knurrte Merkas sie mit gebleckten Zähnen an. „Vergiss nicht, mit wem du redest. Wenn du nicht damit klarkommst, dass Nikolaj dich ersetzt hat, weil du ihm zu langweilig geworden bist, dann ist das dein Problem. Lass mich damit in Ruhe und kümmere dich selbst um deine Wehwehchen.“

Céstine ballte die Fäuste. Die Geste ließ Merkas nur noch spöttischer werden. „Schon mal darüber nachgedacht, dass deine Reize aufgebraucht sind und du deswegen niemanden mehr einlullen kannst? Vielleicht solltest du an einer Schulung für verbrauchte Sexgespielinnen teilnehmen. Möglicherweise ist noch was zu retten, möglicherweise auch nicht.“ Er bleckte die Zähne, wie eine Hyäne, genoss es ganz offensichtlich sie in Rage zu bringen, denn er setzte noch einen drauf. „Oder du wechselt einfach das Publikum. Auch wenn du verbraucht bist, gibt es bestimmt genügend zweitklassige Erdenmänner im höheren Alter, die sich geifernd die Finger nach dir lecken. Ein abgenagter Knochen ist schließlich besser als gar keiner.“

 

Merkas konnte ihr in Sachen Nikolaj womöglich noch nützlich sein, mahnte Céstine sich. Sie musste sich beherrschen und ihre Wut klug einsetzen.

Ein süßliches Lächeln auf den blutroten Lippen stand sie auf, ging auf Merkas zu und ließ sich vor ihm auf die Knie gleiten. Als sie ihre Finger leise schnurrend von seinen Waden hinauf zu den Oberschenkeln gleiten ließ, wobei sie wie zufällig sein Geschlecht streifte, zog er lediglich die Augenbrauen nach oben, sagte aber nichts. Nach und nach konnte sie spüren, wie sich die Muskeln seines Körpers entspannten und sich eine stattliche Beule in seiner Hose bildete. Sie quittierte es, indem sie sich genussvoll mit der Zunge über die Oberlippe fuhr, dabei weiter die Innenseiten seiner Oberschenkel massierte und das steife Glied langsam und sachte umspielte.

Als Merkas Kehle ein erregtes Stöhnen entwich, ließ sie ihre Hände zum Gürtel seiner Hose gleiten, um seine Männlichkeit zu befreien und ihn gefügig zu machen, für das, was sie von ihm wollte.

Im nächsten Moment wurden ihre Handgelenke umfasst und grob nach oben gerissen. Als sie aufsah, taxierte Merkas sie mit schneidender Kälte in den schwarzen Augen.

„Hast du wirklich gedacht, ich lasse mich so plump von dir um den Finger wickeln? Denkst du, ich hätte das nötig? Oder hältst du dich für so unwiderstehlich, dass du glaubst, dir könne niemand widerstehen? Wenn das so ist“, er beugte sich näher zu ihr heran, „du hast dich in beidem geirrt.“

Céstine fauchte wie eine Katze und entzog sich seinem Griff. „Wenn ich dich daran erinnern darf, dann hast du dich bereits von mir umgarnen lassen – und das nicht nur einmal. Dass du deine Libido ausnahmsweise unter Kontrolle hast, macht deine Gier auf mich nicht vergessen oder weniger präsent.“

Merkas Augen funkelten, als er sein Gesicht zu einer arroganten Maske formte. „Sag endlich, was du von mir willst, damit ich dich los bin. Du langweilst mich allmählich.“

Céstine erhob sich, ließ sich wieder in den Sessel fallen und schlug erneut die Beine übereinander. Es lief ganz und gar nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Weder ging er auf ihre verbalen noch auf ihre körperlichen Argumente ein.

Eine Weile lang schwieg sie und sah ihn nur bohrend an, dann versuchte sie es über den sachlichen Weg. „Ich dachte, dass wir das gleiche wollen – oder mehr, das gleiche nicht wollen. Wenn du ehrlich bist, bist du genau wie ich der Meinung, dass es eine Schande ist, wenn Nikolaj seine Natur und seinen Platz verleugnet. Eine Schande für ihn und auch für uns. Warum also sollten wir nicht zusammenarbeiten und ihn gemeinsam von seinem Fehler überzeugen? Zu zweit sind wir–“

„Wenn ich etwas will“, unterbrach Merkas sie träge und zugleich überaus schneidend, „oder nicht will, dann sorge ich dafür, dass sich alles so fügt, wie ich es mir vorstelle. Dazu brauche ich niemand anderen. Ich habe keine Schwierigkeiten mich durchzusetzen oder bleibenden Eindruck zu hinterlassen.“

Sie fixierte ihn provozierend. „Ist das dein letztes Wort? Du hast kein Interesse ihn wieder an deiner Seite zu haben?“

„Ich sehe keinen Grund, warum ich das gerade mit dir besprechen sollte, Céstine.“

„Wie du meinst“, lachte sie spöttisch. „Erstick doch an deinem Größenwahn. Du kannst dir in Zukunft selbst einen runterholen.“

Es klopfte. Einen Moment darauf trat ein kräftiger Mann durch die Tür, der sich sogleich an Merkas wandte.

„Boss, Toratan und seine Männer sind da. Sie warten in der Blackbox auf dich.“ Merkas nickte dem Mann zu, woraufhin dieser wieder aus dem Zimmer verschwand.

„Tja, du hast es ja selbst gehört. Die Geschäfte rufen. Du findest sicher alleine raus.“ Merkas bedachte sie nochmals mit einem höhnischen Grinsen, dann überließ er die Sensatin sich selbst.

Sie würde allein herausfinden müssen, wo Nikolaj sich verkrochen hatte, um vor dem Menschengör zu Kreuze zu kriechen. Wenn es jemanden gab, vor dem er kriechen sollte, dann war sie diejenige, sie ganz allein.

Bei dem Gedanken an einen vor ihr knienden Nikolaj, die Zunge in ihrem Schoß, lief ein erregtes Prickeln durch ihren Körper und ließ hungrige Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen aufkommen.

Ein vergnügliches Lächeln auf den Lippen, begleitet von der Absicht, diesen Gedanken baldigst in die Realität umzusetzen, verließ Céstine das Marofláge.

FÜNF


Josh war ihrem Vorschlag glücklicherweise nicht gefolgt. Sie hatte ihm aber auch nicht wirklich eine Möglichkeit gegeben, es zu tun. Nach einem ausladenden Bad hatte sie noch eine ausgiebige Weile im Badezimmer herumgetrödelt, sodass sie erst wieder herausgekommen war, als sich draußen schon trübe Dunkelheit breitgemacht hatte. Danach hatte sie direkt im Krankenhaus angerufen und sich für die nächsten Schichten krankgemeldet – das galt zumindest als halbwegs akzeptable Ausrede für Nichterscheinen. Die Freude über diese Mitteilung war ihrer Kollegin dennoch aus jeder Silbe herauszuhören gewesen. Erst als das geklärt war, hatte sie Josh aufgesucht, den sie, wie so oft, in seinem Arbeitszimmer angetroffen hatte. Sie hatte vorgeschlagen etwas vom Italiener zu bestellen, da ihr Körper offenkundig nach weiterem Kraftstoff verlangt hatte. Schließlich hatten sie gemeinsam ihre Pasta verschlungen und oberflächlichen Smalltalk betrieben. Gwen selbst hatte immer noch ein wüstes Chaos im Kopf gehabt und Josh war immer noch spürbar verstimmt gewesen. Sie hatte es ihrem Freund nicht verübeln können, da sie wusste, dass er es nicht leiden konnte, wenn man ihn anlog oder ihm etwas verschwieg. Und dass sie nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte, hätte wahrscheinlich auch ein Laie auf Anhieb erkannt. In Anbetracht Joshs beruflicher Orientierung und Ausbildung hatte er den Braten einfach nochmals um Längen deutlicher riechen können.

Nach dem verkrampften Abendessen hatte sie sich direkt ins Bett verabschiedet und war eben erst wieder wach geworden. Zwar hatte ihr die Nacht keinen Traum wie tags zuvor geschenkt, doch hatte sie ihr dankbarerweise eine traumlose Bettruhe ohne Verfolgungsjagden, blutige Szenarien oder Bösewichte gewährt. Dass sie abermals wie eine Tote geschlafen und nicht einmal wachgeworden war, war eindeutig ein Zeichen dafür, dass sich ihr Körper und Geist immer noch in der Genesungsphase befanden und sich ohne Zögern komplett ausklinkten, wenn sie die Möglichkeit dazu bekamen.

Gwen rollte sich zur Seite, um auf ihren Wecker zu spähen. Es war kurz vor halb zehn, Sonntagmorgen. Die Bettseite von Josh war bereits leer.

In Gedanken ging sie die Optionen durch, wohin ihr Freund abgerauscht sein konnte. Möglich, dass er bereits wieder am Schreibtisch saß, eine Runde joggte oder beim Bäcker Brötchen holte, um Frühstück herzurichten, wie er es manchmal am Wochenende tat.

Auf dem Rücken liegend, starrte sie an die Zimmerdeckte. Was Nick wohl gerade machte?

Beim Gedanken an ihn formten sich zwei Bilder vor ihrem inneren Auge. Auf dem einen stand sie, die Hände in die Hüfte gestemmt, da und machte ihn ordentlich zur Schnecke. Auf dem anderen lagen sie auf einer Decke im Park und beobachteten den Sternenhimmel. Auch wenn das erste Bild seinen Reiz hatte, übte das zweite eine noch größere Anziehungskraft auf Gwen aus, weswegen sie beschloss, Nikolaj einen Besuch abzustatten. Sie musste sich lediglich eine Ausrede für Josh überlegen – schon wieder. Eigentlich wollte sie ihn nicht anlügen; im Moment sah sie allerdings keine andere Möglichkeit.

Sie kletterte aus dem Bett und schlich den Gang entlang. In seinem Arbeitszimmer war Josh nicht, im Bad auch nicht, ebenso wenig wie im Wohnzimmer oder der Küche. Als ihr Blick auf einen kleinen Zettel fiel, der neben der Kaffeemaschine und einer Tasse lag, huschte ein liebevolles und zugleich schuldbewusstes Schmunzeln über ihre Lippen. Josh kannte sie so gut, dass er wusste, dass die Kaffeemaschine nach der Morgentoilette ihr erstes angesteuertes Ziel war - und sie log ihn an.

Sie griff nach dem Papier und las die handschriftliche Nachricht.

Habe einen Anruf bekommen. Muss mich noch mal mit einem Klienten treffen und ein paar Details durchgehen. Keine Ahnung, wie lange das dauert. Hoffe du fühlst dich inzwischen besser. Bis später. Kuss, Josh.

Gwen spürte, wie sich ein Knoten in ihrer Brust bildete und noch mehr Schuldgefühle verströmte. Das war die schlechte Seite dieser Situation. Die Gute war, dass sie sich nun keine Ausrede ausdenken und somit keine weitere Lüge in die Welt setzen musste.

Nachdem sie sich im Eiltempo eine Tasse heiß dampfenden Kaffee genehmigt hatte, schlüpfte sie in Jeans und Pullover, frischte sich kurz auf und machte sich auf den Weg zu Nick. Sie hoffte inständig, dass sie noch vor Josh zurück sein würde; andernfalls brauchte sie schneller eine neue Ausrede als ihr lieb war.

Auf der kurzen Strecke zu Nikolajs Wohnung kreuzten nur wenige Menschen ihren Weg. Hauptsächlich Passanten, die mit ihrem Hund spazieren gingen, Brötchen vom Bäcker oder die Zeitung vom Kiosk holten. Sicherlich genoss die überwiegende Mehrzahl den freien Tag, um sich ordentlich auszuschlafen und einen relaxten Morgen zu genehmigen. Gwen überlegte, wann sie das letzte Mal einen solchen Sonntag verbracht hatte, konnte sich aber nicht erinnern, was eindeutig dafür stand, dass es zu lange her war.

Schließlich erreichte sie das rote Backsteingebäude, in dem Nikolajs Wohnung lag. Gerade, als sie klingeln wollte, stieß sie sich erneut an der Tatsache, dass sie seinen Nachnamen nicht kannte. Ob sie einfach irgendwo läuten sollte?

Sie biss sich auf die Unterlippe, wippte unschlüssig vor und zurück, und lehnte sich dann, mehr in letzter Hoffnung, gegen die Eingangstür. Verwundert, aber erfreut, stellte sie fest, dass sie nicht verschlossen war, sodass sie das Gebäude problemlos betreten konnte.

Die Treppen gemächlich hinaufsteigend, machte sie schließlich im fünften und letzten Stock halt und beäugte die drei im Gang befindlichen Wohnungstüren.

Welche davon war nun die Richtige?

Sie ging nochmals zum Treppenabsatz zurück, schloss die Augen, tat ein paar Schritte und öffnete sie wieder. Sie stand einen Schritt entfernt von einer Tür auf der linken Seite. Ob sie ihrem Gefühl trauen und klopfen sollte? Was, wenn es doch der falsche Stock war? Oder die richtige Etage, aber die falsche Tür?

Gwen atmete tief durch, dann hämmerte sie etwas zögerlich gegen das Holz. Nichts rührte sich. Vielleicht drang ihr Klopfen nicht bis ins Innere? Vielleicht war Nick auch einfach nicht da - sofern es überhaupt Nicks Wohnung war.

Nachdem sie ein drittes Mal geklopft hatte, hörte sie Schritte, dann öffnete sich die Tür. Dahinter stand, welch eine Erleichterung, Nick. Einzig bekleidet mit einer ausgewaschenen Cargo-Jeans und einem weißen Handtuch, das er sich um die Schultern geworfen hatte. Wasser perlte von seinen Haarspitzen auf seinen nackten Oberkörper, welcher, wie vorausgesehen, muskulös gebaut war, jedoch ohne bullig oder wie mit Anabolika aufgepumpt auszusehen. Eine starke Brust, die Schutz und Geborgenheit versprach und problemlos jedes Frauenherz in Ekstase versetzen konnte. Eine starke Brust, die im Moment vor allem Gwens Herz in Ekstase versetzte und schneller schlagen ließ.

Ein heißes, vibrierendes Kribbeln entfachte in ihren Fingerspitzen, ganz so, als sehnten sie sich danach eine Erkundungstour über Nicks nackte Haut zu machen und herauszufinden, wie sie sich anfühlte. Sie widerstand dem Drang die Hand zu heben und platzte stattdessen mit dem ersten Wort heraus, das ihr in den Sinn kam. „Donnerwetter.“

Nikolajs Antwort war ein schalkhaftes Lachen. Als er sich wieder gefangen hatte, trat er einen Schritt zur Seite und bat sie herein.

Gwen benötigte einige Sekunden, ehe sie sich aus ihrer bewundernden Versteinerung lösen und in die Wohnung treten konnte. Ganz sicher waren ihren Wangen gerötet; sie könnte spüren, dass es so war.

„Waren wir verabredet? Ich dachte, ich hätte gesagt, dass ich bei dir vorbeikomme. Das wäre ich, nachdem ich dir eine kleine Auszeit gegönnt habe. Aber ich freue mich natürlich, dass du hier bist. Setz dich, ich ziehe mir nur noch schnell ein Shirt über. Außer“, ein Funkeln huschte durch seine Augen, „du möchtest meinen Prachtkörper noch etwas länger begutachten?“

 

Gwen streckte ihm die Zunge heraus. Gerötete Wangen und kindliches Benehmen – was war nur mit ihr los?

In sich hineinlachend tapste Nikolaj auf nackten Füßen ins Schlafzimmer und kam, ein paar Augenblicke später, in ein weißes Langarmshirt gekleidet zurück.

„Also, was beschert mir die Ehre? Hat dein Freund dich einfach so abhauen lassen? Zu mir?“ Nikolaj ging um die Theke herum, füllte seine Tasse mit Kaffee und sah sie fragend an.

„Nein danke, ich hatte schon eine Tasse.“ Als er einen Schluck nahm, sagte sie: „Oder doch, warum eigentlich nicht.“

Augenscheinlich amüsiert über ihre Unentschlossenheit, füllte Nikolaj eine zweite Tasse und schob sie zu ihr herüber.

Gwen nippte daran, ehe sie erklärte: „Josh weiß eigentlich gar nicht, dass ich hier bin. Er war schon weg, als ich aufgestanden bin. Aber ich muss dringend was mit dir besprechen.“

„Ich bin ganz Ohr.“

„Wegen gestern Nacht. Ich habe Josh nichts von dem erzählt, was passiert ist – oder besser: Ich habe einen Großteil davon weggelassen. Ich habe ihm gesagt, dass ich auf dem Heimweg vom Krankenhaus zufällig meinem besten Freund aus Kindertagen über den Weg gelaufen bin und so hin und weg war, dass ich ganz vergessen habe, mich bei ihm abzumelden. Ein paar Gläser Alkohol zur Feier des Tages hätten den Rest erledigt.“

Nikolaj nippte an seinem Kaffee, erst dann sagte er: „Warum hast du ihm nicht die Wahrheit gesagt?“

Abermals fühlte Gwen sich wie eine Angeklagte im Gerichtssaal. „Tja, ich hielt das für besser. Josh ist Staatsanwalt. Er hätte, nun, hätte ich ihm von den beiden Kerlen, deinem Auftauchen und meiner Rettung erzählt, hätte ich wohl auch das mit dem … dann hätte ich wohl auch erwähnen müssen, dass die beiden Männer tot sind. Ich schätze, dass er das nicht so einfach auf sich beruhen hätte lassen. Du Thema und sprach hastig weiter. „Ich wollte weißt ja, wie Anwälte sind. Sie geben nicht eher Ruhe, ehe das Recht gewonnen hat. Wobei Recht und Unrecht unterschiedlich ausgelegt werden können, ebenso wie die Wahrheit.“ Sie spürte ihren inneren Konflikt in Bezug auf dieses einfach nicht, dass er irgendwelche Ermittlungen oder dergleichen in die Wege leitet. Ich dachte, das wäre auch in deinem Interesse.“

Nikolaj schwieg einen langen Augenblick, dann stellte er fest: „Du hast also meinetwegen gelogen. Was–“

„Ich habe nicht gelogen“, fuhr sie ihm ins Wort. „Ich habe lediglich ein paar Details ausgelassen. Wir haben uns ja wirklich das erste Mal seit damals wiedergesehen und ich war ja wirklich hier bei dir, habe Bourbon getrunken und vergessen Josh anzurufen. Dass ich-“

„Du musst dich nicht vor mir verteidigen.“ Nun war Nikolaj es, der sie unterbrach. „Ich will dich bloß verstehen. Du hast also ein paar Details ausgelassen, schön und gut. Hast du sie nur wegen Josh oder besser wegen mir ausgelassen oder auch wegen dir?“

„Wie meinst du das?“

„Ich kann nachvollziehen, dass Josh die Sache ziemlich aufwirbeln könnte – und würde. Weil das für ihn selbstverständlich und natürlich wäre. Aber was ist mit dir? Du hast gestern nicht viel dazu gesagt, dennoch war es nicht zu übersehen, dass dir die Sache mit den beiden ziemlich zugesetzt hat.“

„Na hör mal!“, empörte sie sich. „Jeder Frau würde so ein Überfall an die Nieren–“

„Ich rede nicht von den perversen Absichten der Typen, sondern von der Tatsache, dass sie tot sind. Dass du gesehen hast, wie ich sie getötet habe.“

Gwen war klar gewesen, was er meinte. Dennoch hatte sie gehofft den Fokus irgendwie ableiten zu können. „Nick, wenn du nicht gekommen wärst, hätten diese Kerle mich … Der Kerl wollte dich aufschlitzen, hast du das schon vergessen? Klar geht mir das an die Nieren. Man sieht nicht jeden Tag dabei zu, wie Menschen sterben.“

„Ich dachte, das passiert in Krankenhäusern zwangsläufig das ein oder andere Mal?“

„Das ist nicht lustig, Nick!“, schallt sie ihn.

„Das sollte auch nicht lustig sein. Ich will nur, dass du damit rausrückst, was sich wirklich in deinem Kopf abspielt!“

„Im Moment nicht sonderlich viel. Da herrscht ziemliches Chaos, um ehrlich zu sein.“

Nikolaj taxierte sie mit einem strengen Blick, sodass Gwen rasch nachsetzte: „Ich sehe Menschen nun mal nicht gerne sterben, Nick. Egal, ob im Krankenhaus oder sonst wo. Ich verstehe das einfach nicht. Ich weiß nicht, wie man so etwas tun kann, wie man einen anderen Menschen absichtlich verletzen oder ihn töten kann.“ Sie hielt kurz inne, holte tief Luft. „Was passiert ist lässt sich nicht mehr ungeschehen machen. Du hattest nicht geplant diese Kerle zu töten. Du hast nicht vorsätzlich gehandelt. Du bist mir zu Hilfe gekommen, hast mich gerettet und dann hast du dich selbst verteidigt.“

„Aber dennoch ist es für dich falsch, was ich getan habe, nicht wahr? Es ist und bleibt Mord. Und ich bin und bleibe ein Mörder.“

„Du bist kein Mörder. Du–“

„Du widerlegst gerade deine eigenen Worte, Gweny.“

„Können wir die Sache nicht einfach vergessen?“, bat sie energisch und bittend zugleich. „Nichts lässt sich mehr ungeschehen machen. Ich will nicht, dass dir irgendwas passiert, nur, weil du mir geholfen hast. Ich will nicht, dass das dein ganzes Leben durcheinander bringt. Sie sind tot, Nick, daran wird nichts etwas ändern. Belassen wir es dabei. Außerdem, wer sagt, dass irgendjemand das Recht hat über dich zu richten, dich dafür zu bestrafen?“

Sie atmete tief durch. „Bitte denk daran, wenn du dich mit Josh unterhältst. Denk daran, was ich ihm über die gestrige Nacht erzählt habe.“

Nikolaj kam um die Theke herum und baute sich dicht vor ihr auf. „Und du? Kannst du so einfach vergessen?“

„Ja.“ Ihre Antwort war Entschlossenheit und Wunsch zugleich.

„Macht es Sinn noch weiter mit dir darüber zu diskutieren?“

Sie schüttelte den Kopf.

Nikolaj taxierte sie noch einen Augenblick, dann sagte er mit einem tiefen Seufzen, das wohl auch ein Grollen gewesen sein könnte: „In Ordnung.“

Gwen atmete auf – ein wenig zu früh.

„Eines möchte ich noch wissen. Hat Josh dir deine Geschichte abgekauft? Ich war immer der Meinung, dass Anwälte so was wie einen siebten Sinn für Lügen, ich meine, Aussparungen von Details haben. Hat er keine weiteren Fragen gestellt?“

„Ich bin mir sicher, dass ihm einige Fragen im Kopf herumgegangen sind; das liegt Anwälten im Blut. Ich glaube aber, dass er beschlossen hat, sich mit meiner Aussage zufriedenzugeben. Ich habe ihm gesagt, dass ich dich bei nächster Gelegenheit vorstelle. Wenn du meine Geschichte überzeugend bekräftigst, sollte er zufrieden sein, denke ich.“

Nikolaj nickte. „In Ordnung.“

Erleichtert ließ Gwen die Anspannung aus ihren Schultern weichen. „Okay, ich muss dann jetzt auch wieder los, ehe Josh zurück ist. Sonst kann ich mich mir gleich die nächste Ausrede zurechtlegen.“

„Gweny.“ Nikolaj hatte ihren Arm gepackt. „Es tut mir leid. Das Ganze, meine ich.“

„Du warst nicht derjenige, der mich in eine dunkle Gasse gezerrt hat und sich an mir vergehen wollte. Du warst mein Retter. Außerdem … wer weiß, wie lange ich mir sonst noch den Kopf darüber zerbrechen hätte müssen, wo du bist und wie es dir geht“, erwiderte sie matt lächelnd.

Nikolaj zwirbelte eine Strähne ihres Haares zwischen den Fingern. All die Zeit über hatte sie sich so sehr nach ihm und seiner Nähe gesehnt. Warum nur musste solch ein düsteres Chaos ihr Wiedersehen überschatten?

„Kommst du bei mir vorbei?“, wollte sie mit leiser Stimme wissen. „Ich weiß nicht, wann Josh zurückkommt, deswegen ist es besser, wenn ich gleich wieder zurückgehe, um auf jeden Fall Zuhause zu sein, wenn er heimkommt. Aber du könntest nachkommen? Vielleicht so in einer viertel bis halben Stunde? Falls er auftaucht, kann ich euch bekanntmachen und wenn nicht, haben wir Zeit für uns.“

„Ich werde sehen, was ich machen kann.“

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