Die Sehnsucht nach dem nächsten Klick

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Sabria David

Die Sehnsucht nach dem nächsten Klick

Medienresilienz – wie wir glücklich werden in einer digitalen Welt

Patmos Verlag

Inhalt
Vorwort

Auftakt: Verstehen, was passiert

Glück in einer digitalen Welt

Suchen und Sehnen: Was uns ins Netz zieht

Bindung macht glücklich

Kontakt und Bezug

Die Rückkehr der Mündlichkeit

Narration – Geschichten, die uns mit der Welt verbinden

Reoralisierung – Das Gespräch hält Einzug in die Schriftkultur

You are the poet – Die Auflösung der Grenzen zwischen Sender und Empfänger

Der Wunsch nach Teilen, Mitteilen, Austauschen

Teilhabe, Partizipation, Prosumenten

Verantwortung und Selbstorganisation

Plattformkapitalismus und Sharing-Culture

Das Netz als Spiegel und Zeugnis meiner selbst

Spuren der Selbstbezeugung

Entfremdung und Verlust

»Ich« und »Wir« im digitalen Raum

Raum, Heimat und Grenzen

Grenzen in Zeiten der Globalisierung

Die Rückeroberung des öffentlichen Raumes

Und wir brauchen sie doch: Heimat

Permanent beta: Alles fließt. Leben in ständiger Veränderung

Medienresilienz in der Praxis

Praxis Arbeit: Wie eine gute digitale Arbeitskultur gelingt

Praxis Bildung: Früh übt sich in Elternhäusern und Schulen

Praxis Gesellschaft: Was uns verbindet

Schluss und Ausblick

Dank

Nachbemerkung

Literatur

Anmerkungen

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Vorwort

»Das macht voll glücklich!«, sagte ein mir vertrauter, sehr lieber junger Mensch, strahlend von seinem Handy aufsehend. Glücklich? Ein Handy? Kann Technik jemanden glücklich machen?

Ja. Und nein. Es ist natürlich nicht die Technik selbst, die diesen jungen Menschen glücklich macht. Es ist der Kontakt mit der geliebten besten Freundin, der ihn in diesem Moment mit Strahlen und Glück erfüllt.

»Daran ist die Digitalisierung schuld!«, höre ich auf der anderen Seite oft. Ob Arbeitsplatzabbau, Bildungsdefizite, Hatespeech, der Verfall der Sprache, die Verrohung der Gesellschaft oder allgemein der Niedergang der Menschheit – die Digitalisierung muss (ausgesprochen oder unterschwellig) als Ursache für viele Übel unserer Zeit herhalten. Ist das so? Ist die Digitalisierung schuld an allem, was in unserer Gesellschaft schiefläuft? Natürlich nicht. An den meisten Effekten, die wir als negativ wahrnehmen, ist nicht die Digitalisierung selbst schuld, sondern unser Umgang mit ihr. Oder: das, was wir aus der Digitalisierung und mit ihr machen. Oft ergeben sich gerade aus der Kombination von Wirtschaftlichkeitslogik und digitalen Einsparpotenzialen Entscheidungen, die zwar wirtschaftlich effizient sind, sich aber ungut auf die Gesellschaft als Ganze auswirken. Tun wir uns einen Gefallen damit, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aspekte von Entscheidungen isoliert zu betrachten?

Wenn es demnächst keine Kassiererinnen mehr gibt, die uns an der Supermarktkasse beim Bezahlen unserer Alltagswaren – ­wenigstens kurz – in die Augen sehen, dann ist das nicht eine zwangsläufige Folge aus der Möglichkeit, den Kaufprozess zu digitalisieren. Wenn Menschen, die Zeugen eines Autounfalls werden, die Rettungskräfte behindern, die Verletzten filmen und die Videos zeitgleich online posten, dann ist auch da nicht die Digitalisierung das eigentliche Problem.

Wenn ein Bildungssystem entscheidet, in den Grundschulen auf das Einüben einer Handschrift zu verzichten (Wegen der Digitalisierung! Es schreibt ja eh keiner mehr mit der Hand!), dann ist auch das eine Entscheidung und keine Notwendigkeit. Die Tatsache fortschreitender digitaler Kommunikation und Texterfassung zwingt in keiner Weise dazu, eine jahrtausendealte, bewährte und neurophysiologisch relevante Kulturtechnik wie die Handschrift abzuschaffen. Im Gegenteil könnte man daraus auch folgern, dass es umso notwendiger ist, die verschiedenen Kommunikationsformen sattelfest und trennscharf zu beherrschen: Befinde ich mich gerade in mündlicher oder schriftlicher Kommunikation? In Schrift oder gesprochener Sprache? Wie kann ich meinen Gedanken in welcher Form Ausdruck verleihen? Digitalisierung wird hier oft zu einem Feigenblatt für ganz andere gesellschaftliche Prozesse, die nicht immer auf den ersten Blick sichtbar sind. Sind diese Entscheidungen im Kontext der Digitalisierung getroffen, wirken sie sich wiederum auf die Gesellschaft und unseren öffentlichen Raum aus: Wird es demnächst noch Straßenschilder und Wegweiser geben, wenn sich die Menschen zunehmend mit Navigationssystemen orientieren? Gibt es dann noch einen Weg zurück, wenn das Navi ausfällt? Welche Auswirkungen hat es auf die Weltmärkte, wenn Hochfrequenzhandel nur noch automatisiert erfolgt? Verändert es die Gesellschaft, wenn nicht mehr Busfahrer, sondern künstliche Stimmen die Haltestellen ansagen?

Alle Digitalisierungsprozesse sollten auch auf mögliche gesellschaftliche Auswirkungen überprüft werden. Das hilft, Digitalisierung wirklich produktiv, sinnvoll und effektiv – zum Guten – zu nutzen, damit sie ihre Potenziale entfalten kann. Herauszufinden und zu definieren, was dieses »gut« für uns bedeutet, ist dabei eine wichtige gesellschaftliche Debatte, der wir nicht ausweichen sollten. Sie wird uns helfen, eine positive Vision zu entwickeln, die unserer Gesellschaft eine Richtung gibt.

Wenn es üblich wird, sich ausführlich im Einzelhandel zu beratungsintensiven Produkten beraten zu lassen und dann nach Hause zu gehen und sie sich online billiger zu bestellen, wird das Folgen haben. Es wird Folgen für die Geschäfte haben, die ihre Ladenmieten und die beratenden Mitarbeiter bezahlen müssen, ohne ihre Produkte verkaufen zu können. Werden diese Läden aufgegeben, wird sich das auf unsere Innenstädte auswirken, auf unseren öffentlichen Raum, auf uns alle. Man kann das so entscheiden. Aber an den Folgen ist nicht die Digitalisierung schuld, sondern eher ein gesellschaftliches Klima, in dem Solidarität kaum Wert hat und das isolierte Betrachten des Eigeninteresses legitimiert und begünstigt wird.

Alles hängt mit allem zusammen, ob wir wollen oder nicht. Gerade in Zeiten der Globalisierung. Die seltenen Erden in unseren Mobiltelefonen stammen aus afrikanischen Ländern, in denen Bürgerkrieg herrscht, vor dem Menschen nach Europa fliehen. Unsere preisgünstigen Möbel bestehen aus Sperrholz, für das in Rumänien Wälder abgeholzt werden. Unsere T-Shirts werden in asiatischen Textilfabriken hergestellt, in denen Kinder arbeiten, anstatt zur Schule zu gehen. Ein Virus kann sich über unsere Reiseroutinen blitzschnell um den Globus verbreiten. Und wenn die weltweite Zulieferung von Autoteilen, Desinfektions- und Arzneimitteln sich auf wenige Monopole einer Weltregion beschränkt, betrifft uns das alle. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Wenn wir also von Verantwortung sprechen, müssen wir von uns sprechen. Denn wir können zwar die Digitalisierung von den Folgen der Veränderungen freisprechen, aber nicht uns selbst. Wir tragen die Verantwortung dafür, wie wir mit einem so mächtigen ­Instrument wie digitaler Technik umgehen. Wir tragen die Verantwortung dafür, wo wir ihre Fähigkeiten nutzen und wo wir auf das Machbare verzichten, weil es uns in die falsche Richtung führt.

 

Was aber ist die falsche Richtung? Also: Was ist die richtige Richtung? Wo wollen wir hin? Wo wollen wir hin mit uns, mit unserer Gesellschaft? Wo soll uns unser Fortschritt hinführen?

Das genau ist unsere Verantwortung: Uns Gedanken darüber zu machen, welche digitale Gesellschaft wir überhaupt haben wollen; inmitten von ständiger Veränderung den Mut zu Visionen zu haben, und die Welt um uns herum so zu gestalten, wie wir es erstrebenswert finden.

Dafür müssen wir aber zuerst verstehen, was überhaupt mit uns passiert, mit diesem digitalen Wandel. Der digitale Wandel ist wie ein Resonanzkörper. Er macht gesellschaftliche Prozesse sichtbar, er eskaliert Herausforderungen, er spiegelt menschliche Bedürfnisse und gesellschaftliche Mankos wider. Wie durch eine Glaskugel können wir in das Innere unserer Gesellschaft sehen. Wir finden dort unsere große Welt im Kleinen. Deswegen müssen wir, wenn wir nach der Digitalisierung fragen, immer auch nach dem großen Ganzen der Gesellschaft fragen – wenn wir ehrlich zu uns sind.

Durch die Digitalisierung stehen wir unausweichlich vor Veränderungen, die uns zwingen, unsere Grundannahmen zu überprüfen und unsere Prozesse anzupassen. Die Digitalisierung ist eine große Infragestellung aller unserer gewachsenen Routinen – und das ist gut so! Die guten und wichtigen Traditionen können wir so erkennen und wiederbeleben. Von Routinen und Annahmen, die uns schaden oder bremsen, können wir uns trennen und Raum für geeignetere Lösungen schaffen. Was Digitalisierung angeht, müssen wir unsere Gesellschaft ohnehin neu ausrichten. Das ist eine Chance. Hier haben wir Gestaltungsraum. Lassen Sie uns herausfinden, was für uns eine resiliente digitale Gesellschaft bedeutet, und die Rahmenbedingungen dafür aufbauen. Lassen Sie uns die Welt im Kleinen nutzen, um unsere Welt im Großen zu gestalten. Dann kommen wir auch der guten Gesellschaft ein Stück näher.

Auftakt:
Verstehen, was passiert

Nach der Jahrtausendwende haben digitale Technologien und soziale Medien ihren Siegeszug angetreten und schon binnen dieser kurzen Zeit unser Leben radikal verändert. Die Digitalisierung ist die große gesellschaftliche Herausforderung, sie erfasst die unterschiedlichsten Bereiche unseres Lebens.

Bei diesem tiefgreifenden Wandel stellen sich Fragen: Was bedeutet der digitale Wandel für unser ganz persönliches Leben, für den Umgang mit anderen, für die Gesellschaft, für Unternehmen? Jenseits des Alarmismus wollen wir fragen: Was macht dieser Wandel mit uns, wie können wir diese Entwicklung positiv und proaktiv steuern? Und schließlich: Wie gelingt es uns, als Menschen in einer digitalisierten und globalisierten Welt souverän und – ja sogar – glücklich zu sein? Wie kann eine gute resiliente digitale Gesellschaft gelingen?

Voraussetzung dafür ist, überhaupt zu verstehen, was den digitalen Wandel ausmacht und welche gesellschaftlichen und menschlichen Bedürfnisse er bedient.

Die Debatte um Digitalisierung steht stellvertretend für unser Unbehagen in Bezug auf den technologischen Fortschritt. Technologiekritik ist natürlich kein neues Phänomen1. Neue Technologien – und sei es die Straßenlaterne – haben Menschen immer schon irritiert, in ihren Gewohnheiten gestört, aufgescheucht und zu Veränderungen genötigt, die sie mit Unwillen quittierten. Aber es lohnt sich, unser Unbehagen in punkto Digitalisierung näher anzusehen, zu verstehen, was passiert, damit wir handeln können.

Der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan hat 1967 in seinem experimentellen Collagen-Werk »The Medium is the Massage«2 auf die Parallele zwischen den Veränderungen der Medienwelt und dem Strudel aus Edgar Allan Poes Kurzgeschichte »A Descent into the Maelström« hingewiesen. Ein Blick in die Originalquelle3 gibt ihm recht. In dieser Geschichte treiben zwei Brüder in einem Boot unaufhaltsam auf einen allesverschlingenden Meeresstrudel zu. Lähmendes Entsetzen erfasst sie, als sie feststellen, dass sie die Kontrolle über die Situation verloren haben. Nachdem der Erzähler zuerst vor Entsetzen die Augen schließt, erlangt er schließlich doch seine Handlungsfähigkeit wieder. Die Wende kommt damit, dass er die Augen wieder öffnet und trotz seines Entsetzens einen Blick in den Abgrund wagt: Er beobachtet, mit welchen Mechanismen der Strom funktioniert und nach welchen Gesetzen welche Gegenstände sich wie im Strudel verhalten. Er sieht, dass kleine zylindrische Gegenstände länger oben treiben, während große schnell herabgezogen werden. Daraus schließt er, dass er das Boot verlassen muss und überleben könnte, wenn er sich statt am vertrauten Boot an einem kleinen, mobilen Fass festhielte. Sein Bruder indessen verharrt in seiner Lähmung und mag sich ihm nicht anschließen. Er klammert sich an das Boot – wir können sagen: an das Vertraute, ihm Bekannte, das ihm bisher Schutz gegeben hat. Der Erzähler – entschlossen, die Konsequenzen aus seinen Beobachtungen und Schlussfolgerungen zu ziehen – handelt und wechselt ins Ungewisse. Auf einem kleinen Fass überlebt er als Einziger den Abgrund, während das Schiff mitsamt seinem festgeketteten Bruder untergeht.

Die Verben, die Edgar Allan Poe im Lauf der Erzählung seinem Erzähler nach dieser Wende zur Selbstkontrolle in den Mund legt, geben auch eine gute Anleitung für den konstruktiven Umgang mit unserem heutigen digitalen Wandel: beobachten, wahrnehmen, reflektieren, neugierig sein, erforschen wollen, den Schrecken loswerden, der einen überwältigt, eine freie Sicht erhalten, mit Interesse beobachten und die Augen öffnen für das Wunder dessen, was passiert.4

Der Moment, in dem der Erzähler das Heft in die Hand nimmt, ist das, was ich – auf den digitalen Wandel übertragen – Mediensouveränität nenne: der Wechsel von einem reflexhaften zu einem reflektierten Umgang mit der Technologie. Dieser Mediensouveränität liegt zugrunde, dass wir selbst die Verantwortung für uns und unser Handeln übernehmen. Wir beginnen, unsere digitale Welt aktiv zu gestalten. Wir machen uns die Technik zu Diensten, anstatt ihr zu dienen. Wir entwickeln neue Kulturtechniken und Verhaltensregeln, die den Veränderungen entsprechen.

Meine Arbeit der letzten zehn Jahre ist für mich dabei wie eine Feldstudie zum Verständnis des Mahlstroms des digitalen Wandels. Sie speist sich aus theoretischer und höchst praktischer Auseinandersetzung mit dem digitalen Wandel in den Theorien, aber auch an der Werkbank im täglichen Arbeits- und Lebensalltag der Menschen, aus einer eigenen quantitativen Studie und einer Vielzahl von Begegnungen, Vorträgen, Diskussionen, Gesprächen – sprechend, zuhörend, schreibend.

Steigen Sie mit mir hinab in den Mahlstrom! Haben Sie keine Angst. Soyez courageux! Es sind aufregende Zeiten. Gute Zeiten für Menschen mit Gestaltungswillen.

Glück in einer digitalen Welt

Was macht uns glücklich? Das ist eine Urfrage der Menschheit. Sie verlangt eine Vorstellung von Vergangenheit und Zukunft und eine Vorstellung von uns selbst, also die Fähigkeit zur Reflexion. Wir können uns keine Tiere vorstellen, die sich die Frage nach dem Glück stellen. Das Glück – und vor allem das Streben nach Glück – ist eine zutiefst menschliche Angelegenheit. »Denn glücklich zu sein, das ist ja der erste aller unserer Wünsche, der laut und lebendig aus jeder Ader und jeder Nerve unseres Wesens spricht.« So schreibt Heinrich von Kleist in seinem »Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den größten Drangsalen des Lebens – ihn zu genießen«.

Zugleich ist die Frage nach dem Glück auch ein großer Luxus, denn erst, wenn das nackte Überleben gesichert ist, kümmert uns das Glück. Unsere Grund- und Sicherheitsbedürfnisse stehen an erster Stelle der sogenannten Bedürfnispyramide. Erst wenn sie gesichert sind, regen sich unsere Bedürfnisse nach Selbstverwirk­lichung und Glück.

Interessanterweise ist es leichter zu benennen, was einen unglücklich macht, was einen ärgert, wie etwas nicht sein soll. Dieses Buch aber verschreibt sich entschieden einem positiven Blick. Also machen wir uns die Mühe zu benennen, wie wir es haben wollen.

Geht es uns gut? Wir können diese Frage nicht mit Geschäftsklimaindexen und Bruttonationaleinkommen beantworten. Was hat es – jenseits der Grenze, ab der sich die Frage nach Glück überhaupt stellt – mit Einkommen und Kaufkraft zu tun, ob es uns gut geht? Hans im Glück erreicht im Märchen sein Glück gerade im schrittweisen Loslassen all seiner Besitztümer. Ist das Dummheit oder Glück? Versagen oder Gelassenheit? Nach Albert Camus haben wir uns sogar Sisyphos als glücklichen Menschen vorzustellen. Gerade die Schwere und Unlösbarkeit seiner Aufgabe anzunehmen, ist für ihn ein Zeichen seines freien Willens.

Einen eigenen Weg geht das asiatische Königreich Bhutan mit seinem viel zitierten Bruttonationalglück. Mit diesem Konzept sieht sich Bhutan in einer eigenen langen Tradition: »Bhutan belongs to a stream of civilization where the explicit purpose of the government is to create happiness among its citizens.«5 Schon in einem Kodex aus dem 18. Jahrhundert heißt es strikt: Wenn die Regierung kein Glück für ihr Volk schaffen kann, dann gibt es keinen Grund für die Existenz der Regierung.6 Dabei soll das Glück nicht per Verordnung vom Himmel fallen, sondern die Verantwortung der Regierung liegt darin, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es ihren Bürgern ermöglichen, ihr Glück zu verfolgen. Die Verantwortung liegt also auf beiden Seiten: bei den Bürgern selbst und der Regierung.

Auch die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung aus dem Jahr 1776 verankert in ihrer Präambel das Recht auf ein Streben nach dem Glück. »Leben, Freiheit und das Streben nach Glück­seligkeit« werden dort als unveräußerliche Rechte eines jeden Menschen genannt (»Life, Liberty and the pursuit of Happiness«). »Unveräußerlich« heißt dabei wie bei allen Menschenrechten, dass diese Rechte fest mit unserem Menschsein verbunden sind. Selbst wenn wir unser Recht auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück loswerden und verkaufen wollten, könnten wir das nicht – und keiner kann es uns nehmen. Auch die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung nimmt die Regierung in die Pflicht, für geeignete Rahmenbedingungen zu sorgen: Das Volk hat das Recht, eine Regierung abzusetzen, wenn diese ihrer Aufgabe nicht nachkommt. Das Volk darf sie durch eine Regierung ersetzen, die ihnen »zur Erhaltung ihrer Sicherheit und Glückseligkeit« geeigneter erscheint.

Bhutans Ansatz des Bruttonationalglücks geht einen Schritt weiter und versucht, dieses Ziel zu konkretisieren und messbar zu machen. Sowohl Wohlstand als auch Glück erscheinen in Bhutan als Ziel einer Gesellschaft. Das Glück wird nicht nur als eine Aufgabe und Herausforderung für den Einzelnen gesehen, sondern als Verantwortung und Herausforderung für die gesamte Gesellschaft und Regierungsordnung.

Interessant sind die vier Säulen, auf denen das Konzept ruht: Eine sozial-gerechte Entwicklung, Wahrung und Förderung kultureller Werte, Schutz der Umwelt und »Good Governance«, gute Regierungsführung. Das bedeutet, dass Entwicklung und Wachstum nicht Selbstzweck sind, sondern an eine Weiterentwicklung der Gesellschaft gekoppelt werden. Es ist ein ganzheitlicher Ansatz von Wachstum, in dem Wirtschaft nicht isoliert betrachten wird, sondern in gesamtgesellschaftliche Entwicklungen eingebettet ist. Der Versuch, ein Bruttonationalglück zu definieren, wirkt wie eine Antwort auf die Ergebnisse der Studie »Die Grenzen des Wachstums«, die der Club of Rome 1972 vorlegte. Auch darin wird die Entkoppelung von Wachstum und gesellschaftlichem und ökologischem Wohlergehen (»societal and environmental wellbeing«) kritisiert.

Müssen wir uns im digitalen Zeitalter die alte Frage nach dem Glück neu stellen? Was macht uns hier und heute glücklich? Wie können wir in einer digitalen Welt glücklich sein und uns zu Hause fühlen? Und was hat digitaler Wandel mit Glück zu tun?

Die Digitalisierung wird in der Regel als ein technisches Thema angesehen. Es geht um Automatisierung, die ständige Verdoppelung der Speicherkapazitäten, fahrerloses Fahren und Künstliche Intelligenz. Aber um die Effekte und Folgen der Digitalisierung zu verstehen, also den digitalen Wandel in seiner Tiefe zu erfassen, müssen wir den Blick nicht auf die Technik und die Maschinen richten. Im Gegenteil: Wir müssen uns den Menschen zuwenden. Den Menschen mit ihren Befindlichkeiten, ihren Bedürfnissen, Kümmernissen und Sehnsüchten. Denn es sind menschliche Sehnsüchte, die den digitalen Wandel antreiben. Es sind Menschen, die die Technik erfinden. Und es sollten auch Menschen sein, die sie sich sinnvoll zunutze machen.

 

Also schauen wir mutig auf das Gute, auch wenn das ungewohnt ist. Was ist es, was uns guttut? Was erfüllt uns mit Freude? Was sind die Quellen unserer Kraft?

Diese Fragen stellt sich auch ein Bereich der Medizin, der sich mit den menschlichen Kraftquellen und Ressourcen befasst. Die Salutogenese ist ein präventiver Ansatz. Ihr Ziel ist es, Krankheiten zu verhindern. Der Fokus liegt auf Prävention, nicht auf Heilung. Das bedeutet, ihre Zuständigkeit beginnt früher, noch vor dem Ausbrechen eventueller Krankheiten. Die Salutogenese lenkt den Blick auf die Faktoren, die uns stark und lebensfähig machen. Der israelisch-amerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky, der den Begriff »Salutogenese« prägte, benennt als den Hauptfaktor für ein gutes und gelingendes Leben das »Kohärenzgefühl«. Das meint das Gefühl, dass alles Sinn und Zusammenhang hat. Das Kohärenzgefühl speist sich aus drei Elementen: Erstens der Verstehbarkeit der Welt, zweitens dem Gefühl, selbst etwas bewirken zu können und Einfluss auf die Dinge des Lebens zu haben (Selbstwirksamkeit), und drittens dem Gefühl der Sinnhaftigkeit des Ganzen.

Davon können wir lernen. Und wir können es übertragen auf die gesellschaftliche Lage, einer Zeit starken Wandels – nicht nur des digitalen Wandels. Auch gesellschaftlich scheint es mir sinnvoll, den Blick auf die nährenden und stärkenden Faktoren unseres Zusammenlebens zu lenken, um das Aufreißen von Brüchen und Rissen in unserer Gesellschaft zu verhindern. Was ist der Kitt unserer Gesellschaft, was hält uns zusammen, was macht uns stabil genug, um Brüche und Reorganisationen gelingen zu lassen? Was gibt uns die Kraft, uns immer wieder neu zu erfinden, ohne uns selbst zu verlieren?

Bei Menschen spricht man von Resilienz – also von der Fähigkeit, mit Belastungen und Herausforderungen so umzugehen, dass wir uns als Handelnde in unserem eigenen Leben verstehen und auf die Wirksamkeit unseres Handelns in unserer Umwelt vertrauen können. Auch eine Gesellschaft kann resilient sein, wenn sie sich – statt nur Feuer zu löschen – aktiv um die schützenden und stärkenden Faktoren kümmert, Ressourcen aufbaut und nährt, bevor alles auseinanderdriftet.

Aus der Resilienzforschung gilt die Faustregel, dass ein Schutzfaktor zwei bis drei Risikofaktoren aufhebt. Das Fehlen von Schutzfaktoren wiegt also schwerer als das Vorhandensein von Risikofaktoren – die wir ohnehin selten ändern können. Auf die Gesellschaft übertragen bedeutet dies, dass wir mit dem Aufbau von Schutzfaktoren eine Gesellschaft stabilisieren können und ihr für Zeiten des Wandels den Rücken stärken.