Als der Fluss zu Staub zerfiel

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Als der Fluss zu Staub zerfiel
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Sabine Walther

Als der Fluss zu Staub zerfiel

Roman

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Inhalt

1. Warnung und Leugnung

2. Maschas Tod

3. Wer ist schuld?

4. Auserwählte wider Willen

5. Jenny

6. Faktor X und ein unerwarteter Ratschlag

7. Wie der Tod ins Leben kam

8. Giovanni

9. Beängstigende Begabung

10. Erster Verdacht

11. Im Sog des Zufalls

12. Turan

13. Im Kloster

14. Pater Benedikt und ein seltsames Ritual

15. Lamm Gottes

16. Satanische Pläne

17. Salettas Auftrag

18. Das Beben

19. Wieder daheim

20. Gesellschaft für Lebensoptimierung

21. Auf der Flucht

22. In der Psychiatrie

23. Ein Fluss zerfällt zu Staub

Impressum neobooks

Inhalt

1. Warnung und Leugnung

Mascha hatte heftig auf den Impfstoff reagiert, sich mehrmals erbrochen und wurde daher schon am Freitagvormittag nach Hause geschickt. Die Internatsleitung hatte ihre Mutter, Frau Dr. phil. Saletta Schönbrunn, telefonisch in Kenntnis gesetzt, alles sei normal verlaufen, die heftige Reaktion im Grunde nur ein Zeichen dafür, dass der Impfstoff wirke, also letztendlich positiv zu bewerten.

Saletta Schönbrunn unterdrückte ihren Impuls, die Schulleiterin am Telefon erneut auf ihre Einwände hinzuweisen; alle Eltern hatten sich gemeinsam für die Impfung entschieden, sie musste nicht gegen Wände rennen, wollte nicht, dass ihr Kind ausgegrenzt würde, dass die anderen ihm etwas hinterherriefen, dass es nicht mehr eingeladen wurde, weil die Eltern fürchteten, es sei vielleicht infiziert. Ihr Kind sollte die sinnlosen Kämpfe, die ihre eigenen Eltern ihr ständig aufgezwungen hatten, nicht durchstehen müssen. Es war nicht schuld am Übel der Welt und es sollte so normal wie möglich aufwachsen dürfen.

Der internatseigene Schulbus hielt direkt vor dem hellen freundlichen Einfamilienhaus und für Saletta war es befremdend, ihre Tochter als einzigen Fahrgast darin zu sehen. Noch bevor das Mädchen ausstieg, erkannte seine Mutter, dass es ihm wirklich schlecht gehen musste, denn es brauchte einige Momente, um Tasche, Jacke und Sportbeutel zu sortieren und lief dann zunächst zum hinteren Ausstieg, obwohl der Fahrer, der nervös auf seine Uhr blickte, die vordere Tür bereits geöffnet hatte. Es war völlig durcheinander, wirkte blass und erschöpft.

Besorgt nahm Saletta ihre Tochter in die Arme, rief dem Fahrer noch ein Dankeschön hinterher und führte ihre Tochter ins Haus. Nur nicht aufregen, dachte sie, ein Teller Hühnersuppe und ein wenig Ruhe werden es schon richten!

„Mama, weißt du, was ich mir unbedingt wünsche?“ Saletta schreckte hoch, sie war auf dem Schlafsofa neben Mascha für einen Moment eingenickt. Fühlte deren Stirn, während das Kind schon weiterplapperte. „Da gibt es so Karten, weißt du, die sammelt man und dann hat man eine höhere Stufe oder ein zweites Leben oder so und …“

Saletta hörte nur mit halbem Ohr zu, Maschas Wünsche waren so ungezählt wie unerschöpflich. Immer gab es etwas, das irgendein Kind hatte, sie aber nicht, und das zur dringenden Herzensangelegenheit erklärt wurde.

„Mama, ich sterbe, wenn ich diese Karten nicht bekomme, …“

Aber warum zitterst du denn nur, arme Saletta?

„Mascha! So etwas sagt man nicht. Spar dein Taschengeld, dann kannst du sie dir selbst kaufen!“

Manchmal hasste Saletta die Lebensart, in die ihre Tochter hineinwuchs, hasste vor allem diese Nachbildungen von religiösen oder spirituellen Weltbildern in Comicform, die Sinnentstellung von allem, was eine fragende Lebenshaltung ausmachte. Andererseits: Sollte sie ihr von klein auf alles verbieten, was ihr erstrebenswert schien? Sollte sie ihr – so wie ihre eigenen Eltern es getan hatten – den ständigen Schmerz bereiten, alles, was sich in ihrem kleinen Herzen an Wünschen ansammelte, als Schund abzutun?

Sie handelte gegen ihre Überzeugungen, aber wie heißt es so schön? Kinder sozialisieren einen. Oder gehen in den Gefechten der Erwachsenen unter. Und schließlich war sie noch nicht einmal gläubig. Sie war Wissenschaftlerin, unbestechlich und rational, der Logik des Faktischen verhaftet.

Mascha war der einzige Schwachpunkt in ihrem Leben. Nie konnte sie das Mädchen anschauen, ohne sentimental zu werden. Ihr helles Haar schien Licht abzugeben, ihre blauen, vom Vater geerbten Augen strahlten vorbehaltlos und ohne Argwohn in die Welt, sie war von Grund auf ein gutherziger Mensch, Abbild jenes Mannes, den Saletta nach wie vor von ganzem Herzen liebte. Von dem sie sich aus genau diesem Grund getrennt hatte, denn nichts empfand sie als schlimmer als das allmähliche Umschlagen ihrer Liebe in ein alltägliches Genörgel.

Ihre eigene Kindheit war von dem einzigen Wunsch erfüllt gewesen, normal sein zu können, sein zu dürfen wie alle anderen auch. Und dann traf sie endlich Sascha und erlebte dieses Wunder. Verliebt waren sie, taten, was alle taten, gingen auf die Kirmes, ins Restaurant, führten nächtelang Gespräche, liebten sich an allen möglichen und unmöglichen Orten. Heirateten. Dann wurde Mascha geboren. Saletta hatte zu ihrem eigenen Erstaunen das umwerfende Gefühl, eine Pflicht erfüllt zu haben, die ihr von der Natur auferlegt worden war. Sie hatte „Mutter Natur“ etwas zurückgegeben, etwas Wunderbares, das nur von ihr und Sascha stammte.

Sie schämte sich fast für dieses Empfinden, es entsprach ihr nicht und doch fühlte sie: Sie war endlich normal, nicht mehr die einsame Hochbegabte. Sie gehörte dazu, konnte sich mit anderen Müttern über die bessere Windelsorte oder die Zubereitung von Babybrei austauschen, konnte an Erziehungskursen teilnehmen, über schlaflose Nächte klagen, die sie nicht am Schreibtisch, sondern am Bett ihres kranken Kindes verbrachte. Sie durfte den Alltag einer glücklichen Familie leben.

Nach einem Jahr der Schwelgerei fiel ihr beim Aufräumen eines ihrer früheren Lieblingsbücher in die Hand. Auf dem Umschlag war das Gesicht der Autorin in schwarzgrüner Schattierung abgebildet. Früher hatte sie das Foto betrachtet und gemeint, sie würde in einen Spiegel schauen. Zwischen ihr und dieser Philosophin bestand eine frappierende Ähnlichkeit und sie war mit den innersten Gedanken dieser Frau vertraut. In jedem ihrer Artikel und in jeder ihrer Arbeiten tauchte zumindest ein Hinweis auf ihre Bücher auf, ihr Denken spiegelte sich in dem der anderen Frau. Jetzt schaute sie das Buch an und die Fremde blickte zurück, vielsagend, enttäuscht, ein klein wenig entsetzt über Salettas Unfähigkeit, über ihren Rückzug ins Private.

Doch Saletta beneidete die andere nicht um ihren Ruhm und um ihre Unabhängigkeit. Seit Mascha auf der Welt war, taten ihr alle Menschen leid, die keine Kinder hatten. Sie dachte an Ernst und Brigitte, Saschas Bruder und Schwägerin, die sich erst vor Kurzem ein Haus gekauft hatten. Mit großer Begeisterung hatten sie es beschrieben, „jeder seine Etage, sein Bad, sein Arbeitszimmer“. Sie sah die beiden in ihrem herrlichen Haus sitzen, jeder an seinem Schreibtisch, und sie fühlte, wie leer dieses Haus war. Wie still. Wie quälend einsam. Wie wenig „Wir“ es beherbergte.

Sie und Sascha hatten auch ein Haus kaufen wollen, daher hatte er begonnen, mehr und immer mehr zu arbeiten. Sie hielt ihm den Rücken frei, organisierte den Alltag, war für Mascha da. Damit begann die zweite Stufe der Normalität. Sie hatte Aufgaben, Pflichten, einen Alltag. Übernahm kleine Sekretariatsarbeiten für Sascha, der mit allem so belastet war. Massierte ihm den Nacken, wenn er müde und verspannt aus dem Büro zurückkam.

 

Ach ihr herrlichen Frauen, die ihr euch immer wieder neu verschenkt, als wüsstet ihr nicht!

Alles verlief normal. Auch sein Seitensprung. Und ihre Verwandlung. Aus einer Undine war eine dieser betrogenen Ehefrauen geworden, denen man Geld für schöne Kleider gibt. Sie liebte Sascha und verstand, warum er das getan hatte. Aber sie ging durchs Haus und dachte: Hier hat er mit ihr telefoniert. Hier hat er ihr eine SMS geschickt. Begann seine Sachen zu durchsuchen. Richtete ihr Leben danach aus, wann er wo zu tun hätte, was er von diesem oder jenen hielte.

Bis sie endlich begriff. Sie wollte nicht zugrunde gehen in einem Horror aus Misstrauen und Gewohnheit. Sie wollte den Menschen, der ihr im Leben am wichtigsten war, nicht foltern durch ein erzwungenes Zusammenleben. Sie wollte diesem dunklen Schlick aus Emotionen und Vorhaltungen entkommen. Sie bat Sascha um die Scheidung, er lehnte ab, war bestürzt, versprach, nie wieder einen solchen Fehltritt zu begehen. Verstand nicht, dass sie ihm längst verziehen hatte. Und eben darum gehen musste.

Nach der Scheidung hatte sie die Arbeit am Institut aufgenommen und Mascha war ins Internat gekommen. Am Wochenende lebte sie bei ihrer Mutter, in den Ferien bei ihrem Vater, wenn beide wichtige Termine hatten, sprach man sich ab. Alles war sachlich und ohne Streit geregelt worden. Trotzdem plagte Saletta das schlechte Gewissen – sie hatte ihrer Tochter ein normales Leben versagt. Hatte sie ausgeschlossen aus ihrem Alltag, niemals würde sie erfahren, wie es war, eine intakte Familie zu haben. Schon deshalb konnte sie ihr nur selten einen Wunsch abschlagen. Ja, sie sollte wenigstens an den Wochenenden so sorglos leben können wie andere Kinder.

„Mama, bitte“, nun liefen Mascha wirklich Tränen an den Wangen herab. Sofort wurde Saletta weich. Vielleicht würde eine kleine Belohnung sie ja stärken, und schließlich, was war schon dabei, ein paar Spielkarten – ihr Zimmer war vollgestopft mit allem möglichen Kram, den die Kinder heutzutage unbedingt brauchten. Was machten da ein paar Karten mehr oder weniger?

„Wo gibt es denn diese lebenswichtigen Karten?“, fragte sie spöttisch. Mascha spürte, dass sie ein weiteres Mal gewonnen hatte, und richtete sich strahlend im Bett auf. Ihre Erschöpfung schien augenblicklich von ihr gewichen, nur ihre Hände bewegten sich nervös auf der Bettdecke, als suchten sie etwas.

„Du bist die liebste Mami von der ganzen Welt!“, rief sie begeistert aus. Können wir sie kaufen, jetzt gleich?“

Nein.

Saletta hörte nicht hin, sah in Maschas strahlendes Gesicht und gab ein weiteres Mal nach. „Na gut, zieh dich an, ich telefoniere eben noch mit Papa und dann gehen wir los. Ich muss sowieso noch einkaufen, hab ja erst morgen mit dir gerechnet!“

Mit einem Freudenschrei warf Mascha die Decke beiseite und wäre beinahe vom Bett gefallen, hätte ihre Mutter sie nicht im letzten Moment abgestützt.

Ein böses Omen, vermeldete die Stimme.

"Halt dich raus", antwortete Saletta wütend.

"Verseuche mein Kind nicht mit deinem Gift!"

Wer hat hier wen vergiftet?

Ach was, entgegnete sie. Es war nur eine Impfung. Ein einfacher Vorgang, medizinisch sinnvoll. Verschone mich mit deinen Verschwörungstheorien!

Aber Saletta wusste: Es war sinnlos zu argumentieren, die Stimme gab niemals auf, hatte immer die besseren Argumente und auf alles eine Antwort. Soweit sie zurückdenken konnte, war sie immer bei ihr gewesen. Mischte sich in jeden Bereich ihres Lebens ein, stachelte sie an, gab ihr wohlmeinende nützliche Ratschläge oder bedachte sie mit spöttischen Kommentaren.

Nicht einmal Sascha hatte sie von ihr erzählt. Hatte zeit ihres Lebens Angst, dass man sie für verrückt halten würde. Niemand außer ihr konnte sie hören. Niemand außer ihr führte einen solchen Dialog mit einer Stimme im Kopf. Und das als Wissenschaftlerin – wie peinlich!

Sascha klang gereizt, als Saletta ihm am Telefon mitteilte, dass Mascha einen Tag früher heimgekommen war und er sich daher am nächsten Tag um sie kümmern müsse – sie hatte ihre Termine bereits verschoben.

„Ich habe morgen ein wichtiges Meeting, da kann ich nicht einfach absagen, weil ich auf mein Kind aufpassen muss. Die lachen mich doch aus!“ „Und ich? Ist meine Arbeit wieder weniger wichtig als deine?“

Augenblicklich befanden sie sich im selben Streitgespräch, das sich seit ihrer Trennung trotz aller Vernunft und guter Absichten ewig wiederholte. Nach einer Viertelstunde heftiger Diskussionen gab Saletta entnervt auf. „Gut, dann rufe ich eben den Babysitter an!“ Wütend knallte sie das Mobilteil auf die Ladestation.

„Mascha!“ Salettas schlechte Laune steigerte sich noch, da ihre Tochter nicht antwortete. Doch dann drang durch die Wut ein anderes Gefühl hindurch, jenes, das alle Mütter kennen, deren Kinder sich auffällig still verhalten. Rasch lief sie die Treppe zum Kinderzimmer hinauf. Mascha saß auf ihrem Schreibtischstuhl und blickte mit glasigen Augen in die Luft, wobei sie sich mit einem unsichtbaren Wesen unterhielt.

„Ja, mir gefällt sie auch gut“, sagte sie gerade, als ihre Mutter das Zimmer betrat.

Das Wesen antwortete wohl etwas und Mascha schaute in Salettas Richtung. Es war, als brauchte sie eine Zeit, um von irgendwoher zurückzukehren, als müsse sie sich erst erinnern, wer die Frau war. Dann aber lief sie zu ihr, umarmte sie und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.

„Danke, Mama, sie ist wirklich schön!“

Saletta war verwirrt, wusste nicht, wovon sie sprach.

„Was ist schön, Mascha?“

„Die neue Tapete. Wie hast du das gemacht, Mama, dass sie so schön funkelt und glitzert?“

Saletta blickte sich um. Sie hatte nichts verändert, an den Wänden befand sich noch immer die pinkfarbene Designertapete, die Mascha zusammen mit ihrem Vater ausgesucht hatte. Mit den Datumsangaben neben den kleinen Zeichnungen, die Mascha darauf gekritzelt hatte, um sie zu verschönern. Das Kind folgte ihrem Blick.

„Welches Bild gefällt dir am besten?“, fragte sie.

„Ich weiß nicht, sie sind alle schön.“

„Das Auto“, nahm sie ihrer Mutter die Entscheidung ab. „Das funkelt jetzt so hübsch.“

Saletta fühlte mit der Hand die Stirn ihrer Tochter, prüfte ihre Wangen, Fieber hatte sie nicht. Dennoch hielt sie es für besser, jetzt nicht nach draußen zu gehen.

„Weißt du was, Mascha, wir kaufen die Karten morgen. Oder du gehst mit Anja zusammen, sie kommt morgen, um auf dich aufzupassen.“

„Ich will aber mit dir gehen, Mama!“

Gib nicht nach, dieses eine Mal nicht!

Mascha drehte sich um und begann ihren Pulli zu suchen. Dann versuchte sie ungelenk, ihn sich über den Kopf zu ziehen, verhedderte sich aber darin. „Ich bin ein Gespenst, huhu“, rief sie. Mutter und Tochter lachten. Ein letztes Mal gemeinsam.

Kaum war Mascha fertig, stürzte sie zur Treppe. „Wer zuletzt unten ist, ist ein faules Ei!“, rief sie und rannte die Treppe hinab. Als Saletta endlich unten ankam, hatte das Mädchen schon die rosa Gummistiefel an und zog die Mutter, die schnell in ihre Sommersandalen rutschte und eine Jacke vom Haken nahm, ungeduldig aus dem Haus.

2. Maschas Tod

Seit dem Unfall vor drei Jahren, bei dem der Sohn der Rosenbergs von einem Lkw erfasst worden war, ließ Saletta die Hand ihrer Tochter niemals los, wenn sie an der viel befahrenen Hauptstraße entlanggehen mussten. Sie wusste zwar, dass sie ihrer Tochter vertrauen konnte, dass sie niemals bei Rot über die Straße rennen würde, wie es die Jungen aus der Nachbarschaft taten, um ihren Mut zu beweisen, aber sicher war sicher.

Die Ampelschaltung war noch stets zugunsten der Autofahrer eingestellt und so spielten sie geduldig ihr „Gib-uns-Grün-Spiel“, bei dem es darauf ankam, den Satz im richtigen Moment auszusprechen, sodass direkt darauf das kleine grüne Männchen erschien. Doch ihr Smartphone spielte nicht mit, klingelte und sie angelte es aus der Jackentasche. Ließ Mascha kurz los, um nach dem Handy zu greifen. Eine halbe Sekunde. Vielleicht verstand das Kind dies als Zeichen, dass das grüne Männchen endlich erschienen war. Aber da war keines. Mascha rannte los.

Auch die Fahrerin des schwarzen Audi spielte nicht mit. Fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit auf die Ampel zu. „Rot“, rief Saletta, „Mascha, rot! “

Mascha stockte kurz, aber statt umzukehren, griff sie sich mit der Hand an die Kehle. Sie schien keine Luft zu bekommen und fiel augenblicklich zu Boden. Der Wagen überrollte sie und die schweren Reifen hinterließen Abdrücke auf ihrem kleinen Körper. Die Fahrerin hielt kurz an, fuhr dann aber mit aufheulendem Motor weiter. Saletta begriff nicht gleich. Wer war dieses Kind, das dort lag? Wo war Mascha?

Mit einem Schrei löste sich ihre Erstarrung und sie rannte zu ihr. Der Verkehr kam zum Erliegen, jemand stellte ein Warndreieck auf. Saletta wünschte, die ganze Welt stünde still und spürte doch unaufhörlich ihren eigenen Rhythmus ins Leben hämmern. Da lag sie ja, die Augen weit aufgerissen, starr. Kein Atem, kein Puls, kein Herzschlag. Aus.

Ein Schmerz einte Mutter und Tochter, verzögert um wenige Augenblicke; das ist komisch, hörte Saletta sich wie von fern her denken, es tut weh, als würde mir jemand mit dem Baseballschläger den Schädel zertrümmern. Vorsichtig nahm sie ihr Kind hoch. „Mascha.“ Kein zärtliches Flüstern würde sie zurückholen.

Plötzlich von unbändiger Wut entflammt, spürte sie unmenschliche Kräfte, Kräfte, die sie im Leben nicht für möglich gehalten hätte, die reine Kraft des ungefilterten Hasses. Sie musste diesen Menschen finden, der ihr und ihrem Kind das angetan hatte, sie musste ihn zerstören, sie musste diese Kraft nutzen, bevor sie verschwand.

Mit Mascha im Arm rannte sie los, langsam, vorsichtig, damit sie ihr nicht entglitt, dann schneller, immer schneller, immer zorniger. Sie wusste, sie hatte niemals im Leben etwas Sinnloseres getan, aber sie kannte keinen Sinn mehr und keinen Verstand, sie rannte dem Audi hinterher, es war ein schwarzer Audi, sie durfte das nicht vergessen, aber sie hatte sich das Nummernschild nicht gemerkt, wie dumm sie war, wie achtlos, sie musste ihn finden, vielleicht würde dann alles wieder gut, sie hatte die Kraft, vielleicht könnte sie dem Fahrer ihr Kind entgegenhalten, schau her, und er würde erkennen, was er getan hatte und irgendein Gott würde sie heilen, würde ein einziges Mal Erbarmen haben mit ihr und mit uns und alles würde ungeschehen.

Sie würde noch einmal mit Mascha an der Kreuzung stehen. Ihr Handy würde nicht klingeln. Mascha würde weiter froh vor sich hinplappern. So behauptet es doch die Physik, das muss doch möglich sein, dass wir die Zeit überlisten, die uns all die schrecklichen Ereignisse nur vorgaukelt, die uns eine bessere Wirklichkeit verweigert.

Doch noch war es nicht so weit. Blind vor Tränen rannte und stolperte sie durch den Abendregen, ihr totes Kind im Arm, bis ein Polizeiwagen sie stoppte. Sie nahmen ihr Mascha weg und fragten nach ihrem Namen. Sie wusste ihn nicht. Eine Polizistin wollte sich als mitfühlend erweisen. „Niemanden trifft die Schuld“, sagte sie.

Wirklich nicht?

„Doch“, sagte Saletta. „Jemand muss schuld sein. Und ich werde alles tun, um es zu beweisen.“

3. Wer ist schuld?

„Rot“, keuchte Saletta, „Mascha, rot!“

Alles um sie herum verfärbte sich, sie schwamm in einem Meer aus Blut, griff sich an den Hals, betete, ertrinken zu dürfen. Dann wieder die harte Straße, die hörte den Aufprall, fühlte ihn. Mascha lag auf dem Boden mit verrenkten Gliedern, öffnete die Augen, lachte, flog davon. „Wer hat hier wen vergiftet?“, fragte sie, als Saletta nach ihr griff.

Die stöhnte laut auf und erwachte.

Sie musste nicht auf die Uhr sehen, um zu wissen, dass sie 02:20 h anzeigte. Seit Wochen erwachte sie jede Nacht um dieselbe Zeit von diesem immer gleichen Traum. Um ihm zu entfliehen, krabbelte sie aus dem Bett, stieß dabei ein Rotweinglas um, torkelte gleichgültig weiter, der Boden war ohnehin schon voller Flecken. Ging nach nebenan in ihr Arbeitszimmer, der Computer flackerte kurz auf, der Monitor, eben noch schwarz, sprang an, gab den Blick auf den Bildschirmhintergrund frei. Mascha und sie am Werdersee, Enten füttern.

 

Alles musste einmal harmlos und leicht gewesen sein. Saletta spürte die Lust aufzugeben, zu weinen, bis sie sich restlos aufgelöst hätte. Aber sie war Wissenschaftlerin, ein Verstandesmensch, eine Kämpferin, ein Produkt der Vernunft und sie hatte einen Beweis zu erbringen. Diszipliniert setzte sie sich an den Schreibtisch und studierte die Notizen, an denen sie seit Maschas Beerdigung Nacht für Nacht gearbeitet hatte.

2 Mio. Amerikaner jährlich Opfer der Nebenwirkungen von Medikamenten, 100.000 sterben. Deutschland: Seit 2001 Meldeverpflichtung bei Verdacht einer übermäßigen Impfreaktion und dadurch bedingte gesundheitliche Schädigungen. In 3 Jahren 3328 Fälle angezeigt. 4% bleibende Schäden, 1,6 % verstarben. Otto-Lugenreich-Institut bewertete Zusammenhang zur Impfung in der Mehrzahl der Fälle als unwahrscheinlich. Dunkelziffer – nicht gemeldete Fälle – unbekannt. Rate der Meldungen hängt von Motivation und Fähigkeit der Ärzte ab.

Während sie das Web nach relevanten Fakten abgraste, sich Zahlenkolonnen in ihrem Hirn zu Argumenten zusammenschoben, machte sie sich nebenher Notizen über die nächsten notwendigen Schritte.

1 Gedenkseite erstellen, dokumentieren, vielleicht melden sich auch andere, denen Ähnliches passiert ist.

2 Reporter anrufen, Richtigstellung verlangen.

3 Arzt zur Meldung bewegen – vorher zuständigen Arzt bei Schulleitung erfragen.

7 Menschen in 3 Wochen nach Impfung mit Poritz verstorben. Ein Zusammenhang kann nicht hergestellt werden.

Anscheinend starben ebenso viele Menschen nach der Impfung wie durch die neue Grippe selbst. Aber ein Zusammenhang existierte nicht.

Eine 17-jährige Schülerin, die mit Poritz geimpft worden war, erleidet einen Zusammenbruch in der Schule und stirbt im Krankenhaus. Ursache waren Vorerkrankungen, kein Zusammenhang nachweisbar.

Salettas Hirn arbeitete im Akkord. Dass es zeitliche Zusammenhänge zwischen der Impfung und den Nebenwirkungen bis hin zu Todesfällen gab, war deutlich und niemand leugnete das. Aber es ließ sich keine lückenlose Kausalität herstellen. Damit einer der Geimpften einen schweren Schaden erlitt oder gar am Impfstoff verstarb, musste immer noch ein weiterer Faktor hinzukommen. Eine Vorerkrankung, eine allergische Reaktion, irgendein dritter Faktor, der dafür sorgte, dass die Impfung das Gegenteil von dem bewirkte, was sie leisten sollte.

Interessanterweise ließ sich dieser Gedanke aber auch umdrehen. Es gab bei denjenigen, die sich an dem neuen Grippetypus infiziert hatten und gestorben waren, keinen hundertprozentigen Nachweis, dass das Virus allein schuld war. Auch hier waren stets weitere Umstände hinzuzuziehen.

Auch Mascha war ja nicht unmittelbar an den Folgen des Impfwirkstoffes gestorben. Sie war nur so müde und unkonzentriert, dass sie falsch reagiert hatte und auf die Straße gerannt war.

Europäische Datenbank meldet erste Narkolepsiefälle infolge der Impfung. Allerdings sei nicht der Impfstoff allein wirkursächlich. Erschwerend müsse eine Entzündung oder Infektion hinzukommen.

Saletta hielt inne, markierte den Begriff Narkolepsie mit drei Ausrufezeichen. Natürlich wusste sie, dass letztlich alles ihre Schuld gewesen war. So hatte es ihr ja auch der Polizeisprecher klargemacht, als sie ihn immer wieder darauf hinwies, dass ihr Kind keinesfalls auf die Straße gelaufen sei, wie es Kinder leider häufig tun. Dass es einen Grund dafür gegeben haben musste und dass dieser Grund ihrer Ansicht nach darin bestand, dass Mascha durch die Impfung verwirrt gewesen war und schließlich einen Anfall erlitten hatte.

Warum sie ihre Tochter dann überhaupt aus dem Haus gelassen hätte, schnauzte er sie an. Und außerdem sei das ohnehin alles Quatsch mit dieser Impf-Panik. Und falls sie psychologische Betreuung bräuchte, dafür sei er nicht zuständig.

Seine Worte hatten Saletta, die sich längst in die kühlen Regionen des Denkens verkrochen hatte, nicht mehr erreichen können. Ruhig und kalt wie ein Auftragsmörder, der demütig die für seinen Job nun mal erforderlichen Vorbereitungen trifft, hatte sie ihm zugehört. Wusste, allein ihr Verstand konnte sie noch retten, konnte sie wieder einmal retten, es durfte nur nicht der Hauch einer Emotion zu ihm durchdringen. So hatte sie dem Polizeisprecher für die hilfreichen Informationen und den gut gemeinten Rat gedankt und war gegangen.

Am Nachmittag hatte sie einen Termin mit dem Reporter der Bremer Wochennachrichten auf ihrer Liste, der über Maschas Tod wie über einen gewöhnlichen Verkehrsunfall berichtet hatte.

Unfall in Bremen: Kind läuft vor Auto

Am Freitag, dem 18. September 2009, gegen 18:05, fuhr eine unbekannte Fahrerin auf der Neuenlander Straße stadtauswärts. Eine 8-jährige Schülerin befand sich mit ihrer Mutter an der Ampel in Höhe des Einkaufszentrums. Plötzlich löste sich die 8-Jährige von der Hand ihrer Mutter und rannte auf die Fahrbahn, ohne auf den Fahrzeugverkehr zu achten. Sie wurde von dem PKW erfasst; die Fahrerin beging anschließend Fahrerflucht. Die Schülerin erlag noch am Unfallort ihren Verletzungen.

Zeugen beschrieben die Fahrerin des schwarzen Audi, nach der noch gefahndet wird, als dreißig bis vierzig Jahre alt und rothaarig. Der Polizeisprecher sagte: „Das Mädchen ist – wie es Kinder leider häufig tun – achtlos auf die Straße gelaufen, daher trifft die Fahrerin am eigentlichen Unfall keine Schuld. Dennoch hätte sie anschließend anhalten müssen, daher ist mit einer Strafe zu rechnen.“

Saletta ärgerte sich über die achtlose Formulierung. Aber der Reporter konnte ja nicht wissen, was wirklich geschehen war. Sie musste ihm die Fakten liefern, Fakten, die beweisen würden, dass Mascha nicht einfach auf die Straße gerannt war, sondern an den Folgen der Impfung gelitten hatte.

Nebenwirkungen: Schlaflosigkeit, Benommenheit, Schwindel, Fieber, Desorientierung, Halluzinationen.

Sie hatte ihn mit ihren Recherchen konfrontiert. Aber er hatte nur abgewinkt. Kein Thema für unsere Leser, meinte er. Alles viel zu vage. Zu viele Verschwörungstheorien. Er könne ihr aber Seiten von Impfgegnern nennen, die gern darüber berichten würden … Saletta hatte dankend abgelehnt. Weder verstand sie sich als Impfgegnerin noch folgte sie irgendwelchen Verschwörungstheorien. Sie wollte einfach verstehen, was geschehen war. Sie musste wissen, wer schuld war.

Aus dem Augenwinkel erblickte sie ihre Kleine, wie sie fiebernd nach Hause gekommen war. Wie durcheinander sie gewesen war. Lauschte noch einmal ihrer Freude, als sie die vermeintlich neue Tapete bewunderte: Wie hast du das gemacht, Mama.

Der Polizeisprecher hatte recht: Sie hätte sie nicht mitnehmen dürfen. Sie hätte ein einziges Mal auf ihre innere Stimme hören müssen. Gib nicht nach, dieses eine Mal nicht!

Alle Zeichen hatten auf Sturm gestanden und sie gewarnt, aber sie hatte sie nicht wahrhaben wollen, wollte ihrem Verstand gehorchen, wollte ihr Kind schützen, indem sie sich der Norm beugte, ihre Intuition missachtete. Sie hatte ihr Kind ihrem unbedingten Willen nach einer logisch geordneten Welt geopfert.

Das Gesicht verschwand aus ihrem Blickfeld, die Stimme verstummte und es wurde Zeit zu bemerken, dass sie noch einer weiteren Täuschung erlegen war. Sie hatte gedacht, sie könne bereits alle Gefühlsregungen von sich fernhalten. Sie hatte erwartet, eiserne Disziplin würde ihr helfen, nie wieder etwas zu empfinden. Sie hatte gemeint, sie käme schon allein zurecht. Aber der Schmerz, der sie in diesem Moment ergriff, war so undefinierbar und dumpf, dass sie ihn nicht wegerklären, dass sie ihn nur noch durch einen Gegenangriff bekämpfen konnte.

Rasch nahm sie die Schere vom Tisch und ritzte sich damit so lange in die Haut ihres Unterarms, bis der körperliche Schmerz den seelischen übertraf und sie schließlich gezwungen war, die Wunden zu verbinden. So wie damals, als zum ersten Mal ein schwarzer Audi ihre Lebenslinie gekreuzt hatte.

Erinnere dich endlich, Saletta!